Bundessozialgericht, Urteil vom 24.06.2021, Az. B 7 AY 3/20 R

7. Senat | REWIS RS 2021, 4658

© Bundessozialgericht, Dirk Felmeden

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Asylbewerberleistungen - Analogleistungen - Nichterfüllung der Vorbezugszeit - Ausnahme bei Ausübung der elterlichen Sorge über ein Kind mit deutscher Staatsangehörigkeit - Leistungszeiträume vor dem 1.1.2011


Leitsatz

Für Zeiträume vor dem 1.1.2011 kommt ein Absehen von der Vorbezugszeit als Voraussetzung für die Bewilligung von Analogleistungen im Wege einer telelogischen Reduktion nicht in Betracht.

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des [X.] vom 7. Mai 2020 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Tatbestand

1

Zwischen den Beteiligten steht die Gewährung höherer Leistungen nach dem [X.] ([X.]) für die [X.] von Januar 2007 bis März 2007 sowie für Oktober 2007 und November 2007 im Streit.

2

Die 1980 geborene Klägerin ist [X.] Staatsangehörige. Sie reiste 2004 mit ihrer 2003 geborenen Tochter in das [X.] ein und beantragte Asyl. Die Klägerin erhielt eine Aufenthaltsgestattung bis zum 17.4.2007 und bezog ab November 2004 von der Beklagten Grundleistungen nach § 3 [X.]. Über Einkommen und Vermögen verfügte sie zunächst nicht. Den Asylantrag lehnte das [X.] ([X.]) mit Bescheid vom [X.] ab. [X.] nach § 60 Abs 2 bis 7 [X.] ([X.]) wurden nicht festgestellt. Die dagegen am 31.1.2005 vor dem Verwaltungsgericht (VG) [X.] erhobene Klage nahm die Klägerin zurück. Der Ablehnungsbescheid erlangte am 16.3.2007 Bestandskraft.

3

2006 brachte die Klägerin ihren [X.] zur Welt. Das Kind hat nach seinem Vater die [X.] Staatsbürgerschaft inne, der getrennt von der Klägerin wohnte und zur damaligen [X.] Leistungen nach dem [X.] - ([X.]) bezog. Der [X.] erhielt von der Beklagten Leistungen nach dem [X.] - ([X.]), da er bei seiner Mutter lebte. Am [X.] erteilte die Beklagte der Klägerin eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs 5 [X.].

4

Durch Bescheid vom 21.12.2006 bewilligte die Beklagte der Klägerin Grundleistungen nach dem [X.] ab Januar 2007, der Widerspruch gerichtet auf höhere Leistungen auf Grundlage von § 2 [X.] (sog [X.]) blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 23.7.2007). In den Monaten Januar 2007 bis März 2007 wurden der Klägerin Leistungen iHv jeweils 322,11 [X.] ausgezahlt, wovon 201,96 [X.] auf sie und 120,15 [X.] auf ihre Tochter entfielen. Nach Aufnahme einer Beschäftigung als Reinigungskraft bewilligte die Beklagte der Klägerin und ihrer Tochter erneut Grundleistungen nach dem [X.] für Oktober 2007 (Bescheid vom 19.9.2007) sowie für November 2007 iHv 224,97 [X.] (Bescheid vom 12.10.2007) und einem Unterkunftskostenanteil iHv 122,31 [X.] unter ratenweiser Einbehaltung einer Restschuld von 50 [X.] und Anrechnung eines Erwerbseinkommens iHv 450 [X.] bzw 480 [X.], wobei zur Auszahlung unter Berücksichtigung des [X.] 9,78 [X.] bzw 0 [X.] kamen. Die hiergegen erhobenen Widersprüche blieben erfolglos (Widerspruchsbescheide vom [X.] und vom 18.2.2008). [X.] nach § 2 [X.] bewilligte die Beklagte der Klägerin ab November 2008 (Bescheid vom 12.11.2008).

5

Die Klagen gegen die drei Grundleistungsbescheide für den [X.]raum Januar 2007 bis März 2007 sowie Oktober 2007 und November 2007 hat das Sozialgericht (SG) [X.] nach Verbindung abgewiesen (Urteil vom [X.]). Das [X.] ([X.]) hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen (Urteil vom [X.]). Zwar stehe im Falle der Klägerin fest, dass sie die Vorbezugszeit von (zuletzt) 48 Monaten während der streitgegenständlichen [X.]räume Januar 2007 bis März 2007 sowie Oktober 2007 und November 2007 noch nicht erfüllt habe. Gegen dieses Ergebnis bestünden allerdings verfassungsrechtliche Bedenken; denn aufgrund der Geburt ihres [X.]es sei der Klägerin eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs 5 [X.] erteilt worden und sie sei bis zum Eintritt der Volljährigkeit des [X.]n Kindes berechtigt und verpflichtet, die elterliche Sorge im Inland auszuüben. Ihr Aufenthalt sei unter Berücksichtigung der tatsächlichen Umstände prognostisch als längerfristig anzusehen. Zwar habe das [X.] ([X.]) entschieden, dass Hilfebedürftige für Leistungszeiträume vor 2011 nicht deshalb höhere Leistungen erhielten, weil die gesetzlichen Vorschriften über die Höhe der Grundleistungen mit dem Grundgesetz (GG) unvereinbar gewesen seien, jedoch begehre die Klägerin Leistungen nach § 2 [X.], sodass die vom [X.] angesprochene Fallgestaltung von dem Ausschluss nicht erfasst werde. Ein Anspruch auf Grundlage von § 2 [X.] scheide im Ergebnis aber aus, weil die Klägerin ihre Bedürftigkeit nicht ununterbrochen bis zum [X.]punkt der Entscheidung der letzten Tatsacheninstanz nachgewiesen habe.

6

Hiergegen richtet sich die Revision der Klägerin. Sie vertritt die Auffassung, § 2 [X.] sei verfassungskonform dahin auszulegen, dass die Vorbezugszeit von Grundleistungen nach § 3 [X.] von 36 Monaten bzw 48 Monaten nicht heranzuziehen sei, sofern der Leistungsbezieher allein sorgeberechtigt für ein [X.]s minderjähriges Kind sei. Bei anderer Auslegung liege ein Verstoß gegen Art 6 Abs 4 GG vor. Für die Auffassung des [X.], eine Verurteilung scheitere daran, dass keine durchgehende Hilfebedürftigkeit bestanden habe, finde sich keine Grundlage.

7

Die Klägerin beantragt,
das Urteil des [X.] vom 7. Mai 2020 sowie das Urteil des Sozialgerichts [X.] vom 25. Februar 2014 aufzuheben und die Beklagte unter Änderung des Bescheids vom 21. Dezember 2006 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 23. Juli 2007, des Bescheids vom 19. September 2007 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 7. Januar 2008 und des Bescheids vom 12. Oktober 2007 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 18. Februar 2008 zu verurteilen, ihr höhere Leistungen für die [X.] von Januar 2007 bis März 2007, Oktober 2007 und November 2007 zu gewähren.

8

Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

9

Sie hält die angefochtene Entscheidung im Ergebnis für zutreffend.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision der Klägerin ist im Sinne der Aufhebung des [X.] und der Zurückverweisung der Sache an dieses Gericht begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz <[X.]>). Zwar hat das [X.] im Ergebnis zu Recht einen Anspruch auf [X.] für die streitgegenständlichen [X.]räume abgelehnt, es fehlen jedoch ausreichende tatsächliche Feststellungen (§ 163 [X.]) für eine abschließende Entscheidung darüber, ob der Klägerin höhere Grundleistungen nach § 3 [X.] zustehen.

Gegenstand des Verfahrens sind der Bescheid vom [X.] in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 23.7.2007, der Bescheid vom 19.9.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom [X.] sowie der Bescheid vom 12.10.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 18.2.2008 (§ 95 [X.]), die die Höhe der der Klägerin gewährten Leistungen für den [X.]raum Januar 2007 bis März 2007 sowie Oktober 2007 und November 2007 regeln. Dagegen wendet sich die Klägerin zulässigerweise mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 und 4, § 56 [X.]), gerichtet auf den Erlass eines Grundurteils auf höhere Leistungen (§ 130 Abs 1 Satz 1 [X.]). Es ist nicht erkennbar, dass für die streitgegenständlichen [X.]räume der behauptete Anspruch wenigstens in einer Mindesthöhe unwahrscheinlich sein könnte (BSG vom [X.] - juris Rd[X.]0). Die Klage umfasst dabei nach dem sog Meistbegünstigungsprinzip (vgl nur BSG vom 10.3.1994 - 7 [X.]/93 - [X.], 77, 81 ff = [X.] 3-4100 § 104 [X.] ff; [X.] in [X.]/[X.]/[X.]/[X.], [X.], 13. Aufl 2020, § 92 Rd[X.]2 und [X.] in [X.]/[X.]/[X.]/[X.], [X.], 13. Aufl 2020, § 123 Rd[X.], jeweils mwN) die Höhe der Leistungen unter jedem rechtlichen Gesichtspunkt (zum Höhenstreit im Rahmen des § 3 [X.] vgl BSG vom [X.]/9b [X.] - [X.], 49 = [X.] 4-3520 § 2 [X.]) ohne Bindung an die Anträge (§ 123 [X.]). Deshalb ist aufgrund des Klageantrags der Klägerin nicht allein darüber zu entscheiden, ob ihr höhere Leistungen in Form sog [X.] nach § 2 [X.] zustehen, sondern auch, ob die bewilligten Grundleistungen nach § 3 [X.] in zutreffender Höhe festgesetzt wurden (vgl bereits BSG vom [X.] [X.] R - [X.], 11 = [X.] 4-3520 § 7 [X.], Rd[X.]1).

Auch die Berufung war zulässig. Die auf eine Geldleistung gerichtete Klage hat den Wert des [X.] von 750 Euro überstiegen (§ 144 Abs 1 Satz 1 [X.] [X.]). Der Wert des [X.] iS von § 144 Abs 1 Satz 1 [X.] [X.] richtet sich danach, was das SG dem Rechtsmittelkläger versagt hat und was er davon mit seinen Berufungsanträgen weiter verfolgt. Bei einer Geldleistung ist daher der Wert des [X.] für das Berufungsverfahren nach dem Geldbetrag zu berechnen, um den unmittelbar gestritten wird (vgl etwa BSG vom 23.7.2015 - [X.] [X.] 58/14 B - juris RdNr 6). Zur Differenz zwischen den ausgezahlten Grundleistungen und dem Regelsatz, den die Klägerin nach entsprechender Anwendung des [X.] erhalten würde (345 Euro bis [X.]; 347 Euro ab 1.7.2007 gemäß Erste Verordnung zur Änderung der Regelsatzverordnung <1. RSVÄndV> vom 20.11.2006, [X.] 2657), ist der Mehrbedarf wegen Alleinerziehung iHv 36 Prozent des Regelbedarfs hinzuzurechnen (§ 30 Abs 3 [X.] in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des [X.] und anderer Gesetze vom 2.12.2006, [X.] 2670), auf den die Klägerin als [X.] einen Anspruch gehabt hätte, womit die [X.] bezogen auf die vier streitgegenständlichen Monate jedenfalls überschritten wird.

Die Beklagte ist sachlich zuständig (§ 10 [X.] iVm § 2 Abs 2 Gesetz zur Aufnahme und Unterbringung von [X.] im [X.] in der Fassung der Bekanntmachung vom 13.2.2003, [X.] bzw vom [X.], [X.]). Den Feststellungen des [X.] lässt sich hingegen nicht entnehmen, ob die Beklagte auch örtlich zuständig ist, was voraussetzen würde, dass sich die Klägerin im Dezember 2006 bis November 2007 tatsächlich in [X.] aufhielt (§ 10a Abs 1 Satz 2 [X.]) oder dass eine Verteilung oder Zuweisung iS von § 10a Abs 1 Satz 1 [X.] dorthin erfolgt ist (BSG vom [X.] [X.] R - [X.], 11 = [X.] 4-3520 § 7 [X.], Rd[X.]2). Dies mag das [X.] bei seiner erneuten Entscheidung prüfen.

Die Klägerin hat in den streitgegenständlichen [X.]räumen keinen Anspruch auf [X.] nach § 2 [X.] (hier zunächst in der Fassung des [X.] des Gesetzes zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern vom 30.7.2004, [X.] 1950, bzw ab dem [X.] in der Fassung des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der [X.] vom 19.8.2007, [X.] 1970). Zwar war sie dem Grunde nach leistungsberechtigt gemäß § 1 Abs 1 [X.] [X.] (in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes und weiterer Gesetze vom 14.3.2005, [X.] 721). Ab dem [X.] war sie nach den Feststellungen des [X.] im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs 5 [X.] (hier in der Fassung des Zuwanderungsgesetzes). Für den streitgegenständlichen [X.]raum zuvor war sie im Besitz einer Aufenthaltsgestattung nach dem Asylverfahrensgesetz (AsylVfG) und dementsprechend nach § 1 Abs 1 [X.] [X.] leistungsberechtigt.

Nach § 2 Abs 1 [X.] in den hier noch zur Anwendung kommenden Fassungen ist abweichend von den §§ 3 bis 7 [X.] das [X.] jedoch nur auf diejenigen Leistungsberechtigten (des § 1 [X.]) entsprechend anzuwenden, die über eine Dauer von insgesamt 36 Monaten bzw ab [X.] von 48 Monaten Grundleistungen nach § 3 [X.] erhalten und die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben. Nach dem Gesamtzusammenhang der Feststellungen des [X.] (§ 163 [X.]) ergibt sich zwar nichts dafür, dass die Klägerin die Dauer des Aufenthalts rechtsmissbräuchlich beeinflusst haben könnte, nach seinen bindenden Feststellungen erhielt sie jedoch Grundleistungen erst ab November 2004, nachdem sie 2004 in das [X.] eingereist ist. Damit kann rechnerisch die gesetzliche [X.]zeit für die streitgegenständlichen [X.]räume noch nicht erfüllt gewesen sein. Die Klägerin hat mit den vom [X.] bindend festgestellten [X.] von Leistungen nach § 3 [X.] in der [X.] ihres Aufenthalts in [X.] die Voraussetzungen erst ab November 2008 erfüllt. Die Änderung der [X.]zeiten in § 2 Abs 1 [X.] mit Wirkung vom [X.], die auf den hier ebenfalls streitgegenständlichen [X.]raum Oktober 2007 und November 2007 Anwendung findet, stellt zwar eine unechte Rückwirkung dar; beachtlicher Vertrauensschutz, der eine solche Regelung verfassungsrechtlich unzulässig machen würde, besteht aber nicht (vgl ausführlich BSG vom [X.]/9b [X.] - [X.], 49 = [X.] 4-3520 § 2 [X.], Rd[X.]8), wovon auch die Klägerin ausgeht.

Der durch das Berufungsgericht erkennbar vorgenommenen verfassungskonformen Auslegung des § 2 Abs 1 [X.] im Wege der teleologischen Reduktion (Restriktion) dergestalt, dass bei bestehendem Sorgerecht für im Inland befindliche Kinder mit [X.] Staatsangehörigkeit vom Erfordernis eines [X.] abzusehen sei, vermag der Senat nicht zu folgen (zum Verhältnis von ungeschriebenen Tatbestandsmerkmalen und teleologischer Reduktion vgl Busse, [X.] 2016, 650, 652; [X.], Juristische Methodenlehre, 2. Aufl 2020, RdNr 622; [X.], Juristische Methodenlehre, 11. Aufl 2012, § 11 II b). Unter Anwendung der anerkannten Methoden der Gesetzesinterpretation nach dem Wortlaut der Norm, dem systematischen Zusammenhang, der Entstehungsgeschichte sowie ihrem Sinn und Zweck, mit denen der in der Norm zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers zu ermitteln ist, wie er sich aus dem Wortlaut der Vorschrift und dem Sinnzusammenhang ergibt, in den sie hineingestellt ist (stRspr; vgl nur [X.] vom [X.] - 2 BvR 2628/10 ua - [X.]E 133, 168 RdNr 66; [X.] vom 26.8.2014 - 2 BvR 2400/13 - NJW 2014, 3504 Rd[X.]5; BSG vom 15.12.2016 - B 5 RE 2/16 R - [X.] 4-2600 § 3 [X.] Rd[X.]9; BSG vom 23.5.2017 - B 1 KR 24/16 R - [X.] 4-2500 § 301 [X.] Rd[X.]4; BSG vom [X.] - B 2 U 27/17 R - [X.], 92 = [X.] 4-2700 § 67 [X.], Rd[X.]1), lässt sich eine Ausnahme von der Erfüllung der [X.]zeit nicht rechtfertigen. Systematisch stellt § 2 [X.] im Gesamtgefüge des [X.] eine abschließende Sonderregelung zum Bezug von [X.] dar. Das [X.] hat zwar bereits entschieden, dass nur bei einem kurzfristigen, nicht auf Dauer angelegten Aufenthalt von Leistungsberechtigten nach dem [X.] die existenznotwendigen Bedarfe ggf abweichend von denen anderer Hilfebedürftiger bemessen werden dürfen, weshalb der Vorbezug von vier Jahren erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken begegne ([X.] vom 18.7.2012 - 1 BvL 10/10 ua - [X.]E 132, 134 RdNr 93 = [X.] 4-3520 § 3 [X.] Rd[X.]19). Es hat jedoch einerseits gerade vor dem Hintergrund des dem Gesetzgeber zustehenden Gestaltungsspielraums lediglich im Hinblick auf die unzureichende Höhe der Grundleistungen von seiner ihm ausschließlich zustehenden [X.] (vgl [X.] vom [X.] - 2 BvR 1322/12 ua - [X.]E 139, 19 RdNr 93) Gebrauch gemacht, hingegen nicht zur Zahlung von [X.] verpflichtet. Andererseits hat es für [X.]räume vor dem 1.1.2011 die gesetzliche Konstruktion für hinnehmbar erklärt ([X.] vom 18.7.2012 - 1 BvL 10/10 ua - [X.]E 132, 134 Rd[X.]13 = [X.] 4-3520 § 3 [X.] Rd[X.]39-140). Das Gesetz wurde inzwischen vollständig durch den Gesetzgeber reformiert und die [X.]zeit in eine reine Wartefrist geändert und auf zunächst 15 Monate (§ 2 Abs 1 Satz 1 in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des [X.] und des [X.] vom 10.12.2014, [X.] 2187), seit dem [X.] auf 18 Monate (§ 2 Abs 1 Satz 1 AsylblG in der Fassung des [X.] zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht vom [X.], [X.] 1294) verkürzt. Damit wurde der Kreis der auf Leistungen nach § 3 [X.] verwiesenen Personen substantiell verkleinert (vgl auch [X.] vom [X.] - 1 BvR 2926/14 - juris Rd[X.]1). Eine Auslegung gegen den Wortlaut des § 2 Abs 1 [X.] aF ist damit für [X.] vor dem 1.1.2011 nicht angezeigt und wäre unvereinbar mit dem Prinzip der Rechtssicherheit (Art 20 Abs 3 GG; vgl BSG vom 30.1.2020 - B 2 U 20/18 R - [X.] 4-2700 § 8 [X.]4 Rd[X.]9).

Dementsprechend hat auch der erkennende Senat unter Aufgabe seiner früheren Rechtsprechung, wonach allein [X.]en des Bezugs von Leistungen nach § 3 [X.] zur Erfüllung der [X.]zeit dienen konnten (vgl BSG vom [X.]/9b [X.] - [X.], 49 = [X.] 4-3520 § 2 [X.]), § 2 [X.] lediglich verfassungskonform dahin ausgelegt, dass für die Erfüllung der dort verlangten [X.]zeit auch der Bezug anderer Leistungen als von Grundleistungen ausreicht (BSG vom [X.] [X.] R - [X.], 99 = [X.] 4-3520 § 2 [X.], Rd[X.]4). Zugleich hat er aber - damals im Zusammenhang mit minderjährigen Kindern - deutlich gemacht, dass er keine Veranlassung sieht, vom grundsätzlichen, ausdrücklich normierten Erfordernis der [X.]zeit gegen den Wortlaut der Norm zumindest für [X.]räume vor dem 1.1.2011 abzusehen (BSG vom [X.] [X.] R - [X.], 99 = [X.] 4-3520 § 2 [X.], Rd[X.]4).

Hierin ist entgegen der Auffassung der Revision kein Verstoß gegen Art 6 GG zu sehen, der dem Staat eine Schutzpflicht hinsichtlich der Rechtsposition des Kindes sowie dessen Anspruch auf Ermöglichung bzw Aufrechterhaltung eines familiären Bezugs zu beiden Elternteilen von Geburt an verleiht (vgl [X.] vom 8.12.2005 - 2 BvR 1001/04 - [X.], 187; [X.] vom 23.1.2006 - 2 BvR 1935/05 - NVwZ 2006, 682, 683 zum Familienschutz; [X.] vom 18.4.1989 - 2 BvR 1169/84 - [X.]E 80, 81, 90 = juris Rd[X.]2; BSG vom [X.] [X.]/12 R - [X.], 60 = [X.] 4-4200 § 7 [X.]4, Rd[X.]5). Art 6 GG räumt dem Gesetzgeber jedoch einen weiten Gestaltungsspielraum bei der Förderung der Familie ein. Der Gesetzgeber bestimmt im Rahmen seiner Gestaltungsfreiheit grundsätzlich selbst, auf welche Weise er den ihm aufgetragenen besonderen Schutz der Ehe und der Familie verwirklichen will ([X.] vom 30.11.1982 - 1 BvR 818/81 - [X.]E 62, 323, 332 f; [X.] vom 7.7.1992 - 1 BvL 51/86 ua - [X.]E 87, 1, 36 = [X.] 3-5761 [X.] S 7). Konkrete Ansprüche auf bestimmte Rechte oder Leistungen lassen sich aus dem Fördergebot des Art 6 Abs 1 GG nicht herleiten ([X.] vom 29.5.1990 - 1 BvL 20/84 ua - [X.]E 82, 60, 81 = [X.] 3-5870 § 10 [X.] S 6; [X.] vom 12.2.2003 - 1 BvR 624/01 - [X.]E 107, 205, 213 = [X.] 4-2500 § 10 [X.] Rd[X.]8; BSG vom 30.1.2020 - B 2 U 19/18 R - [X.], 25 = [X.] 4-1300 § 105 [X.], Rd[X.]5), weshalb in der Nichtgewährung von [X.] gegenüber Grundleistungen keine Verletzung dieses Grundrechts gesehen werden kann. Der Schutz durch Art 6 GG geht wegen der Höhe von existenzsichernden Leistungen nicht weiter als der Schutz aus Art 1 Abs 1 GG iVm Art 20 Abs 1 GG.

Der Senat kann aber auf Grundlage der Feststellungen des [X.] nicht entscheiden, ob der Klägerin höhere Leistungen nach § 3 [X.] (in der Fassung der [X.], [X.] 2407) zustehen. Es fehlen tatsächliche Feststellungen (§ 163 [X.]) zur Höhe des seitens der Klägerin erzielten Einkommens. Bei dieser Prüfung wird das [X.] zu beachten haben, dass entgegen seiner Auffassung die Bewilligung nachträglich höherer Leistungen nicht vom Nachweis ununterbrochen bestehender Bedürftigkeit während des Gerichtsverfahrens abhängt. Unabhängig davon, dass der Senat an seiner bisherigen Rechtsprechung zum Erfordernis des [X.] von Bedürftigkeit im Sinne des [X.] oder des [X.] bei Überprüfungskonstellationen nach § 44 [X.] - ([X.]) nicht festhält (vgl dazu im Einzelnen BSG vom [X.] - B 7 [X.] R; [X.] in jurisPK-[X.], 3. Aufl, § 18 [X.] Rd[X.]9, Stand Februar 2020), ist in der Rechtsprechung von [X.] ([X.]) und BSG seit jeher anerkannt, dass die erst im Rechtsbehelfsverfahren erstrittene Sozialhilfe auch für die Vergangenheit zu bewilligen ist (vgl Art 19 Abs 4 GG; vgl bereits [X.] vom [X.] ua - [X.]E 40, 343, 346). Dies gilt erst recht, wenn das Gerichtsverfahren - wie hier - in der ersten Instanz mehr als sechs Jahre und in der Berufungsinstanz ebenso lange gedauert hat.

Das [X.] wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

Meta

B 7 AY 3/20 R

24.06.2021

Bundessozialgericht 7. Senat

Urteil

Sachgebiet: AY

vorgehend SG Dresden, 25. Februar 2014, Az: S 54 AY 18/12, Urteil

§ 1 Abs 1 Nr 1 AsylbLG, § 1 Abs 1 Nr 3 AsylbLG vom 14.03.2005, § 2 Abs 1 AsylbLG vom 30.07.2004, § 2 Abs 1 AsylbLG vom 19.08.2007, § 3 AsylbLG, § 25 Abs 5 AufenthG 2004, Art 6 GG

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Urteil vom 24.06.2021, Az. B 7 AY 3/20 R (REWIS RS 2021, 4658)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2021, 4658

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

B 7 AY 4/12 R (Bundessozialgericht)

(Grundsicherung für Arbeitsuchende - Leistungsausschluss für Leistungsberechtigte nach § 1 AsylbLG - kein Anspruch aus …


B 7 AY 2/20 R (Bundessozialgericht)

Asylbewerberleistungen - Überprüfungsverfahren - Nachzahlung von Leistungen für die Vergangenheit - Erforderlichkeit einer fortbestehenden Bedürftigkeit …


B 8 AY 1/10 R (Bundessozialgericht)

(Asylbewerberleistung - Zugunstenverfahren - Nachzahlung von Analogleistungen gem § 2 AsylbLG für die Vergangenheit - …


B 7 AY 4/20 R (Bundessozialgericht)

Asylbewerberleistungen - Analogleistungen - rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Aufenthaltsdauer - offenes Kirchenasyl


B 14 AS 28/17 R (Bundessozialgericht)

(Grundsicherung für Arbeitsuchende - Leistungsausschluss für Leistungsberechtigte nach § 1 AsylbLG - Vereinbarkeit mit EGRL …


Referenzen
Wird zitiert von

Keine Referenz gefunden.

Zitiert

2 BvR 2400/13

2 BvR 2628/10

1 BvL 10/10

1 BvR 2926/14

1 BvR 624/01

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.