Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 17.01.2017, Az. 2 BvR 2013/16

2. Senat 1. Kammer | REWIS RS 2017, 17264

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Stattgebender Kammerbeschluss: Versagung effektiven verwaltungsgerichtlichen Eilrechtsschutzes bzgl der Überstellung eines afghanischen Asylsuchenden nach Bulgarien verletzt Art 19 Abs 4 S 1 GG - insb Erforderlichkeit einer über summarische Prüfung hinausgehenden Interessenabwägung bei ungeklärten Fragen des EU-Rechts, die im Hauptsacheverfahren eine EuGH-Vorlage nahelegen - Beachtlichkeit des Unterlassens eine Anhörung gem Art 5 Dublin-III-VO (juris: EUV 603/2013) - Gegenstandswertfestsetzung


Tenor

Der Beschluss des [X.] (Oder) vom 25. August 2016 - [X.]/16.A - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes.

Der Beschluss wird aufgehoben und die Sache an das [X.] (Oder) zurückverwiesen.

Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.

Das [X.] hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren und für das Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu erstatten.

Damit erledigt sich der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung von Rechtsanwältin K… .

Der Gegenstandswert der anwaltlichen Tätigkeit wird für das Verfassungsbeschwerdeverfahren auf 10.000 € (in Worten: zehntausend [X.]) und für den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung auf 5.000 € (in Worten: fünftausend [X.]) festgesetzt.

Gründe

1

1. Der am 1. Januar 1992 geborene Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger. Er reiste am 7. September 2015 in die [X.] ein. Am 10. Oktober 2015 meldete er sich als Asylsuchender und erhielt die entsprechende Bescheinigung. Seine Registrierung in der Außenstelle des [X.] fand am 12. Januar 2016 statt, und er stellte einen Asylantrag. Eine mündliche Anhörung wurde nicht durchgeführt. Aufgrund eines [X.] stellte das [X.] am 9. März 2016 ein Übernahmegesuch an [X.]. Es erklärte hierin, dass der Beschwerdeführer am 12. Januar 2016 seinen Asylantrag gestellt habe. [X.] akzeptierte die Übernahme mit Schreiben vom 17. März 2016 gemäß Art. 20 Abs. 5 der Verordnung Nr. 604/2013 des [X.] und des Rates ([X.]) und teilte mit, dass der Beschwerdeführer nach Stellung des Asylantrags untergetaucht und der Antrag daraufhin abgelehnt worden sei.

2

Mit Bescheid vom 27. April 2016 - zugestellt am 3. Mai 2016 - lehnte das [X.] den Asylantrag als unzulässig ab, ordnete die Abschiebung nach [X.] an und befristete das Einreiseverbot auf zwölf Monate. [X.] sei nach Art. 18 Abs. 1 Buchstabe b [X.] für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig. Gründe für einen Selbsteintritt seien nicht ersichtlich.

3

2. a) Der Beschwerdeführer erhob am 5. Mai 2016 Klage gegen den Bescheid und beantragte die Anordnung ihrer aufschiebenden Wirkung. Mit Schreiben vom 12. Mai 2016 begründete er Klage und Eilantrag dahingehend, dass er bei seiner Flucht aus [X.] durch [X.] gereist sei. Er sei schwer erkrankt gewesen und bei der Ankunft in [X.] ohnmächtig gewesen. Er sei inhaftiert und schlecht behandelt worden. Die dringend erforderliche medizinische Behandlung habe er nicht erhalten; zur Stellung eines Asylantrags sei er gezwungen worden. Einen wirksamen Asylantrag habe er aber nicht gestellt. Nach seiner Einreise nach [X.] sei keine persönliche Anhörung gemäß Art. 5 [X.] durchgeführt worden. Schon dieser Verstoß führe zum Erfolg des [X.], da die [X.] anders als die [X.] zum Schutz der Interessen des Asylbewerbers - von nicht einschlägigen Ausnahmefällen abgesehen - eine persönliche Anhörung vorsehe. Die Vorschrift sei auch drittschützend, gegebenenfalls sei die Frage nach dem Drittschutz dem [X.] ([X.]) vorzulegen.

4

Im Übrigen habe [X.] aufgrund der fehlenden Information über die Meldung als Asylsuchender am 10. Oktober 2015 keine wirksame Zustimmung abgegeben. Zudem sei die Frist zur Stellung des Aufnahmegesuchs beziehungsweise des Wiederaufnahmegesuchs abgelaufen. Richtigerweise sei von einem Aufnahmeverfahren auszugehen, da der in [X.] gestellte Asylantrag unwirksam gewesen sei. Die Frist für das Aufnahmegesuch nach Art. 21 Abs. 1 [X.]. 2 [X.] habe gemäß Art. 20 Abs. 2 [X.] mit der Meldung als Asylsuchender am 10. Oktober 2015 begonnen und sei mithin am 10. Januar 2016 abgelaufen. Es sei europarechtlich eindeutig, dass es nicht darauf ankomme, wann das [X.] den förmlichen Asylantrag nach § 14 [X.] entgegennehme. Auch wenn man von einem [X.] gemäß Art. 23 [X.] ausgehe, seien die Fristen abgelaufen. Das Gesuch sei jedenfalls nicht "so bald wie möglich" gestellt worden. Soweit das Gericht dieser Auslegung nicht folgen wolle, sei jedenfalls eine Vorabentscheidung des [X.] einzuholen. Entweder habe dies im Eilverfahren zu erfolgen oder dem Eilantrag sei stattzugeben, um den Vorlagebeschluss im Hauptsacheverfahren fassen zu können.

5

Schließlich sei nach der Rechtsprechung zahlreicher Verwaltungsgerichte die Abschiebung nach [X.] wegen dort bestehender systemischer Mängel auszusetzen. Dem Beschwerdeführer drohe bei einer Rückkehr nach [X.] zum einen eine rechtswidrige Inhaftierung sowie die Rückschiebung nach [X.]. Außerdem sei er an Tuberkulose erkrankt, und eine ausreichende medizinische Behandlung sei in [X.] nicht gewährleistet. Mit Schriftsatz vom 23. Mai 2016 wies der Beschwerdeführer darauf hin, dass er aufgrund einer allergischen Reaktion auf die verschriebenen Medikamente stationär in ein Klinikum aufgenommen worden sei und sich die Behandlung als äußerst kompliziert erweise.

6

b) Mit Beschluss vom 26. Mai 2016 gab das Verwaltungsgericht dem Eilantrag statt, da das [X.] die Verwaltungsvorgänge nicht vorgelegt habe.

7

c) Mit Beschluss vom 25. August 2016 - den Verfahrensbevollmächtigten des Beschwerdeführers am 31. August 2016 zugegangen - änderte das Verwaltungsgericht den Beschluss vom 26. Mai 2016 gemäß § 80 Abs. 7 Satz 1 VwGO von Amts wegen und lehnte den Eilantrag ab. Das persönliche Gespräch gemäß Art. 5 [X.] hätte zwar grundsätzlich durchgeführt werden müssen; dies sei nicht erfolgt. Dieser Verfahrensfehler sei jedoch bei der gebundenen Entscheidung über den Asylantrag gemäß § 46 VwVfG unbeachtlich, da die unterlassene Anhörung offensichtlich keinen Einfluss auf die Entscheidung gehabt habe. Im Asylverfahren, das nur gebundene Entscheidungen kenne, könne allein eine fehlende Anhörung die Aufhebung des Bescheids nie rechtfertigen. Systemische Mängel des Asylsystems in [X.] verneinte das Verwaltungsgericht im [X.] an die Rechtsprechung anderer Verwaltungsgerichte. Auch aus einer Nichteinhaltung der Fristen zur Stellung des Aufnahme- beziehungsweise Wiederaufnahmegesuchs gemäß Art. 21 Abs. 1, 23 Abs. 3 [X.] ergebe sich keine Begründetheit des Antrags. Die Überstellungsfrist gemäß Art. 29 [X.] sei ebenfalls nicht abgelaufen, da die stattgebende Entscheidung des [X.] diese unterbrochen habe. Es liege schließlich kein Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 7 AufenthG vor, da davon auszugehen sei, dass die in Osteuropa weitverbreitete Tuberkulose in [X.] behandelbar sei. Die Reisefähigkeit des Beschwerdeführers sei durch die Tuberkulose nicht eingeschränkt.

8

1. Der Beschwerdeführer hat am 27. September 2016 Verfassungsbeschwerde erhoben, mit der er eine Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und Satz 2 [X.], des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 [X.] und des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 [X.] rügt. Er hat weiter beantragt, die Vollziehung des Bescheids des [X.] bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde auszusetzen und ihm Prozesskostenhilfe für das Verfassungsbeschwerdeverfahren zu bewilligen.

9

Die Verfassungsbeschwerde sei zulässig. Er habe insbesondere keine Anhörungsrüge erheben müssen, da er keine Verletzung des rechtlichen Gehörs rüge. Die Verfassungsbeschwerde sei auch begründet. Das Verwaltungsgericht habe ihn [X.] entzogen, indem es die entscheidungserheblichen Fragen der Auslegung des Unionsrechts nicht dem [X.] vorgelegt habe. Dies gelte zum einen für die Heilbarkeit eines Verstoßes gegen Art. 5 [X.] nach § 46 VwVfG. Der Beschwerdeführer habe in der Klage- und Antragsbegründung die Erforderlichkeit einer Vorlagefrage an den [X.] nach dem drittschützenden Charakter des Art. 5 [X.] aufgezeigt. Das Verwaltungsgericht habe sich damit nicht auseinandergesetzt, sondern schlicht die Unbeachtlichkeit des Verstoßes nach § 46 VwVfG angenommen. Auch diese Frage habe es jedoch dem [X.] vorlegen müssen, da keineswegs geklärt sei, dass Europarecht die Heilbarkeit von Verstößen gegen Unionsrecht in diesem Umfang zulasse. Im Übrigen habe das Verwaltungsgericht auch zu Unrecht bejaht, dass der Mangel "offensichtlich" an dem Ergebnis nichts geändert habe. Weiterhin sei die Auslegung des Art. 20 Abs. 2 [X.] hinsichtlich des Begriffs eines Antrags auf internationalen Schutz entscheidungserheblich, und dies sei im fachgerichtlichen Verfahren auch dargelegt worden. Aus dem Gesamtsystem des [X.] Asylrechts folge unzweifelhaft, dass schon die Meldung als Asylsuchender ein Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des Unionsrechts sei, der die Frist zur Stellung des Aufnahmegesuchs auslöse. Gleiches gelte, soweit man ein Wiederaufnahmegesuch im Sinne des Art. 23 Abs. 2 [X.] annehme, da auch dieses spätestens drei Monate nach dem Antrag auf internationalen Schutz zu stellen sei. Auch diese entscheidungserheblichen und im fachgerichtlichen Verfahren formulierten Fragen habe das Verwaltungsgericht nicht dem [X.] vorgelegt. Das Verwaltungsgericht sei hierzu jedoch verpflichtet gewesen, da es im Asylverfahren im Eilrechtsschutz letztinstanzlich tätig und damit wegen Art. 267 AEUV vorlagepflichtig sei. Sollte man davon ausgehen, dass eine Vorlagepflicht ausschließlich im Hauptsacheverfahren bestehen könne, so sei Art. 19 Abs. 4 [X.] verletzt, da in diesem Fall die aufschiebende Wirkung bis zu einer Entscheidung über die Vorlage im Hauptsacheverfahren anzuordnen sei, um die Schaffung endgültiger Tatsachen zu vermeiden. Im Übrigen habe die Frage zu Art. 20 Abs. 2 [X.] grundsätzliche Bedeutung gehabt, so dass nach § 76 Abs. 4 Satz 2 [X.] eine Übertragung durch den Einzelrichter auf die Kammer erforderlich gewesen sei.

Weiterhin verletze die Entscheidung sein Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 [X.]. Das Verwaltungsgericht habe seine ausgesprochen kompliziert verlaufene [X.] nicht hinreichend berücksichtigt. Die Behandelbarkeit der Tuberkulose habe [X.] nicht belegt, sondern allenfalls vermutet. Dabei sei zu berücksichtigen gewesen, dass nach der aktuellen Auskunftslage - eine grundsätzlich noch adäquate medizinische Versorgung in [X.] unterstellt - jedenfalls für inhaftierte oder in Aufnahmeeinrichtungen untergebrachte Asylbewerber praktisch keine medizinische Versorgung gewährleistet sei. Weiterhin drohe in [X.] eine Kettenabschiebung nach [X.]. Schließlich verletze die Entscheidung das Freiheitsrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 [X.], da er nach seiner Abschiebung nach [X.] mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit willkürlich inhaftiert werde. Selbst wenn ihm keine Haft drohen sollte, gelte seit Januar 2016, dass Personen, die wie der Antragsteller einen Folgeantrag stellen müssten, völlig rechtlos seien.

2. Das [X.] und das [X.] hatten Gelegenheit zur Stellungnahme. Die Akten des Ausgangsverfahrens und des Asylverfahrens haben dem [X.] vorgelegen.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt. Die Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 [X.]G für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 19 Abs. 4 [X.] angezeigt. Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen hat das [X.] bereits geklärt. Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet.

Zwar liegt kein Entzug des gesetzlichen Richters gemäß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 [X.] durch Unterlassen einer Vorlage an den [X.] vor (1.). Der Beschluss des [X.] verletzt aber das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 [X.] (2.). Ob die weiteren geltend gemachten Grundrechtsverstöße vorliegen, bedarf keiner Entscheidung (3.).

1. Es liegt kein Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 [X.] vor. Eine Vorlagepflicht im Eilverfahren besteht nach der bisherigen Rechtsprechung des [X.] grundsätzlich nicht, so dass eine Nichtvorlage des im [X.] letztinstanzlich entscheidenden [X.] keinen Entzug des [X.] als gesetzlichen Richter darstellt.

Es entspricht der bisher ganz herrschenden Auffassung, dass eine Nichtvorlage an den [X.] im Eilverfahren keinen Verstoß gegen [X.] begründen kann (vgl. [X.], 196 <201>; [X.]K 9, 330 <334 f.>; [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 29. November 1991 - 2 BvR 1642/91 -, NVwZ 1992, [X.]; offen gelassen in [X.]K 10, 48 <53>; aus der Literatur statt vieler Degenhart, in [X.], [X.], 7. Aufl. 2014, Art. 101 Rn. 19). Dies folgt daraus, dass nach der Rechtsprechung des [X.] in Eilverfahren auch für das letztinstanzlich entscheidende Gericht keine Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV besteht (vgl. [X.], Urteil vom 24. Mai 1977 - [X.]/76 - [X.], juris, Rn. 5; Urteil vom 27. Oktober 1982 - [X.]/82 - [X.] und [X.], juris, Rn. 8 f.). Es ist ausreichend - allerdings auch erforderlich -, dass die Rechtsfrage im sich anschließenden Hauptsacheverfahren ohne Präjudiz durch die Eilentscheidung dem [X.] vorgelegt werden kann. Denn das [X.] soll insbesondere verhindern, dass sich in einem Mitgliedstaat eine nationale Rechtsprechung herausbildet, die mit den Normen des Unionsrechts nicht im Einklang steht.

Es kann dahin stehen, ob diese Rechtsprechung angesichts der Bedeutung des [X.]s für den Individualrechtsschutz (vgl. statt vieler [X.], in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, [X.], 7. Aufl. 2015, Art. 267 AEUV, Rn. 12) zukünftig der Modifizierung bedarf, falls durch eine Eilentscheidung nicht umkehrbare Fakten geschaffen werden könnten. Soweit im Rahmen eines dem Hauptsacheverfahren vorgeschalteten Eilverfahrens prozessuale Gestaltungen denkbar sind, die die Möglichkeit einer Klärung unionsrechtlicher Zweifelsfragen im Hauptsacheverfahren erhalten, stellt es jedenfalls keinen Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 [X.] dar, wenn eine Vorlage nicht schon im Eilverfahren an den [X.] gerichtet wird.

2. a) Die Entscheidung des [X.] verstößt jedoch gegen das Gebot effektiven Rechtsschutzes. Art. 19 Abs. 4 [X.] gewährt nicht nur das formelle Recht, die Gerichte anzurufen, sondern auch die Effektivität des Rechtsschutzes (vgl. [X.]E 93, 1 <13>; stRspr). Den Anforderungen an die Gewährung effektiven Rechtsschutzes müssen die Gerichte auch bei der Auslegung und Anwendung der Vorschriften über den verwaltungsgerichtlichen Eilrechtsschutz Rechnung tragen (vgl. [X.]E 79, 69 <74>), da dieser in besonderer Weise der Sicherung grundrechtlicher Freiheit dient. Dabei ist es von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden, wenn sich die vorzunehmende Interessenabwägung in erster Linie an der voraussichtlichen Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts orientiert (vgl. [X.]K 15, 102 <107>; zuletzt [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 14. September 2016 - 1 BvR 1335/13 -, juris). Kommt diese Prüfung bei einem von Gesetzes wegen sofort vollziehbaren Bescheid zu dem Ergebnis, dass an dessen Rechtmäßigkeit keine ernsthaften Zweifel bestehen oder dieser sogar offensichtlich rechtmäßig ist, kann der Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO - hier in Verbindung mit § 34a Abs. 2 [X.] - abgelehnt werden.

Stellt sich bei dieser Rechtsprüfung jedoch eine Frage, die im Hauptsacheverfahren voraussichtlich eine Vorlage des dann letztinstanzlich entscheidenden Gerichts an den [X.] erfordert, so lassen sich weder - ohne Weiteres - ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit verneinen, noch kann die offensichtliche Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts bejaht werden (vgl. zu ähnlichen Situationen [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 27. April 2005 - 1 BvR 223/05 -, juris; [X.]K 11, 153 <158 f.>; einfach-rechtlich auch [X.], Beschluss vom 9. Oktober 2012 - 11 S 1843/12 -, juris, Rn. 23). In diesen Fällen wird eine Antragsablehnung mit Blick auf Art. 19 Abs. 4 Satz 1 [X.] nur dann Bestand haben können, wenn dieser Umstand - über die notwendig nur vorläufige rechtliche Einschätzung des Gerichts hinausgehend - in die Abwägung des Bleibeinteresses des Antragstellers mit dem öffentlichen [X.] einbezogen wird.

Im Anwendungsbereich der [X.] ist dabei die Wertung des [X.] Rechts zu beachten, dass grundsätzlich in jedem Mitgliedstaat angemessene, durch das Unionsrecht vereinheitlichte Aufnahmebedingungen herrschen, die Mindeststandards festlegen (vgl. [X.], Urteil vom 7. Juni 2016 - [X.]/15 - [X.] -, juris, Rn. 60). Ein Überwiegen des [X.] wird bei einer unionsrechtlich nicht geklärten Rechtsfrage, die das Verwaltungsgericht im Eilverfahren vorläufig zu Lasten des Asylbewerbers entscheidet, deshalb nur dann zu bejahen sein, wenn besondere, in der Person des Asylbewerbers liegende Gründe die Rücküberstellung in einen anderen Mitgliedstaat mit der Folge, dass das Hauptsacheverfahren in [X.] von dort aus betrieben werden muss, unzumutbar erscheinen lassen.

b) Gemessen an diesen Maßstäben verletzt die Entscheidung des [X.] Art. 19 Abs. 4 Satz 1 [X.]. Die Entscheidung des [X.] beruht auf der Auffassung, ein Verstoß gegen Art. 5 [X.] sei nach § 46 VwVfG stets unbeachtlich. Diese Rechtsmeinung ist weder durch die [X.]-Rechtsprechung im Sinne einer Übereinstimmung mit dem Unionsrecht geklärt, noch handelt es sich um einen acte clair oder um einen acte [X.]. [X.] spricht nach den den Drittschutz von Bestimmungen der [X.] stärkenden Entscheidungen des [X.] vom 7. Juni 2016 ([X.]/15 - [X.] -, juris, Rn. 34 ff. und [X.]/15 - [X.] -, juris, Rn. 19 ff.) vielmehr manches dafür, dass das erstmals in der [X.] eingeführte obligatorische persönliche Gespräch mit dem Asylbewerber für die Frage der Rechtmäßigkeit des Bescheids beachtlich ist. Denn in einem solchen Gespräch können sowohl die Voraussetzungen für vorrangige Zuständigkeitsgründe nach Art. 8 ff. [X.] als auch für eine Ausübung des Selbsteintrittsrecht nach Art. 17 [X.] geklärt werden (vgl. Erwägungsgrund 17 und 18 der [X.]). Es greift zu kurz, wenn das Verwaltungsgericht auf die allgemeine Anwendbarkeit des nationalen Verfahrensrechts einschließlich des § 46 VwVfG beim nationalen Vollzug von Unionsrecht hinweist. Dies beantwortet gerade nicht die hier interessierende Frage, inwieweit Art. 5 [X.] mit der in Absatz 2 enthaltenen Normierung von Fallgruppen, in denen von dem Gespräch abgesehen werden darf, eine spezielle und insoweit abschließende Regelung des Verfahrens darstellt. Die Auffassung des [X.], die in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung umstritten ist (vgl. etwa abweichend und auf die europarechtliche Klärungsbedürftigkeit hinweisend [X.] ), Beschluss vom 22. September 2016 - [X.]/16.A -, juris, Rn. 31; [X.], Beschluss vom 21. Oktober 2016 - 1 L 397/16.A -, juris, Rn. 15), läuft deshalb Gefahr, die praktische Wirksamkeit von Art. 5 [X.] in Frage zu stellen. Es ist im Übrigen gerade im vorliegenden Fall nicht ausgeschlossen, dass nach einem Gespräch mit dem Beschwerdeführer, in dem dieser seine schwer behandelbare Krankheit geschildert hätte, das [X.] von dem Selbsteintrittsrecht Gebrauch gemacht hätte. Unabhängig von der Frage, ob dem Flüchtling insoweit ein Recht auf ermessensfehlerfreie Entscheidung zusteht, dürfte dann jedenfalls für die Anwendung des § 46 VwVfG kein Raum mehr bestehen.

Stand mithin (zumindest) eine ungeklärte unionsrechtliche Rechtsfrage im Raum, bei der im Hauptsacheverfahren eine Vorlage an den [X.] nahelag, hätte sich das Verwaltungsgericht nicht mit einer summarischen Prüfung der Erfolgsaussichten zufrieden geben dürfen, sondern hätte darüber hinaus eine Interessenabwägung unter besonderer Berücksichtigung der Situation des Beschwerdeführers bei einer Abschiebung nach [X.] durchführen müssen. In die Abwägung wäre unter anderem einzustellen gewesen, dass der Beschwerdeführer einen durch Unverträglichkeitsreaktionen komplizierten Krankheitsverlauf vorgetragen hat und die medizinische Versorgung von Flüchtlingen in [X.], auch wenn sie nach Auffassung des [X.] noch nicht den Schluss auf systemische Mängel zulässt, für schwerwiegend erkrankte Flüchtlinge erhebliche Lücken aufweist. Ob es dem Beschwerdeführer vor diesem Hintergrund zumutbar war, das Hauptsacheverfahren aus [X.] und dort nach den Feststellungen des [X.] gegebenenfalls aus der Obdachlosigkeit oder Haft heraus weiter zu betreiben, hätte genauerer Begründung bedurft.

Vor diesem Hintergrund kann offen bleiben, ob auch die weitere Frage, wann der Asylantrag europarechtlich als gestellt gilt und wann deshalb die Frist für die Stellung des Aufnahmegesuchs gemäß Art. 21 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 2 Satz 1 [X.] oder des Wiederaufnahmegesuchs gemäß Art. 23 Abs. 2 [X.] in Verbindung mit Art. 9 der [X.] zu laufen beginnt, klärungsbedürftig im Sinne des Art. 267 AEUV ist. Das Verwaltungsgericht hat einen entscheidungsrelevanten Fristablauf mit einem Satz verneint, ohne zu erkennen zu geben, ob es von einem Aufnahme- oder einem Wiederaufnahmefall ausgeht und warum die Frist nicht abgelaufen ist. Die Auffassungen in der [X.]barkeit zu dem Beginn der Frist für die Stellung des Aufnahme- und Wiederaufnahmegesuchs des ersuchenden an den ersuchten Mitgliedstaat sind geteilt (vgl. [X.], Beschluss vom 16. August 2016 - 20 L 1609/16.A -, juris einerseits und [X.], Beschluss vom 24. August 2016 - 1 L 1299/16.A -, juris andererseits). Für einen Fristbeginn schon mit dem Vorliegen eines Asylantrags im Sinne des § 13 Abs. 1 [X.] und nicht erst mit der den Anforderungen des § 14 [X.] genügenden Antragstellung könnte jedoch das Ziel der [X.] sprechen, eine möglichst schnelle, an enge Fristen gebundene Klärung des zuständigen Mitgliedstaats zu erreichen (vgl. Erwägungsgrund 5 der [X.]).

3. Hat die Verfassungsbeschwerde schon wegen des Verstoßes gegen Art. 19 Abs. 4 Satz 1 [X.] Erfolg, bedarf es keiner Entscheidung, ob die Nichtübertragung des Verfahrens auf die Kammer nach § 76 Abs. 4 Satz 2 [X.] einen Verstoß gegen die Gewährleistung des gesetzlichen Richters begründet. Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass es mit Art. 101 Abs. 1 Satz 2 [X.] nicht vereinbar sein dürfte, wenn ein Einzelrichter der Kammer von der Rechtsprechung eines anderen Kammermitglieds zu einer grundsätzlich klärungsfähigen Rechtsfrage entscheidungserheblich abweicht, anstatt die Frage auf die Kammer zu übertragen. Die Pflicht zur Rückübertragung auf die Kammer gemäß § 76 Abs. 4 Satz 2 [X.] wird dann in nicht mehr vertretbarer Weise gehandhabt.

Ebenso wenig bedarf es einer Entscheidung, ob die pauschale Annahme, Tuberkulose sei in Osteuropa weit verbreitet und mithin behandelbar, angesichts des schweren Krankheitsverlaufs bei dem Beschwerdeführer und der vom Verwaltungsgericht selbst angenommenen schwierigen Erreichbarkeit von medizinischer Behandlung in [X.] den Anforderungen aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 [X.] in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 [X.] genügte.

Das [X.] hat dem Beschwerdeführer gemäß § 34a Abs. 2 [X.]G die notwendigen Auslagen zu erstatten. Damit erledigt sich der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe. Die Festsetzung des Werts des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 RVG (vgl. dazu auch [X.]E 79, 365 <366 ff.>).

Meta

2 BvR 2013/16

17.01.2017

Bundesverfassungsgericht 2. Senat 1. Kammer

Stattgebender Kammerbeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend VG Frankfurt (Oder), 25. August 2016, Az: VG 2 L 170/16.A, Beschluss

Art 19 Abs 4 S 1 GG, Art 101 Abs 1 S 2 GG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, Art 267 Abs 3 AEUV, Art 5 EUV 603/2013, Art 18 Abs 1 Buchst b EUV 603/2013, Art 20 Abs 5 EUV 603/2013, § 37 Abs 2 S 2 RVG, § 80 Abs 7 S 1 VwGO, § 46 VwVfG

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 17.01.2017, Az. 2 BvR 2013/16 (REWIS RS 2017, 17264)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2017, 17264

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