Bundessozialgericht, Beschluss vom 21.09.2016, Az. B 8 SO 7/16 B

8. Senat | REWIS RS 2016, 5196

© Bundessozialgericht, Dirk Felmeden

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - partielle Prozessunfähigkeit eines Beteiligten - Absehen von der Bestellung eines besonderen Vertreters - keine offensichtliche Haltlosigkeit des Klagebegehrens - absoluter Revisionsgrund


Tenor

Auf die Beschwerde des [X.] wird das Urteil des [X.] vom 26. November 2015 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Der 1961 geborene Kläger, der nicht unter Betreuung steht, erhält Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem [X.] - ([X.]). In dem vor dem Sozialgericht ([X.]) [X.] geführten Klageverfahren machte der Kläger im Termin zur mündlichen Verhandlung durch seine auch zur besonderen Vertreterin bestellte Bevollmächtigte insgesamt 60 Anträge geltend, die er in dem seit dem [X.] geführten Verfahren formuliert hatte. Das [X.] hat die Klage unter inhaltlicher Bescheidung der Anträge im Einzelnen abgewiesen (Urteil vom 3.7.2015). Im Berufungsverfahren hat das [X.] (L[X.]) [X.] die Bestellung der besonderen Vertreterin "wegen offensichtlicher Unzulässigkeit bzw Unbegründetheit der Klage" aufgehoben (Beschluss vom 20.11.2015) und die Berufung wegen [X.]keit des [X.] als unzulässig verworfen (Urteil vom 26.11.2015).

2

Mit der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision rügt der Kläger als Verfahrensmangel, das L[X.] habe zu Unrecht ein Prozessurteil erlassen; er sei prozessfähig. Die vom L[X.] zur Begründung seiner gegenteiligen Auffassung herangezogenen Gutachten seien nicht zum vorliegenden Verfahren erstattet. Das L[X.] habe aber - ausgehend von seiner Rechtsansicht - zu Unrecht die Bestellung eines besonderen Vertreters aufgehoben, weil in der Sache keine offensichtlich haltlose Rechtsverfolgung vorliege; er sei damit nicht wirksam vertreten gewesen.

3

II. Die durch die vom Senat bestellte besondere Vertreterin des [X.] (Beschluss vom [X.]) und Prozessbevollmächtigte eingelegte Beschwerde ist zulässig und begründet. Da der gerügte Verfahrensmangel der fehlenden ordnungsgemäßen Vertretung wegen [X.]keit vorliegt, konnte das angefochtene Urteil gemäß § 160a Abs 5 Sozialgerichtsgesetz ([X.]G) aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das L[X.] zurückverwiesen werden. Dass die Beiordnung der besonderen Vertreterin vom Senat wieder aufgehoben worden ist (Beschluss vom 12.8.2016), steht dem nicht entgegen. Die Beiordnung wurde nur aufgehoben, weil die Prozessfähigkeit des [X.] mit der Beschwerdebegründung streitig wurde und der Kläger deshalb bis zur Entscheidung über seine Prozessfähigkeit als prozessfähig zu behandeln ist (vgl nur [X.] in [X.]/[X.]/[X.], [X.]G, 11. Aufl 2014, § 71 Rd[X.] 8 d mwN).

4

Die angefochtene Entscheidung beruht auf einem Verstoß gegen § 72 Abs 1 [X.]G, weil das L[X.] zu Unrecht die Bestellung der besonderen Vertreterin für den bereits im Klage- und Berufungsverfahren prozessunfähigen Kläger aufgehoben hat. Dieser war dadurch in der mündlichen Verhandlung beim L[X.], auf die das Urteil ergangen ist, nicht wirksam vertreten (§ 202 [X.]G iVm § 547 [X.] Zivilprozessordnung); hierin liegt ein absoluter Revisionsgrund, bei dem unterstellt wird, dass das Urteil des L[X.] auf ihm beruht.

5

Gemäß § 72 Abs 1 [X.]G kann der Vorsitzende des jeweiligen Spruchkörpers für einen nicht prozessfähigen Beteiligten ohne gesetzlichen Vertreter bis zum Eintritt eines Vormundes, Betreuers oder Pflegers für das Verfahren einen besonderen Vertreter bestellen, dem alle Rechte, außer dem Empfang von Zahlungen, zustehen. [X.] ist eine Person, die sich nicht durch Verträge verpflichten kann (vgl § 71 Abs 1 [X.]G), also ua eine solche, die nicht geschäftsfähig iS des § 104 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) ist, weil sie sich gemäß § 104 [X.] 2 BGB in einem nicht nur vorübergehenden, die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet und deshalb nicht in der Lage ist, ihre Entscheidungen von vernünftigen Erwägungen abhängig zu machen. Dabei können bestimmte Krankheitsbilder auch zu einer sog partiellen [X.]keit führen, bei der die freie Willensbildung nur bezüglich bestimmter Prozessbereiche eingeschränkt ist. Soweit eine partielle [X.]keit anzunehmen ist, erstreckt sie sich auf den gesamten Prozess (B[X.] [X.] 3-1500 § 160a [X.] 32 S 65).

6

Eine solche partielle [X.]keit zur Führung sozialgerichtlicher Verfahren liegt vor. Dabei stützt sich der Senat in seiner Beurteilung insbesondere auf das Gutachten nach Aktenlage von Prof. Dr. B. vom 22.5.2015 im Verfahren L 1 AL 122/11 beim L[X.], das erstellt wurde, nachdem sich der Kläger geweigert hatte, sich einer Untersuchung zu seiner Prozessfähigkeit zu unterziehen. Dass das Gutachten in einem anderen Verfahren des [X.] eingeholt worden ist, hindert seine Verwertung im Wege des [X.] im vorliegenden Verfahren nicht, weil sich die Beurteilung Prof. Dr. B. nicht auf ein bestimmtes Verfahren begrenzt. Danach besteht beim Kläger ein sog paranoischer Querulantenwahn (Prägnanztyp einer Psychose, die durch ein subjektiv empfundenes Trauma in Gang gesetzt wurde), der ihn bereits im Klage- und Berufungsverfahren, aber auch fortlaufend außerstande setzt, sein eigenes Denken in Frage zu stellen bzw zu reflektieren. Er ist deshalb nicht in der Lage, in gerichtlichen Verfahren Entscheidungen in freier Willensbestimmung zu treffen.

7

Die Ausführungen seiner Bevollmächtigten widersprechen dem nicht. Zwar teilt sie mit, der Kläger sei sich seiner Behinderung und der daraus resultierenden Schwierigkeiten, seine Rechtsangelegenheiten zielführend und effektiv zu betreiben, bewusst. Entscheidend ist aber nicht, ob der Kläger seine Behinderung erkennt und akzeptiert, sondern ob er in der Lage ist, diese aus [X.] zu überwinden, um in einem gerichtlichen Verfahren seine Interessen zielgerichtet zu verfolgen. Der Einholung eines weiteren Gutachtens bedurfte es deshalb nicht.

8

Im Berufungsverfahren hätte die Bestellung des besonderen Vertreters nicht aufgehoben werden dürfen. Steht die [X.]keit für den Prozess fest, muss dieser grundsätzlich mit einem besonderen Vertreter fortgeführt werden, wenn eine sonstige gesetzliche Vertretung nicht gewährleistet und ein Betreuer nicht bestellt ist (im Einzelnen zuletzt B[X.] [X.] 4-1500 § 72 [X.] 2 Rd[X.] 9). Zwar sind Ausnahmen von der Vertreterbestellung für zulässig erachtet worden, wenn unter Anlegung eines strengen Maßstabs das Rechtsmittel eines [X.]en "offensichtlich haltlos" ist (B[X.]E 5, 176, 178 f); dies kann insbesondere bei absurden Klagebegehren ohne jeden Rückhalt im Gesetz oder bei offensichtlich unschlüssigem Vorbringen anzunehmen sein, etwa wenn kein konkreter Streitgegenstand erkennbar ist, nur allgemeine Ausführungen ohne irgendeinen Bezug zum materiellen Recht geäußert werden oder wenn das Vorbringen bereits mehrmals Gegenstand gerichtlicher Entscheidungen war (B[X.] [X.] 4-1500 § 72 [X.] 2 Rd[X.] 10).

9

Ein solches generell haltloses Begehren liegt aber nicht vor. Bei der prozessualen Begründung eines offensichtlich haltlosen Klagebegehrens, wie sie das L[X.] mit der Annahme einer aus anderen Gründen als der [X.]keit unzulässigen Klage seiner Entscheidung zugrunde gelegt hat, ist besondere Zurückhaltung geboten (B[X.] aaO). Es ist nicht ausgeschlossen, dass zumindest nach Hinweisen des Vorsitzenden (§ 106 [X.]G) unter Berücksichtigung des Meistbegünstigungsgrundsatzes (vgl nur: B[X.]E 74, 77 ff = [X.] 3-4100 § 104 [X.] 11 S 49 ff; [X.] in [X.]/[X.]/[X.], [X.]G, 11. Aufl 2014, § 92 Rd[X.] 12 mwN) ein besonderer Vertreter durchaus in der Lage gewesen wäre, im wohlverstandenen Interesse des [X.] sachdienliche Klageanträge mit hinreichendem Bezug zum materiellen Recht zu formulieren (B[X.] aaO).

Das L[X.] wird ggf auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.

Meta

B 8 SO 7/16 B

21.09.2016

Bundessozialgericht 8. Senat

Beschluss

Sachgebiet: SO

vorgehend SG Mainz, 3. Juli 2015, Az: S 3 SO 89/05, Urteil

§ 160a Abs 1 S 1 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 72 Abs 1 SGG, § 71 Abs 1 SGG, § 104 Nr 2 BGB, § 202 S 1 SGG, § 547 Nr 4 ZPO

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 21.09.2016, Az. B 8 SO 7/16 B (REWIS RS 2016, 5196)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2016, 5196

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

B 8 SO 49/13 B (Bundessozialgericht)

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - partielle Prozessunfähigkeit eines Beteiligten - Absehen von der …


B 8 SO 47/13 B (Bundessozialgericht)

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - partielle Prozessunfähigkeit eines Beteiligten - Absehen von der …


B 8 SO 48/13 B (Bundessozialgericht)

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - partielle Prozessunfähigkeit eines Beteiligten - Absehen von der …


B 8 SO 23/11 R (Bundessozialgericht)

Sozialgerichtliches Verfahren - Sozialhilfe - Prozessunfähigkeit - Voraussetzungen für ausnahmsweises Absehen von der Bestellung eines …


B 8 SO 128/15 B (Bundessozialgericht)

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - partielle Prozessunfähigkeit eines Beteiligten - Absehen von der …


Referenzen
Wird zitiert von

Keine Referenz gefunden.

Zitiert

Keine Referenz gefunden.

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.