Bundesfinanzhof, Beschluss vom 18.11.2010, Az. VII B 12/10

7. Senat | REWIS RS 2010, 1265

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Gegenstand

Frage nach der Nichtigkeit eines Verwaltungsakts wegen Verstoßes gegen die guten Sitten nicht grundsätzlich bedeutsam - Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung als Revisionszulassungsgrund


Leitsatz

1. NV: Der Frage, ob ein Verwaltungsakt aufgrund eines Verstoßes gegen die guten Sitten gemäß § 125 Abs. 2 Nr. 4 AO nichtig ist, kommt deshalb keine grundsätzliche Bedeutung zu, weil ihre Beantwortung von den besonderen Umständen des Einzelfalls abhängig ist.

2. NV: Mit der bloßen Behauptung eines Verstoßes gegen die guten Sitten, die vermeintlich zur Nichtigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts führen soll, wird nicht hinreichend dargelegt, dass sich die Entscheidung des FG unter keinem denkbaren Aspekt als rechtlich vertretbar erweist, so dass sich zwingend der Schluss aufdrängen muss, sie beruhe auf sachfremden Erwägungen.

3. NV: Behauptet der Beschwerdeführer, das FG habe bei seiner Entscheidungsfindung die Vorschrift des § 125 Abs. 2 Nr. 4 AO übersehen, und hat er selbst diese Bestimmung im erstinstanzlichen Verfahren unerwähnt gelassen, so ist er zur Begründung einer Nichtzulassungsbeschwerde gehalten, die Umstände darzulegen, aus denen sich ergibt, dass das FG diese Bestimmung in vorwerfbarer Weise übersehen hat.

Tatbestand

1

I. Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) hat erhebliche Steuerrückstände. Vollstreckungsmaßnahmen blieben ohne Erfolg. Eine Zahlungsaufforderung des Beklagten und Beschwerdegegners (Finanzamt --[X.]--) vom 25. August 2004 blieb unbeachtet. Monate später fand durch Mitarbeiter des [X.] ([X.]) eine Durchsuchung der Wohnung statt, die der Kläger zusammen mit seiner Ehefrau und seiner Tochter bewohnt. Über die Durchsuchung wurde das [X.] unterrichtet. Obwohl das [X.] keinen Durchsuchungsbeschluss nach § 287 Abs. 4 Satz 1 der Abgabenordnung ([X.]) beantragt hatte, nahmen zwei Vollziehungsbeamte und der zuständige Sachbearbeiter der Vollstreckungsstelle die Gelegenheit wahr, sich unter Annahme von Gefahr im Verzug an der Durchsuchung zu beteiligen und zahlreiche Gegenstände zu pfänden. Gegen die Vollstreckungsmaßnahmen legten alle Familienmitglieder Einspruch ein. Daraufhin hob das [X.] die Pfändung bezüglich der Ehefrau des [X.] auf, die unter Berufung auf § 262 [X.] zusammen mit ihrer Tochter zwei weitere Einsprüche einlegte. Sämtliche Einsprüche wies das [X.] zurück.

2

Die daraufhin erhobene Klage hatte im Wesentlichen Erfolg. Das Finanzgericht ([X.]) hob die Sachpfändung auf und stellte die Rechtswidrigkeit der Wohnungsdurchsuchung fest. Im Streitfall habe keine Ausnahme vom Grundsatz der richterlichen Durchsuchungsanordnung vorgelegen, denn das [X.] habe ausreichend Zeit gehabt, eine solche Anordnung zu erwirken. Durch bloßes Zuwarten, bis Gefahr im Verzug entstanden sei, könne der Richtervorbehalt nicht umgangen werden. Der Verstoß sei jedoch nicht so schwerwiegend, dass er die Nichtigkeit der Pfändung zur Folge habe. Der Umstand, dass die Voraussetzungen für die Annahme von Gefahr im Verzug zu Unrecht bejaht worden seien, stelle keine so schwerwiegende Verletzung der an eine ordnungsgemäße Verwaltung zu stellenden Anforderungen dar, dass von niemandem erwartet werden könne, die aufgrund der Durchsuchung ergangenen Vollstreckungsmaßnahmen als verbindlich anzuerkennen. Verstöße gegen § 287 [X.] machten die Vollstreckungshandlung zwar anfechtbar, jedoch nicht nichtig. Insoweit hat das [X.] die Klage abgewiesen.

3

Mit seiner Beschwerde begehrt der Kläger die Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --[X.]O--), zur Fortbildung des Rechts und zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 [X.]O). Vorsätzliche Verstöße von Angehörigen der Polizei und der Finanzverwaltung gegen das Grundgesetz (GG) und gegen strafrechtliche Bestimmungen (§§ 123, 339 und 357 des Strafgesetzbuchs --StGB--) seien nicht hinnehmbar. Im Streitfall sei durch die Verabredung eines grundgesetzwidrigen und strafbaren Vorgehens eine schuldlose fehlerhafte Rechtsauslegung durch die Beamten ausgeschlossen. Das [X.] habe die für diesen Fall einschlägige Bestimmung des § 125 Abs. 2 Nr. 4 [X.] übergangen und verkannt, dass der angefochtene Verwaltungsakt nicht bloß rechtswidrig, sondern nichtig sei. Dies führe zu einer greifbar gesetzwidrigen Entscheidung, die nicht hingenommen werden könne und die geeignet sei, das Vertrauen in die Rechtsprechung zu beschädigen. Die Verabredung einer strafbaren Vorgehensweise durch das [X.] und das [X.] verstoße in einem besonderen Maß gegen die guten Sitten. Auch sei Wiederholungsgefahr gegeben.

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Das [X.] ist der Beschwerde entgegengetreten.

Entscheidungsgründe

5

II. Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Der Kläger hat die von ihm geltend gemachten Zulassungsgründe nicht in der nach § 116 Abs. 3 Satz 3 [X.]O erforderlichen Weise dargelegt.

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1. Für die nach § 116 Abs. 3 Satz 1 und 3 [X.]O zu fordernde Darlegung der Zulassungsgründe der grundsätzlichen Bedeutung einer Rechtssache (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 [X.]O) und der Fortbildung des Rechts (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 [X.]O) muss der Beschwerdeführer konkret auf eine Rechtsfrage und ihre Bedeutung für die Allgemeinheit eingehen. Er muss zunächst eine bestimmte für die Entscheidung des Streitfalls erhebliche abstrakte Rechtsfrage herausstellen, der grundsätzliche Bedeutung zukommen soll. Erforderlich ist darüber hinaus ein konkreter und substantiierter Vortrag aus dem ersichtlich wird, warum im Einzelnen die Klärung der aufgeworfenen Rechtsfrage durch die angestrebte Revisionsentscheidung aus Gründen der Rechtssicherheit, der Rechtseinheitlichkeit und/oder der Rechtsentwicklung im allgemeinen Interesse liegt. Ferner muss die aufgeworfene Frage klärungsbedürftig und im konkreten Streitfall auch klärungsfähig sein (vgl. Senatsbeschlüsse vom 27. Oktober 2003 [X.]/03, [X.], 232, und vom 2. Dezember 2002 [X.]/02, [X.] 2003, 527, m.w.[X.]).

7

Diesen Anforderungen wird die Beschwerde nicht gerecht. Die Formulierung einer abstrakten Rechtsfrage, die in dem angestrebten Revisionsverfahren einer Klärung zugeführt werden könnte, ist dem Vorbringen des [X.] nicht zu entnehmen. Vielmehr wendet er sich gegen die rechtliche Bewertung des Vorgehens des [X.] durch das [X.] und gegen dessen Rechtsauffassung, dass im Streitfall keine Nichtigkeit der angefochtenen Verwaltungsentscheidungen festgestellt werden könne. Etwaige Fehler bei der Auslegung und Anwendung des materiellen Rechts im konkreten Einzelfall rechtfertigen für sich gesehen jedoch nicht die Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung (vgl. Senatsbeschluss vom 6. Oktober 2003 [X.]/03, [X.], 215; Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 115 Rz 24 und § 116 Rz 34, jeweils m.w.[X.]). Denn das prozessuale Rechtsinstitut der Nichtzulassungsbeschwerde dient nicht dazu, allgemein die Richtigkeit finanzgerichtlicher Urteile zu gewährleisten (ständige Rechtsprechung, z.B. Senatsbeschluss vom 30. Januar 2007 [X.], [X.] 2007, 1324).

8

Im Übrigen hängt die Beurteilung der Frage, ob ein Verwaltungsakt an einem solch schweren Fehler leidet, dass dies zu seiner Nichtigkeit führt, von den konkreten Umständen des jeweiligen Streitfalls ab. Dies gilt insbesondere dann, wenn ein Verstoß gegen die guten Sitten gemäß § 125 Abs. 2 Nr. 4 [X.] in Betracht käme.

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2. Soweit der Kläger die Zulassung der Revision wegen einer vermeintlich willkürlichen bzw. greifbar gesetzwidrigen Entscheidung des [X.] begehrt, genügen die Darlegungen ebenfalls nicht den Anforderungen des § 116 Abs. 3 Satz 3 [X.]O. Die Einheitlichkeit der Rechtsprechung ist i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 2 [X.]O nur dann betroffen, wenn dem [X.] bei der Auslegung und Anwendung des Rechts Fehler unterlaufen sind, die von so erheblichem Gewicht sind, dass sie, würden sie von einem Rechtsmittelgericht nicht korrigiert, geeignet wären, das Vertrauen in die Rechtsprechung zu beschädigen, etwa weil Verfahrensgrundrechte verletzt worden sind, das aus Art. 3 Abs. 1 GG und Art. 19 Abs. 4 GG abzuleitende Recht eines Beteiligten auf eine willkürfreie gerichtliche Entscheidung durch das Urteil des [X.] nicht befriedigt wird (Senatsbeschluss vom 14. Februar 2002 [X.]/01, [X.] 2002, 798, m.w.[X.]) oder wenn das [X.] eine offensichtlich einschlägige entscheidungserhebliche Norm übersehen hat ([X.] vom 28. Juli 2003 [X.], [X.] 2003, 1597, m.w.[X.]).

Die vom Kläger behauptete Verabredung des [X.] und des [X.] zur Begehung mehrerer Straftaten hat das [X.] nicht festgestellt. Weder zu den subjektiven noch zu den objektiven Tatbestandsmerkmalen der §§ 123, 339 und 357 StGB hat es Feststellungen getroffen. Verfahrensrügen hat der Kläger ausdrücklich nicht erhoben. Die bloße Behauptung, das [X.] habe § 125 Abs. 2 Nr. 4 [X.] übersehen und die Sittenwidrigkeit des Vorgehens des [X.] nicht erkannt, genügt nicht zur Darlegung, dass die Entscheidung des [X.] unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertretbar ist, so dass sich der Schluss aufdrängt, sie beruhe auf sachfremden Erwägungen. In den Entscheidungsgründen hat das [X.] ausgeführt, dass die [X.] --unter bestimmten [X.] eine Durchsuchung ohne richterliche Anordnung in § 287 Abs. 4 Satz 2 [X.] ausdrücklich vorsieht und dass im Streitfall die Annahme von Gefahr in Verzug von den Vollziehungsbeamten des [X.] zu Unrecht bejaht worden sei. Unter diesen Umständen bestand aus der maßgeblichen Sicht des [X.] kein Anlass, der Frage nachzugehen, ob im Streitfall von einer Verabredung des [X.] und des [X.] zur Begehung von Straftaten auszugehen ist und ob sich das Vorgehen des [X.] als Verstoß gegen die guten Sitten darstellen könnte.

Dass nach den Feststellungen des [X.] die Vorschrift des § 125 Abs. 2 Nr. 4 [X.] im Streitfall offensichtlich einschlägig ist, so dass sie vom [X.] in vorwerfbarer Weise übersehen werden konnte, vermag der beschließende Senat nicht zu erkennen. Auch wird dies durch die Ausführungen des [X.] nicht hinreichend belegt. Nach dem Akteninhalt hat auch er diese Bestimmung im erstinstanzlichen Verfahren für seine Überlegungen nicht nutzbar gemacht und von einer ausdrücklichen Inbezugnahme abgesehen. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass diese Vorschrift im Steuerrecht äußerst geringe Bedeutung hat (v.[X.] in [X.], [X.], § 125 Rz 25). Tipke weist darauf hin, dass die Bestimmung, die an den Rechtsgedanken des § 138 Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs anknüpft, im Steuerrecht kein Anwendungsfeld haben dürfte (Tipke in Tipke/[X.], Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 125 [X.] Rz 29). Bei diesem Befund werden die Ausführungen des [X.] den Darlegungserfordernissen des § 116 Abs. 3 Satz 3 [X.]O nicht gerecht.

Meta

VII B 12/10

18.11.2010

Bundesfinanzhof 7. Senat

Beschluss

vorgehend FG München, 8. Dezember 2009, Az: 12 K 3470/05, Urteil

Art 3 Abs 1 GG, Art 19 Abs 4 GG, § 115 Abs 2 Nr 1 FGO, § 115 Abs 2 Nr 2 FGO, § 125 Abs 2 Nr 4 AO, § 287 Abs 4 S 2 AO, § 116 Abs 3 S 3 FGO

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Beschluss vom 18.11.2010, Az. VII B 12/10 (REWIS RS 2010, 1265)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2010, 1265

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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