Bundesgerichtshof, Beschluss vom 20.09.2011, Az. VI ZR 5/11

6. Zivilsenat | REWIS RS 2011, 3224

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Gegenstand

Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung: Einführung von neuem entscheidungserheblichem Prozessstoff nach Einräumung eines Schriftsatzrechts zur Stellungnahme zu einem erst in der mündlichen Verhandlung erteilten Hinweis


Leitsatz

Räumt das Gericht einer Partei ein Schriftsatzrecht zur Stellungnahme zu einem erst in der mündlichen Verhandlung erteilten Hinweis ein und wird in einem daraufhin eingegangenen Schriftsatz neuer entscheidungserheblicher Prozessstoff eingeführt, so muss das Gericht die mündliche Verhandlung wiedereröffnen oder in das schriftliche Verfahren übergehen, um dem Gegner rechtliches Gehör zu gewähren .

Tenor

Auf die Nichtzulassungsbeschwerde des [X.] wird das Urteil des 1. Zivilsenats des [X.] vom 1. Dezember 2010 aufgehoben.

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Verfahrens der Nichtzulassungsbeschwerde, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Gegenstandswert: 22.500 €

Gründe

I.

1

Der Kläger nimmt die Beklagte wegen fehlerhafter ärztlicher Behandlung auf Ersatz materiellen und immateriellen Schadens in Anspruch. Der Kläger wurde am 30. August 2006 in der von der Beklagten betriebenen Klinik wegen eines Plattenepithelkarzinoms im Mundraum einem über 14 Stunden dauernden operativen Eingriff unterzogen. Die [X.] gliederte sich in verschiedene Abschnitte, über die jeweils gesonderte [X.]sberichte und [X.]sprotokolle erstellt wurden. Während der ersten 37 Minuten der [X.] wurde eine Tracheotomie vorgenommen. Nach der [X.] wurden beim Kläger [X.] am Rücken, Kopf, Gesäß und rückseitigen Oberschenkel festgestellt. Der Kläger führt diese Veränderungen auf von der Beklagten zu verantwortende Fehler bei der Lagerung im Rahmen der [X.] zurück. Das [X.] hat die Klage abgewiesen. Das [X.] hat die Berufung des [X.] zurückgewiesen. Die Revision hat es nicht zugelassen. Hiergegen wendet sich der Kläger mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde.

II.

2

Die Nichtzulassungsbeschwerde hat Erfolg und führt gemäß § 544 Abs. 7 ZPO zur Aufhebung des angegriffenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht. Das Berufungsgericht hat den Anspruch des [X.] auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG in entscheidungserheblicher Weise verletzt.

3

1. Unter entscheidungserheblichem Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG ist das Berufungsgericht zu der Annahme gelangt, der Kläger sei ordnungs-gemäß auf dem [X.]stisch gelagert worden. Die Nichtzulassungsbeschwerde rügt mit Erfolg, dass das Berufungsgericht seiner Überzeugungsbildung die erst mit nachgelassenem Schriftsatz vom 8. November 2010 und [X.] nach Schluss der mündlichen Verhandlung vorgelegten [X.]sprotokolle über die [X.], die Tumorresektion und den mikrochirurgischen Gewebetransfer sowie den [X.] zugrunde gelegt hat, ohne zuvor die Verhandlung wieder zu eröffnen, um dem Kläger Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben und über das Beweisergebnis zu verhandeln (§ 285 ZPO).

4

a) Das Berufungsgericht hat seine Überzeugung von einer ordnungsgemäßen Lagerung des [X.] auf dem [X.]stisch auf die Angaben des Zeugen [X.]und die von der Beklagten mit Schriftsatz vom 8. November 2010 vorgelegten Urkunden ([X.]sprotokolle und [X.]) gestützt. Der Zeuge [X.]hatte angegeben, dass er für den operativen Eingriff eingeteilt und u.a. für die Instrumente und für Verbrauchsmaterial zuständig gewesen sei. Er habe Frühdienst gehabt, so dass er vom Beginn der [X.] bis etwa 15.30 Uhr dabei gewesen sei. An die konkrete Art und Weise, wie der Kläger gelagert worden sei, habe er keine Erinnerung. Er könne nur dazu etwas sagen, wie in solchen Fällen standardgemäß verfahren werde. Nachdem der Kläger ausgeführt hatte, dass der Zeuge [X.]ausweislich der [X.]sberichte lediglich dem letzten Teil der [X.] - dem mikrochirurgischen Gewebetransfer - beigewohnt habe, hat das Berufungsgericht die Beklagte in der mündlichen Verhandlung vom 20. Oktober 2010 auf Widersprüche zwischen dem vorgelegten [X.]sprotokoll über die Tracheotomie, wonach der Zeuge [X.]zugegen gewesen sei, und den vier [X.]sberichten, wonach der Zeuge [X.]lediglich während des letzten Teils der [X.] anwesend gewesen sei, hingewiesen. Mit nachgelassenem Schriftsatz vom 8. November 2010 hat die Beklagte daraufhin ergänzend vorgetragen und erstmals auch die [X.]sprotokolle über die [X.], die Tumorresektion und den mikrochirurgischen Gewebetransfer sowie einen Ausdruck der Arbeitszeiterfassung vorgelegt. Ohne die Verhandlung wiederzueröffnen und ohne dem Kläger Gelegenheit zur Erwiderung zu geben, hat das Berufungsgericht seine Überzeugung von einer ordnungsgemäßen Lagerung des [X.] auf dem [X.]stisch u.a. auf die nach Schluss der mündlichen Verhandlung vorgelegten Urkunden gestützt und die Klage abgewiesen.

5

b) Hierdurch hat es den Anspruch des [X.] auf rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher Weise verletzt. Art. 103 Abs. 1 GG gibt dem an einem gerichtlichen Verfahren Beteiligten das Recht, sich zu dem einer gerichtlichen Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt und zur Rechtslage zu äußern. Das Gericht darf nur solche Tatsachen und Beweise verwerten, zu denen die Beteiligten Stellung nehmen konnten ([X.] NJW 1994, 1210). Räumt das Gericht einer Partei ein Schriftsatzrecht zur Stellungnahme zu einem erst in der mündlichen Verhandlung erteilten Hinweis ein und wird in einem daraufhin eingegangenen Schriftsatz neuer entscheidungserheblicher Prozessstoff eingeführt, so muss das Gericht die mündliche Verhandlung wiedereröffnen oder in das schriftliche Verfahren übergehen, um dem Gegner rechtliches Gehör zu gewähren (vgl. Musielak/[X.], ZPO, 8. Aufl., § 156 Rn. 4; [X.]/[X.], ZPO, 28. Aufl., § 296a Rn. 4). Dies gilt umso mehr, wenn - wie im vorliegenden Fall - im nachgelassenen Schriftsatz präsente Beweismittel vorgelegt werden, die gemäß § 285 Abs. 1 ZPO zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung zu machen sind (vgl. Senatsbeschluss vom 20. Dezember 2005 - [X.], [X.] 2006, 529).

6

2. Die Gehörsverletzung ist auch entscheidungserheblich. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht den Beweis für eine ordnungsgemäße Lagerung des [X.] auf dem [X.]stisch nicht als geführt angesehen hätte, wenn es die mündliche Verhandlung wiedereröffnet und dem Kläger Gelegenheit zur Erwiderung gegeben hätte.

7

3. Bei der neuen Verhandlung wird das Berufungsgericht Gelegenheit haben, sich auch mit den weiteren Einwänden der Nichtzulassungsbeschwerde zu befassen. Für das weitere Verfahren weist der erkennende Senat darauf hin, dass die [X.] bei Auftreten operationsbedingter Lagerungsschäden wie im Streitfall die Beweislast nicht nur für die technisch richtige Lagerung des Patienten auf dem [X.]stisch und die Beachtung der dabei zum Schutz des Patienten vor etwaigen Lagerungsschäden einzuhaltenden ärztlichen Regeln, sondern auch dafür trägt, dass die richtige Lagerung vor und während der [X.] in standardgemäßem Umfang kontrolliert worden ist (vgl. Senatsurteile vom 24. Januar 1984 - [X.], [X.], 386; vom 24. Januar 1995 - [X.], [X.], 539; [X.], [X.], 695 mit NA-Beschluss des Senats vom 20. November 1990; [X.], [X.], 1194 mit NA-Beschluss des Senats vom 11. Juli 1995).

Galke                             Wellner                             Pauge

                 [X.]                              von [X.]

Meta

VI ZR 5/11

20.09.2011

Bundesgerichtshof 6. Zivilsenat

Beschluss

Sachgebiet: ZR

vorgehend Saarländisches Oberlandesgericht Saarbrücken, 1. Dezember 2010, Az: 1 U 166/09 - 38, Urteil

§ 156 ZPO, § 296a ZPO, Art 103 Abs 1 GG

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 20.09.2011, Az. VI ZR 5/11 (REWIS RS 2011, 3224)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 3224

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Referenzen
Wird zitiert von

IV ZR 68/22

III ZR 184/22

VIII ZR 377/18

VI ZR 529/16

VI ZR 5/11

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