Bundesgerichtshof, Beschluss vom 02.07.2019, Az. VI ZR 42/18

6. Zivilsenat | REWIS RS 2019, 5884

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Gegenstand

Gehörsverletzung im Schadensersatzprozess: Überspannte Anforderungen an die hinreichende Substantiierung des Klägervortrags bei Inanspruchnahme eines Herstellers von Schließzylindern unter dem Gesichtspunkt der Haftung für wirkungslose Produkte


Leitsatz

Zum Vorliegen eines Gehörsverstoßes wegen überspannter Anforderungen an die hinreichende Substantiierung des Klägervortrags.

Tenor

Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin wird das Urteil des 3. Zivilsenats des [X.] vom 28. Dezember 2017 aufgehoben.

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Verfahrens der Nichtzulassungsbeschwerde, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Der Streitwert wird auf 65.689,92 € festgesetzt.

Gründe

I.

1

Die Klägerin nimmt den beklagten Hersteller von Schließzylindern aus übergegangenem Recht ihres Ehemannes auf Ersatz materiellen Schadens unter dem Gesichtspunkt der Haftung für wirkungslose Produkte in Anspruch. Sie macht geltend, in der [X.] zwischen dem 2. und 5. Dezember 2013 sei es zu einem Einbruch in das Haus ihres Ehemannes gekommen, bei dem Wertgegenstände mit einem Gesamtwert von rund 69.000 € entwendet worden seien. Als einzig denkbare Einbruchstechnik komme das sogenannte Lockpicking, nämlich das Öffnen des Türschlosses mittels eines Weichholzes, etwa einem einfachen Zahnstocher, in Betracht. Sämtliche Türen seien zum [X.]punkt des Einbruchs ordnungsgemäß verschlossen gewesen. Ein Nachschlüsseldiebstahl scheide aus. Die Polizei habe bis auf leichte Hebelspuren an einer der Türen keine [X.] festgestellt. Die Schlösser seien mit Schließanlagen der von der [X.] hergestellten [X.]Serie      versehen gewesen. Diese hätten keinen ausreichenden Schutz gegen Lockpicking geboten.

2

Das [X.] hat die Klage abgewiesen. Das [X.] hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter.

II.

3

Das Berufungsgericht hat Ansprüche aus § 823 Abs. 1 BGB und § 1 Abs. 1 Produkthaftungsgesetz mit der Begründung verneint, dass die Klägerin das Vorliegen eines Produktfehlers nicht ausreichend konkret dargelegt habe. Dass die Schließzylinder tatsächlich dem sogenannten Lockpicking nicht standgehalten haben könnten und es deshalb zu dem von der Klägerin behaupteten Einbruch gekommen sei, habe die Klägerin nicht schlüssig vorgetragen. Nach ihrem Vortrag habe dem Täter ein [X.]raum von drei Tagen zur Verfügung gestanden, um die Schließzylinder zu überwinden, weshalb keine Anhaltspunkte für die Richtigkeit der behaupteten Öffnung des Schließzylinders innerhalb eines [X.]raums von wenigen Minuten vorlägen. Gegen die behauptete Überwindung des Schließzylinders durch einen Täter, der das Lockpicking beherrsche, spreche zudem der Umstand, dass nach dem Vortrag der Klägerin an der rückwärtigen Eingangstür leichte Hebelspuren zu finden gewesen seien. Auch auf der Basis des Vortrags der Klägerin zu dem erwarteten Sicherheitsstandard der Schließzylinder sei ein Fehler der streitgegenständlichen Zylinder nicht ersichtlich. Die Klägerin habe ausgeführt, die Beklagte bewerbe die von ihr hergestellten Zylinder als "unknackbar". [X.] Vortrag hierzu fehle indes. Etwaige Werbegrundlagen oder Produktbeschreibungen lege die Klägerin nicht vor. Nicht weiterführend sei auch der weitere Vortrag der Klägerin, die Profilzylinder gehörten zu der [X.] 2. So lege die Klägerin die vertraglichen Vereinbarungen mit der Firma [X.], bei der der Zedent die streitgegenständlichen Schließzylinder erworben haben solle, nicht vor. Es fehle konkreter Vortrag der Klägerin zu dem Widerstand der streitgegenständlichen Schließzylinder gegen [X.].

III.

4

Die Nichtzulassungsbeschwerde hat Erfolg und führt gemäß § 544 Abs. 7 ZPO zur Aufhebung des angegriffenen Beschlusses und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht. Die Beurteilung des Berufungsgerichts, die Klägerin habe nicht schlüssig vorgetragen, dass die von der [X.] hergestellten Schließzylinder dem sogenannten Lockpicking nicht standgehalten haben könnten und es deshalb zu dem von der Klägerin behaupteten Einbruch gekommen sei, beruht auf einer Verletzung des Anspruchs der [X.] auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG.

5

a) Art. 103 Abs. 1 GG vermittelt allen an einem gerichtlichen Verfahren Beteiligten einen Anspruch darauf, sich zu dem in Rede stehenden Sachverhalt und zur Rechtslage zu äußern (vgl. [X.] 19, 32, 36; 49, 325, 328; 55, 1, 6; 60, 175, 210; 64, 135, 143 f.). Dem entspricht die Pflicht des Gerichts, tatsächliche und rechtliche Ausführungen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen (Senatsbeschluss vom 29. Mai 2018 - [X.], [X.], 1001 Rn. 8; [X.] 60, 1, 5; 65, 227, 234; 84, 188, 190; 86, 133, 144 ff.; [X.], Beschluss vom 1. August 2017 - 2 BvR 3068/14, [X.], 3218 Rn. 47). Dabei darf das Gericht die Anforderungen an die Substantiierung des Parteivortrags nicht überspannen. Da die Handhabung der Substantiierungsanforderungen dieselben einschneidenden Folgen hat wie die Anwendung von Präklusionsvorschriften, verstößt sie gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn sie offenkundig unrichtig ist (vgl. [X.], Beschlüsse vom 11. September 2013 - [X.]/12, NJW 2014, 149 Rn. 15; vom 20. Oktober 2015 - [X.], [X.] 2016, 70 Rn. 12; vom 5. Juni 2018 - [X.], [X.], 51, juris Rn. 15; vom 20. November 2018 - [X.]/17; vom 18. September 2018 - [X.], [X.], 692 Rn. 20; vom 20. November 2018 - [X.]/17, juris Rn. 14).

6

b) So verhält es sich im Streitfall. Die Beurteilung des Berufungsgerichts, die Klägerin habe nicht schlüssig vorgetragen, dass die von der [X.] hergestellten Schließzylinder dem sogenannten Lockpicking nicht standgehalten haben könnten und es deshalb zu dem von der Klägerin behaupteten Einbruch gekommen sein könne, beruht auf einer offenkundigen Überspannung der Substantiierungsanforderungen. Wie die Nichtzulassungsbeschwerde zu Recht geltend macht, hatte die Klägerin in den Tatsacheninstanzen vorgetragen,

7

- dass es sich beim Lockpicking um eine Form der Schlossöffnung handle, zu der das [X.] unter dem Aktenzeichen "[X.]" einen Feldversuch durchgeführt habe, dessen Zweck der Nachweis gewesen sei, dass von der [X.] produzierte Zylinder mit Hilfe von Weichhölzern, vorzugsweise Zahnstochern, zu öffnen seien,

8

- dass das Lockpicking auch im Nachhinein nachweis- und belegbar sei, dass im Streitfall lediglich drei Zylinder (die an der vorderen Eingangstür, der hinteren Eingangstür und der Kellertür) in Betracht kämen und anhand dieser noch vorliegenden Zylinder durch [X.] belegbar sei, dass sie mittels des [X.] geöffnet worden seien, wobei vieles dafür spreche, dass der oder die Diebe durch den rückwärtigen Eingang eingedrungen seien,

9

- dass die Klägerin bei dem Kauf der Schließanlage nicht damit habe rechnen müssen, dass ein Schließzylinder der vorliegenden Art, der seinerzeit etwa 120 € gekostet habe, mit primitivsten Werkzeugen wie einem Weichholz habe geöffnet werden können.

Die Nichtzulassungsbeschwerde beanstandet zu Recht, dass diesem Vortrag der Klägerin nicht mit der Begründung die Schlüssigkeit abgesprochen werden kann, für die Täter habe ein [X.]raum von drei Tagen zur Verfügung gestanden, um die Schließzylinder zu überwinden, weshalb keine Anhaltspunkte dafür beständen, dass der Schließzylinder innerhalb weniger Minuten geöffnet worden sei. Diese Erwägung des Berufungsgerichts läuft auf eine unzulässige antizipierte Beweiswürdigung hinaus. Gleiches gilt, soweit das Berufungsgericht darauf abgestellt hat, dass die an der rückwärtigen Eingangstür festgestellten Hebelspuren gegen Lockpicking sprächen und die Klägerin weder Produktbeschreibungen der "unknackbaren" Zylinder noch vertragliche Vereinbarungen über den Erwerb der Schließzylinder vorgelegt habe.

Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts oblag es der Klägerin auch nicht, konkret zu dem Widerstand der streitgegenständlichen Schließzylinder gegen [X.] vorzutragen. Nach den tatbestandlichen Feststellungen des Berufungsgerichts hatte die Klägerin behauptet, die Profilzylinder hätten nach den Angaben der [X.] zu der [X.] 2 gehört. Dies genügt. Welchen tatsächlichen Widerstand die Schließzylinder gegen [X.] hatten, kann die Klägerin mangels näherer Kenntnisse von der Bauart der Zylinder und mangels Sachkunde nicht beurteilen. Unter anderem zur Klärung dieser Frage hatte sie die Einholung eines Sachverständigengutachtens beantragt.

c) Die Gehörsverletzung ist auch entscheidungserheblich. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht bei der gebotenen Berücksichtigung des Vortrags der Klägerin zu einer anderen Beurteilung gelangt wäre.

III.

Der angegriffene Beschluss war deshalb aufzuheben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Dieses wird dabei die Rechtsprechung des Senats zur Haftung des Herstellers für wirkungslose Produkte zu berücksichtigen haben (vgl. Senatsurteile vom 17. März 1981 - [X.], [X.]Z 80, 186 und [X.], [X.]Z 80, 199; vom 18. September 1984 - [X.], [X.], 1151).

Seiters     

        

von Pentz     

        

Offenloch

        

Roloff      

        

Allgayer      

        

Berichtigungsbeschluss vom 2. September 2019

Der Beschluss vom 2. Juli 2019 wird dahingehend berichtigt, dass der letzte Halbsatz in Randnummer 4 wie folgt lautet:

„..., beruht auf einer Verletzung des Anspruchs der Klägerin auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art 103 Abs. 1 GG.“

Seiters     

        

von Pentz     

        

Offenloch

        

Roloff     

        

Allgayer     

        

Berichtigungsbeschluss vom 5. November 2019

Der Beschluss des Senats vom 2. Juli 2019 wird dahingehend berichtigt, dass es in den Randnummern 4 und 13 statt „Beschluss“ jeweils „Urteil“ heißt (§ 319 Abs. 1 ZPO).

Seiters     

  

von Pentz     

  

Offenloch

Roloff     

Allgayer     

Meta

VI ZR 42/18

02.07.2019

Bundesgerichtshof 6. Zivilsenat

Beschluss

Sachgebiet: ZR

vorgehend OLG Düsseldorf, 28. Dezember 2017, Az: 3 U 29/17

§ 823 Abs 1 BGB, Art 103 Abs 1 GG, § 1 Abs 1 ProdHaftG

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 02.07.2019, Az. VI ZR 42/18 (REWIS RS 2019, 5884)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2019, 5884


Verfahrensgang

Der Verfahrensgang wurde anhand in unserer Datenbank vorhandener Rechtsprechung automatisch erkannt. Möglicherweise ist er unvollständig.

Az. VI ZR 42/18

Bundesgerichtshof, VI ZR 42/18, 02.07.2019.


Az. 3 U 29/17

Oberlandesgericht Düsseldorf, 3 U 29/17, 11.03.2021.

Oberlandesgericht Düsseldorf, 3 U 29/17, 28.12.2017.


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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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