Bundessozialgericht, Beschluss vom 11.09.2020, Az. B 8 SO 22/19 B

8. Senat | REWIS RS 2020, 2442

© Bundessozialgericht, Dirk Felmeden

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - partielle Prozessunfähigkeit eines Beteiligten - Nichtbeachtung einer rechtlichen Betreuung - absoluter Revisionsgrund - Bestellung eines besonderen Vertreters nach Aufhebung der Betreuung - Absehen von der Bestellung im Ausnahmefall


Tenor

Auf die Beschwerde des [X.] wird das Urteil des [X.] vom 21. Januar 2019 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Im Streit sind Leistungen nach dem [X.] - ([X.]).

2

Der 1942 geborene Kläger, für den bis Jan[X.]r 2020 verschiedene Berufsbetreuer bestellt waren (Aufgabenkreise: Aufenthaltsbestimmung im Krankheitsfall, Behördenangelegenheiten, Gesundheitsfürsorge, Vermögenssorge, Wohnungsangelegenheiten), beantragte im April 2017 (formlos) beim beklagten örtlichen Sozialhilfeträger Leistungen nach dem [X.]. Die Gewährung von Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (Grundsicherungsleistungen) lehnte die Beklagte ab, weil der [X.] des [X.] über ein Einkommen von mehr als 100 000 Euro jährlich verfüge und also ein Anspruch nicht bestehe (§ 43 Abs 5 Satz 6 [X.]). Es stehe dem Kläger frei, einen Antrag auf Leistungen nach dem Dritten Kapitel zu stellen (Bescheid vom [X.]; Widerspruchsbescheid vom 20.9.2017). Die Klage hiergegen hat keinen Erfolg gehabt (Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Detmold vom 28.5.2018; Urteil des Landessozialgerichts <[X.]> Nordrhein-Westfalen vom 21.1.2019).

3

Mit der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision macht der Kläger geltend, das [X.] habe nicht beachtet, dass er geschäftsunfähig und damit prozessunfähig sei. Das [X.] habe den vom Amtsgericht (AG) P. bestellt gewesenen (damaligen) Betreuer lediglich angefragt, ob er ihn, den Kläger, vertrete. Nachdem der Betreuer dies im Oktober 2018 verneint habe, habe das [X.] den Betreuer in der Folge nicht mehr beteiligt und ihn, den Kläger, als prozessfähig angesehen, weil ein Einwilligungsvorbehalt des Betreuers nicht angeordnet gewesen sei und die bloße Bestellung des Betreuers die Prozessfähigkeit nicht entfallen lasse. Es ergebe sich aber aus dem vom Senat beigezogenen Gutachten der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie, Psychotherapie, Geriatrie und Sozialmedizin Dr. med. [X.] (vom [X.]) und deren ergänzender Stellungnahme (vom [X.]), dass er prozessunfähig sei.

4

II. [X.] ist zulässig. Sie genügt hinsichtlich des geltend gemachten Verfahrensfehlers den Bezeichnungserfordernissen des § 160a Abs 2 Satz 3 iVm § 160 Abs 2 [X.] Sozialgerichtsgesetz ([X.]). [X.] ist auch begründet. Die angefochtene Entscheidung beruht auf einem [X.], weil das [X.] zu Unrecht von einer Prozessfähigkeit des [X.] ausgegangen ist und er deshalb nicht wirksam vertreten war (§ 202 [X.] iVm § 547 [X.] Zivilprozessordnung ); hierin liegt ein absoluter Revisionsgrund, bei dem unterstellt wird, dass das Urteil des [X.] auf ihm beruht. Der Senat macht deshalb von seiner Möglichkeit Gebrauch, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückzuverweisen (vgl § 160a Abs 5 [X.]).

5

Die [X.]keit des [X.] stellt kein Verfahrenshindernis für die vorliegende Beschwerde dar. Ein Rechtsmittel, mit dem sich ein Beteiligter auf seine [X.]keit beruft, ist zunächst ohne Rücksicht auf eine möglicherweise bestehende [X.]keit zulässig; entsprechend ist auch die zur Einlegung des Rechtsmittels erteilte [X.] wirksam. Die Prozessfähigkeit ist grundsätzlich solange zu unterstellen, bis darüber rechtskräftig entschieden ist (vgl nur [X.] vom 3.7.2003 - B 7 [X.] 216/02 B - [X.], 146 = [X.]-1500 § 72 [X.], Rd[X.] 6). Der Senat musste dem Kläger für das Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde nach Aufhebung der Betreuung im Jan[X.]r 2020 auch keinen besonderen Vertreter (vgl § 72 [X.]) bestellen ("kann"), nachdem er zur Überzeugung gelangt ist, dass eine (partielle) [X.]keit vorliegt (dazu sogleich). Im vorliegenden Verfahren war dem Anliegen, dass der [X.]e im Verfahren durch einen Prozessfähigen handeln kann, jedenfalls dadurch Rechnung getragen, dass er durch seinen Prozessbevollmächtigten vertreten und der Rechtsstreit wegen eines von ihm gerügten [X.] ohnehin an das Berufungsgericht zurückzuverweisen war (vgl zuletzt BSG vom 20.4.2016 - [X.] [X.] 57/14 B - juris Rd[X.] 6 mwN).

6

Der Kläger ist und war im gesamten Verfahren prozessunfähig. Ihm ist eine sachgerechte Prozessführung nicht möglich. [X.] ist eine Person, die sich nicht durch Verträge verpflichten kann (vgl § 71 Abs 1 [X.]), also [X.] eine solche, die nicht geschäftsfähig iS des § 104 Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) ist, weil sie sich in einem nicht nur vorübergehenden, die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet (vgl § 104 [X.]) und deshalb nicht in der Lage ist, ihre Entscheidungen von vernünftigen Erwägungen abhängig zu machen (vgl dazu etwa Lange in [X.], 8. Aufl 2017, § 104 Rd[X.]2 ff mwN). Dabei können bestimmte Krankheitsbilder auch zu einer sog partiellen (Geschäfts- und) [X.]keit führen, die sich auf einen gegenständlich begrenzten Lebensbereich beschränkt (stRspr seit [X.] <[X.]> vom [X.] - [X.]Z 18, 184, 186 f; [X.] vom 13.5.1959 - [X.]/58 - [X.]Z 30, 112, 117 f). Soweit eine solche partielle [X.]keit anzunehmen ist, erstreckt sie sich auf den gesamten Prozess (vgl nur BSG vom 15.11.2000 - B 13 RJ 53/00 B - [X.] 3-1500 § 160a [X.]2 S 65). Eine [X.]keit zumindest bezogen auf die Führung von Verwaltungs- und Gerichtsverfahren liegt und lag nach dem Ergebnis der Ermittlungen zur Überzeugung des Senats vor.

7

Nach den Feststellungen der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie, Psychotherapie, Geriatrie und Sozialmedizin Dr. med. [X.] in dem vom [X.] in Auftrag gegebenen Sachverständigengutachten (vom [X.]) im [X.] an eine Untersuchung des [X.] am 26.3.2019 besteht bei ihm [X.] auf psychiatrischem Fachgebiet eine chronifizierte wahnhafte Störung auf dem Boden einer querulatorischen Persönlichkeitsstörung bei allenfalls leichten kognitiven Defiziten. Zur Begründung ihrer Diagnosestellung hat sie ausgeführt, dass pathologische Denkinhalte im Sinne eines Vergiftungs- und Beziehungswahns bestünden. Der Kläger glaube, dass man ihm von Staats wegen aber auch durch einzelne Personen nach dem Leben trachte und ihn systematisch vergiften wolle. Sein gesamtes Denken kreist nach den Feststellungen der Sachverständigen um dieses wahnhafte Erleben. Es müsse davon ausgegangen werden, dass er seine Entscheidungen nicht in freier Willensbestimmung fälle, sondern sein Handeln von wahnhaften Gründen bestimmt werde und er sich (vor allem gesundheitlich) dadurch fortgesetzt selbst schädige. In einer vom Senat angeforderten ergänzenden Stellungnahme nach Aktenlage (vom [X.]) hat sie ausgeführt, die wahnhafte Störung bestehe mindestens seit 2009. Auch wenn er noch über eine gewisse, wenngleich eingeschränkte Kompetenz in [X.] verfüge, beträfen die [X.] sein gesamtes Erleben und Denken. Er sei krankheitsbedingt nicht in der Lage, seine Angelegenheiten sachgerecht vor Gericht zu vertreten. Eine medikamentöse Einstellung, die im Grundsatz zu einer Besserung der Symptomatik führen könne, lehne er ab.

8

Dem Schluss der Sachverständigen, dass aufgrund der vorliegenden Erkrankung beim Kläger eine Einschränkung der freien Willensbildung und somit der prozess[X.]len Geschäftsfähigkeit vorliegt, folgt der Senat nach eigener Prüfung uneingeschränkt. Die Kernaussagen des Gutachtens werden insbesondere durch das Verhalten des [X.] gegenüber dem Gericht vollumfänglich nachvollziehbar; es wird sowohl das von der Sachverständigen beschriebene Krankheitsbild erkennbar als auch seine Auswirkungen auf die Willensbildung. Der Kläger hat zwar einzelne Rückfragen des Gerichts (etwa wegen der Auswahl des beizuordnenden Anwalts oder des Einverständnisses mit der Beiziehung von Akten) sachgerecht beantwortet. Im Übrigen hat er aber während des gesamten Verwaltungs- und Gerichtsverfahrens eine Vielzahl von Schreiben übersandt, deren Inhalt von den von der Sachverständigen beschriebenen Wahnideen geprägt sind und die mit dem eigentlichen Klageziel - dem Erhalt von Sozialleistungen - in keinerlei nachvollziehbarem Zusammenhang stehen. Dieses Verhalten widerspricht einer vernünftigen Prozessführung und macht die von der Sachverständigen beschriebene Überlagerung seiner Willensbestimmung von [X.]n nachvollziehbar.

9

Für den danach prozessunfähigen Kläger waren zwar während des Berufungsverfahrens vom [X.] wechselnde Betreuer bestellt worden, von deren Aufgabenkreis die vorliegende Angelegenheit jeweils erfasst war. Das [X.] hat diese gesetzliche Vertretung (vgl §§ 1896, 1902 BGB) indes [X.] bei der Mitteilung über die Terminsbestimmung (vgl § 110 Abs 1 Satz 1 [X.]) nicht beachtet. Der Kläger war damit bei Durchführung der mündlichen Verhandlung und im Zeitpunkt der Entscheidung des [X.] nicht nach Vorschriften der Gesetze vertreten (vgl § 202 [X.] iVm § 547 [X.] ZPO). Nach Aufhebung der Betreuung wird das [X.] für das weitere Verfahren einen besonderen Vertreter bestellen müssen (vgl § 72 [X.]). Steht die [X.]keit für den Prozess fest, muss dieser grundsätzlich mit einem besonderen Vertreter fortgeführt werden, wenn eine sonstige gesetzliche Vertretung nicht gewährleistet und ein Betreuer nicht bestellt ist (vgl BSG vom 15.11.2012 - [X.] [X.] 23/11 R - [X.]-1500 § 72 [X.] 2 Rd[X.] 9; BSG vom 28.8.2018 - [X.] [X.] 13/18 B - juris Rd[X.] 6). Hiervon kann zwar ausnahmsweise abgesehen werden, wenn unter Anlegung eines strengen Maßstabs das Rechtsmittel eines [X.]en "offensichtlich haltlos" ist (vgl nur BSG vom 28.5.1957 - 3 RJ 98/54 - [X.], 176 = [X.] 1958, 284). Ein solcher Fall liegt hier aber nicht vor. Insbesondere die Auffassung des [X.], von dem vorliegenden Verwaltungs- und Gerichtsverfahren sei das Begehren des [X.], Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Dritten Kapitel des [X.] zu erhalten (ggf verbunden mit der Überleitung von Unterhaltsansprüchen gegen den [X.]), nicht erfasst, dürfte unzutreffend sein. Einen auf Grundsicherungsleistungen beschränkten Antrag hat der Kläger nicht gestellt. Besteht ein solcher Anspruch nicht, wird nach dem [X.] ggf zu prüfen sein, ob der Kläger einen Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt hat, weil diese Leistungen nachrangig gegenüber den Grundsicherungsleistungen zu erbringen wären (vgl nur BSG vom 25.4.2013 - [X.] [X.] 21/11 R - [X.]-3500 § 43 [X.] Rd[X.] 25).

Das [X.] wird ggf über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.

Meta

B 8 SO 22/19 B

11.09.2020

Bundessozialgericht 8. Senat

Beschluss

Sachgebiet: SO

vorgehend SG Detmold, 28. Mai 2018, Az: S 11 SO 289/17, Gerichtsbescheid

§ 160a Abs 1 S 1 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 71 Abs 1 SGG, § 104 Nr 2 BGB, § 1896 Abs 1 S 1 BGB, § 1902 BGB, § 110 Abs 1 S 1 SGG, § 72 Abs 1 SGG, § 202 S 1 SGG, § 547 Nr 4 ZPO

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 11.09.2020, Az. B 8 SO 22/19 B (REWIS RS 2020, 2442)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2020, 2442

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

B 8 SO 92/16 B (Bundessozialgericht)

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - (mindestens) partielle Prozessunfähigkeit eines Beteiligten - keine ordnungsgemäße …


B 8 SO 5/19 B (Bundessozialgericht)

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Prozessunfähigkeit eines Beteiligten - Absehen von der Bestellung …


B 8 SO 7/16 B (Bundessozialgericht)

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - partielle Prozessunfähigkeit eines Beteiligten - Absehen von der …


B 8 SO 63/16 B (Bundessozialgericht)

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - (mindestens) partielle Prozessunfähigkeit eines Beteiligten - keine ordnungsgemäße …


B 1 KR 73/18 B (Bundessozialgericht)

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Bestellung eines besonderen Vertreters für einen nicht prozessfähigen …


Referenzen
Wird zitiert von

Keine Referenz gefunden.

Zitiert

Keine Referenz gefunden.

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.