Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 30.11.2010, Az. VI ZR 25/09

VI. Zivilsenat | REWIS RS 2010, 971

© REWIS UG (haftungsbeschränkt)

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Entscheidungstext


Formatierung

Dieses Urteil liegt noch nicht ordentlich formatiert vor. Bitte nutzen Sie das PDF für eine ordentliche Formatierung.

PDF anzeigen

BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS [X.]/09 vom 30. November 2010 in dem Rechtsstreit Nachschlagewerk: ja [X.]: nein [X.]R: [X.] §§ 156, 286 A Gibt der medizinische Sachverständige in seinen mündlichen Ausführungen neue und ausführlichere Beurteilungen gegenüber dem bisherigen Gutachten ab, so ist den Parteien unter dem Blickpunkt des rechtlichen Gehörs Gelegen-heit zu geben, hierzu Stellung zu nehmen. Dabei sind auch Ausführungen in einem nicht nachgelassenen Schriftsatz zur Kenntnis zu nehmen und die [X.] Verhandlung wiederzueröffnen, sofern die Ausführungen Anlass zu weite-rer tatsächlicher Aufklärung geben. [X.], Beschluss vom 30. November 2010 - [X.]/09 - O[X.]

[X.] - 2 - Der [X.]. Zivilsenat des [X.] hat am 30. November 2010 durch den Vorsitzenden [X.], [X.], Pauge, [X.] und die Richterin von [X.]
beschlossen: Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der [X.] zu 1 wird das Grund- und Teilurteil des 1. Zivilsenats des [X.] vom 18. Dezember 2008 aufgehoben. Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Verfahrens der Nichtzulassungsbeschwerde mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der [X.] zu 2, die diese zu tragen hat, an das Berufungsgericht zurückverwiesen. Gegenstandswert: 259.645,94 • Gründe: Die Nichtzulassungsbeschwerde der [X.] zu 1 hat Erfolg und führt gemäß § 544 Abs. 7 ZPO zur Aufhebung des angegriffenen Urteils und zur Zu-rückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht. Das Berufungsge-richt hat den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG in entscheidungserheblicher Weise verletzt. 1 - 3 - 2 1. Unter entscheidungserheblichem Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG ist das Berufungsgericht zu der Annahme gelangt, die Mutter der Klägerin sei grob fehlerhaft in [X.] operiert worden. a) Die Nichtzulassungsbeschwerde rügt mit Erfolg, dass das Berufungs-gericht die Ausführungen der [X.] zu 1 im Schriftsatz vom 8. Dezember 2008 nicht in der gebotenen Weise berücksichtigt und rechtsfehlerhaft von einer Klärung der Frage abgesehen hat, ob die Mutter der Klägerin vor Durchführung der Notsectio, wie die [X.] zu 1 geltend macht, umgelagert worden ist. Die Nichtzulassungsbeschwerde weist mit Recht darauf hin, dass bis zur letzten mündlichen Verhandlung des sich über mehr als fünf Jahre erstreckenden Rechtsstreits, in dem fünf Sachverständige angehört und acht Zeugen ver-nommen worden sind, von einer fehlerhaften Lagerung der Mutter der Klägerin während der Durchführung der Notsectio nie die Rede war. Weder der [X.] noch die Schlichtungsgutachter Prof. [X.] und [X.] noch der Privatsachverständige Prof. [X.] haben aus der vorliegenden Doku-mentation auf eine fehlerhafte [X.] in [X.] geschlossen. Auch der gerichtliche Sachverständige Prof. [X.] ist anhand der vorliegenden Doku-mentation noch in seinem schriftlichen Gutachten vom 26. Januar 2007 von einer Umlagerung zur notfallmäßigen [X.] ausgegangen. 3 Erst in der letzten mündlichen Verhandlung vom 30. Oktober 2008, die sich über fast vier Stunden erstreckte und in der zwei Sachverständige zu [X.] - teilweise noch in a) und b) aufgespalteten - [X.] angehört wurden, brachte der gerichtliche Sachverständige Prof. [X.] erstmals einen Lage-rungsfehler ins Spiel. Wollte das Berufungsgericht seine Entscheidung auf die-sen neuen Gesichtspunkt stützen, dann durfte es nicht, wie geschehen, diese Ausführungen ohne weiteres als bewiesen ansehen. Vielmehr hätte es, wie die Nichtzulassungsbeschwerde mit Recht rügt, die [X.] zu 1 nach § 139 ZPO 4 - 4 - auf diesen neuen Gesichtspunkt hinweisen und ihr Gelegenheit zur Stellung-nahme und Ergänzung ihres tatsächlichen Vorbringens einschließlich der Be-zeichnung von Beweismitteln geben müssen (vgl. Senatsurteil vom 29. [X.] - [X.] ZR 4/88, [X.] 6180/31). Es hätte jedenfalls die mündliche Verhandlung wiedereröffnen müssen, nachdem die [X.] zu 1 im nachgereichten Schriftsatz vom 8. Dezember 2008 die vom Sachverständigen seiner Bewertung zugrunde gelegte Lagerung der Kindsmutter ([X.]) bestritten und unter Berufung auf [X.] behauptet hatte, sie sei während der [X.] umgelagert worden. Denn nach der gefestigten Rechtsprechung des Senats ist unter dem Blick-punkt des rechtlichen Gehörs auch der [X.] Gelegenheit zu ge-ben, nochmals Stellung zu nehmen, wenn der medizinische Sachverständige in seinen mündlichen Ausführungen neue und ausführlichere Beurteilungen ge-genüber dem bisherigen Gutachten abgegeben hat (vgl. Senatsurteil vom 13. Februar 2001 - [X.] ZR 272/99, [X.], 722, 723 m.w.N.). Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts durfte dieses nicht deshalb von einer Wie-dereröffnung der mündlichen Verhandlung absehen, weil die [X.] zu 1 ihre entsprechende Behauptung nur spekulativ ins Blaue hinein aufgestellt und mit unzureichendem Beweisantritt "NN" versehen hatte. Wie die Nichtzulassungs-beschwerde mit Recht beanstandet, hatte die [X.] zu 1 eine Umlagerung der Mutter der Klägerin konkret behauptet und nicht nur spekulativ in den Raum gestellt. Die Annahme einer willkürlich ins Blaue hinein aufgestellten Behaup-tung verbietet sich aber auch deshalb, weil der gerichtliche Sachverständige selbst - anders als in der letzten mündlichen Verhandlung - noch in seinem schriftlichen Gutachten vom 26. Januar 2007 von einer Umlagerung der Mutter der Klägerin zur Durchführung der Sectio ausgegangen ist. Diesen Widerspruch in den Ausführungen des Sachverständigen hätte das Berufungsgericht von Amts wegen erkennen und schon bei der Würdigung des Vortrags der [X.] - 5 - ten zu 1 berücksichtigen müssen. Dies gilt umso mehr, als die von der [X.] zu 1 behauptete Umlagerung zur Durchführung der Sectio im [X.]sbe-richt vom 28. Juni 1995 ausdrücklich dokumentiert und in einem Kurzbericht der [X.] zu 1 an einen niedergelassenen Arzt vom 29. Juni 1995 erwähnt ist. Auch diesen Umstand hätte das Berufungsgericht, das aus der vermeintlich unvollständigen ärztlichen Dokumentation Beweiserleichterungen für die Kläge-rin abgeleitet hat, von Amts wegen berücksichtigen müssen. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts hatte die [X.] zu 1 die von ihr benannten Zeugen unter den Umständen des [X.] auch hin-reichend individualisiert. Denn sie hatte sich im Rahmen ihres Beweisangebots nicht auf die Bezeichnung "N.N." beschränkt, sondern sich auf die bei der [X.] anwesenden Anästhesisten und Gynäkologen berufen. Von diesem [X.] waren zumindest die vom Berufungsgericht in der mündlichen [X.] vom 14. Februar 2006 zu den Vorgängen anlässlich der Geburt der Klägerin vernommenen Gynäkologen Fr.

, [X.], [X.]

sowie die Anäs-thesistin S. erfasst. Jedenfalls waren diese Zeugen individualisierbar, so dass das Berufungsgericht gemäß § 356 ZPO eine Frist zur Beibringung der Namen und Anschriften der Zeugen hätte setzen müssen und erst nach einem fruchtlosen Ablauf dieser Frist von einer Erhebung des Beweises hätte absehen dürfen (vgl. Senatsurteil vom 5. Mai 1998 - [X.] ZR 24/97, NJW 1998, 2368 f. m.w.N.). 6 b) Die Gehörsverletzung ist auch entscheidungserheblich. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht bei der gebotenen Berück-sichtigung des Vorbringens der [X.] zu 1 im Schriftsatz vom 8. Dezember 2008 die Lagerung der Mutter der Klägerin während der [X.] nicht als [X.] angesehen hätte. 7 - 6 - 8 2. Unter entscheidungserheblichem Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG ist das Berufungsgericht auch zu der Ansicht gelangt, die Ärzte der [X.] zu 1 hätten bei der Abnabelung der Klägerin grob fehlerhaft deren Nabelschnur verletzt. a) Die Nichtzulassungsbeschwerde rügt mit Erfolg, dass das Berufungs-gericht bei seiner Entscheidungsfindung die für die [X.] zu 1 günstigen An-gaben der vom Berufungsgericht angehörten Sachverständigen Prof. J. (ge-richtlicher Sachverständige), [X.] (Schlichtungsgutachter) und Prof. [X.] ([X.]) sowie die für die [X.] zu 1 günstigen Aussagen der [X.], [X.].

und Dr. Fr. übergangen und in keiner Weise auf die Aufklärung des zwischen den Angaben der Sachverständigen Prof. J., V. und [X.] und den Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen Prof. [X.] Widerspruchs hinsichtlich der Frage hingewirkt hat, ob die fehlerhafte Handhabung der Nabelklemme als grob fehlerhaft zu bewerten ist. Der [X.] Prof. [X.] gab im Rahmen seiner Anhörung vor dem Berufungs-gericht am 28. April 2005 an, dass eine Verletzung der Nabelschnur bei der [X.] passieren könne; dies sei kein Indiz für eine Sorgfaltspflichtverlet-zung. Der Schlichtungsgutachter [X.] hat sich dieser Beurteilung ausdrück-lich angeschlossen. Auch der erste gerichtliche Sachverständige Prof. J. führte in seinem schriftlichen Gutachten vom 28. Januar 2003 aus, dass eine Verlet-zung der Nabelschnur beim Aufsetzen der [X.] nicht in jedem Fall vermeidbar sei. Es könne auch vorkommen, dass die [X.], ohne dass dem ein grober Sorgfaltspflichtverstoß zugrunde liege, nicht bis zum Ein-rasten zusammengedrückt würden. Von dieser Beurteilung ist er in der mündli-chen Verhandlung vom 28. April 2005 nicht abgerückt. Auch die sachverständi-gen [X.] , der als Neonatologe mit der Erstversorgung der Klä-gerin befasst war, und [X.]. , der die Klägerin abgenabelt hat, gaben an, dass es durchaus vorkomme, dass [X.] nicht erfolgreich gesetzt 9 - 7 - würden. So bekundete der Zeuge [X.] , dass Kinderärzte sich oft mit den [X.] zu befassen und auch erneut [X.] zu setzen [X.]. Deshalb wisse er, dass es durchaus schwierig sei, eine solche Nabelklem-me bis zum Klicken anzubringen. Nicht selten geschehe es, dass man das im letzten Augenblick nicht schaffe. Der Zeuge [X.]. gab an, dass auch er schon einmal beim Setzen einer Nabelklemme zunächst gescheitert sei. Der nach Platzen der Fruchtblase zur Sectio hinzugezogene Chefarzt [X.] gab an, dass die Nabelschnur beim Setzen der Klemme "sehr glibberig" sei und verrut-schen könne. Diese Angaben der genannten Sachverständigen und sachver-ständigen Zeugen durfte das Berufungsgericht bei seiner Entscheidungsfindung nicht außer Betracht lassen. Sie standen in klarem Widerspruch zu den Ausfüh-rungen des gerichtlichen Sachverständigen Prof. [X.], wonach eine Verletzung der Nabelschnur ein extrem seltenes Ereignis sei, das nur durch ein grob [X.]es Handeln verursacht werden könne. Das Berufungsgericht hat sowohl den allgemeinen Grundsatz übersehen, dass sich eine Partei die bei einer Be-weisaufnahme zutage tretenden, ihr günstigen Umstände regelmäßig zumin-dest hilfsweise zu Eigen macht (vgl. Senatsurteile vom 8. Januar 1991 - [X.] ZR 102/90, [X.], 467, 468 und vom 3. April 2001 - [X.] ZR 203/00, [X.], 1174; Senatsbeschluss vom 10. November 2009 - [X.] ZR 325/08, [X.], 497), als auch gegen seine Verpflichtung verstoßen, den ihm zur Ent-scheidung unterbreiteten Sachverhalt auszuschöpfen und sämtlichen [X.], Zweifeln oder Widersprüchen von Amts wegen nachzugehen (vgl. Senats-urteile vom 23. März 2004 - [X.] ZR 428/02, [X.], 790; vom 8. Juli 2008 - [X.]9/06, [X.], 1265, jeweils m.w.N.). Dem steht nicht entgegen, dass der Privatsachverständige Prof. [X.] und der Schlichtungsgutachter [X.] es als in besonders schwerem Maße sorgfaltswidrig angesehen haben, wenn Geburtshelfer eine Blutung aus der Nabelschnur nicht bemerken. Denn hierauf hat das Berufungsgericht seine Entscheidung nicht gestützt. Abgesehen davon - 8 - hat der gerichtliche Sachverständige Prof. [X.] diese Einschätzung nicht geteilt. Er hat es für verständlich gehalten, wenn ein Geburtshelfer die durch eine Na-belklemmenverletzung verursachte Blutung nicht bemerke, da es hier um [X.] gehe. Soweit das Berufungsgericht ausführt, es habe sich anhand der von dem Zeugen [X.] mitgebrachten Nabelschnurklemme von der einfachen Funkti-onsweise überzeugen können, eine fehlerhafte Bedienung erfordere schon ein außergewöhnliches Maß an Unaufmerksamkeit oder motorischer Fehlhandha-bung, nimmt es in unzulässiger Weise eine Sachkunde in Anspruch, die es nicht ausgewiesen hat und für die es keine Anhaltspunkte gibt. Das Betätigen einer Nabelschnurklemme im Rahmen einer "Trockenübung" im Gerichtssaal kann nicht mit der Abnabelung eines möglichst schnell in die Behandlung eines Neonatologen zu überführenden Frühgeborenen im [X.]ssaal gleichge-setzt werden. 10 b) Die Gehörsverletzung ist auch entscheidungserheblich. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht bei der gebotenen Berück-
11 - 9 - sichtigung des [X.] das Verhalten der für die [X.] zu 1 han-delnden Ärzte nicht als grob fehlerhaft angesehen hätte. Galke [X.] Pauge [X.] von [X.] Vorinstanzen: [X.], Entscheidung vom 11.12.2003 - 4 O 371/02 - O[X.], Entscheidung vom 18.12.2008 - 1 U 1/04 -

Meta

VI ZR 25/09

30.11.2010

Bundesgerichtshof VI. Zivilsenat

Sachgebiet: ZR

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 30.11.2010, Az. VI ZR 25/09 (REWIS RS 2010, 971)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2010, 971

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

VI ZR 25/09 (Bundesgerichtshof)

Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung im Arzthaftungsprozess: Nicht nachgelassener Schriftsatz nach neuen und ausführlicheren Beurteilungen des …


VI ZR 382/12 (Bundesgerichtshof)

Krankenhaushaftung wegen Geburtsschäden: Beweiswert von Leitlinien ärztlicher Fachgremien oder Verbände für die Bestimmung des medizinischen …


VI ZR 382/12 (Bundesgerichtshof)


VI ZR 332/14 (Bundesgerichtshof)

Berufung im Arzthaftungsprozess: Pflicht des Tatrichters zu Klärung von Widersprüchen von Amts wegen; Einwand des …


VI ZR 250/07 (Bundesgerichtshof)


Referenzen
Wird zitiert von

Keine Referenz gefunden.

Zitiert

VI ZR 25/09

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.