Bundessozialgericht, Urteil vom 24.06.2021, Az. B 7 AY 2/20 R

7. Senat | REWIS RS 2021, 4655

© Bundessozialgericht, Dirk Felmeden

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Gegenstand

Asylbewerberleistungen - Überprüfungsverfahren - Nachzahlung von Leistungen für die Vergangenheit - Erforderlichkeit einer fortbestehenden Bedürftigkeit - Begrenzung des Überprüfungszeitraums auf ein Jahr - sozialgerichtliches Verfahren - Rechtsschutzbedürfnis - Ausreise aus dem Bundesgebiet während des Berufungsverfahrens


Leitsatz

1. Die Erbringung von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) im Wege eines Überprüfungsverfahrens setzt für Anträge seit dem 1.4.2011 keine ununterbrochen bestehende Bedürftigkeit mehr voraus (Abgrenzung zu BSG vom 29.9.2009 - B 8 SO 16/08 R = BSGE 104, 213 = SozR 4-1300 § 44 Nr 20).

2. Ein fortbestehender tatsächlicher Aufenthalt im Inland ist nicht Voraussetzung für einen Anspruch auf Nachzahlung vorenthaltener Leistungen nach dem AsylbLG.

Tenor

Auf die Revision des [X.] wird das Urteil des [X.] vom 26. Februar 2020 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen, soweit der Rechtsstreit die [X.] vom 1. Januar bis zum 27. Juni 2011 betrifft. Im Übrigen wird die Revision zurückgewiesen.

Tatbestand

1

[X.] sind höhere Leistungen nach dem [X.] ([X.]) für die [X.] vom [X.] bis zum [X.].

2

Der 1966 geborene Kläger ist [X.] Staatsangehöriger. In der [X.] von Dezember 2003 bis Juni 2015 hielt er sich - unterbrochen durch einen Aufenthalt in [X.] vom [X.] bis zum 7.10.2010 - in [X.] auf. Bei Asylantragstellung gab er einen falschen Namen und einen falschen Geburtsort an. Nach Ablehnung seines Asylantrags 2004 wirkte er nicht an der [X.] mit. Aufgrund der Geburt seiner [X.] Tochter verfügte der Kläger seit dem [X.] über eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs 5 [X.] ([X.]). Seit 2015 lebt er wieder in [X.].

3

Der Kläger erhielt von der Beklagten von Januar 2004 bis November 2011 Grundleistungen nach § 3 [X.], und zwar ua für Oktober und November 2009, April bis Juni und August 2010 sowie Januar bis Mai 2011 auf Grundlage von [X.] (Bescheide vom [X.], 12.11.2009, [X.], [X.], [X.], [X.] und 18.4.2011) sowie für den übrigen streitgegenständlichen [X.]raum außer September 2010 durch Auszahlung der Leistungen. Die vom Kläger am [X.] beantragte Gewährung sog [X.] nach § 2 [X.] lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom [X.]; Widerspruchsbescheid der [X.] vom 23.5.2012); das anschließende Klageverfahren endete mit einem Vergleich, in dem sich die Beklagte infolge der Entscheidung des [X.] ([X.]) vom 18.7.2012 zur Gewährung von höheren Leistungen für die [X.] vom [X.] bis 31.10.2011 verpflichtete. Am 31.1.2012 beantragte der Kläger die Überprüfung der Bescheide aus den Jahren 2009 und 2010 sowie vom 18.4.2011 im Hinblick auf die Gewährung von [X.] für die [X.] vom [X.] bis zum 5.7.2011. Die Beklagte lehnte dies ab (Bescheid vom 23.5.2012; Widerspruchsbescheid der [X.] vom 24.9.2012).

4

Klage und Berufung (beschränkt auf höhere Leistungen für die [X.] vom [X.] bis zum [X.]) sind erfolglos geblieben (Urteil des Sozialgerichts Dresden vom 6.5.2014; Urteil des [X.] <[X.]> vom [X.]). Zur Begründung hat das [X.] ausgeführt, die Klage sei wegen der Ausreise des [X.] sowohl unzulässig als auch unbegründet. Unbegründet sei die Klage zudem, weil der Kläger die Dauer seines Aufenthalts rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst habe und schließlich nicht von seiner fortbestehenden Hilfebedürftigkeit auszugehen sei.

5

Mit seiner Revision rügt der Kläger eine Verletzung von Art 20 Abs 1 Grundgesetz (GG) und § 44 [X.] - ([X.]). Wegen des Rechtsstaatsprinzips könne die Ausreise nicht zum Erlöschen von Ansprüchen führen. Die Annahme, dass [X.] im Überprüfungswege nur bei [X.] Hilfebedürftigkeit zu gewähren seien, stehe in Widerspruch zur Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zum Recht der Grundsicherung für Arbeitsuchende, die auf das Asylbewerberleistungsrecht übertragbar sei. Seit der Geburt seiner Tochter könne ihm rechtsmissbräuchliches Verhalten nicht mehr entgegengehalten werden.

6

Der Kläger beantragt,
die Urteile des [X.] vom 26. Februar 2020 und des [X.] vom 6. Mai 2014 sowie den Bescheid der Beklagten vom 23. Mai 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24. September 2012 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, die Bescheide vom 13. Oktober 2009, 12. November 2009, 8. März 2010, 18. Mai 2010, 21. Mai 2010, 27. Juli 2010 und 18. April 2011 sowie die in den jeweiligen Auszahlungen liegenden Bewilligungen zu ändern und dem Kläger für die [X.] vom 10. August 2009 bis zum 27. Juni 2011 höhere Leistungen zu zahlen.

7

Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

8

Sie hält die Entscheidung des [X.] für zutreffend.

Entscheidungsgründe

9

Die zulässige Revision ist zum Teil im Sinne der Aufhebung des Berufungsurteils und der Zurückverweisung der Sache an das [X.] begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz ), im Übrigen unbegründet (§ 170 Abs 1 Satz 2 SGG). Der [X.] kann nicht abschließend entscheiden, ob der Kläger im [X.]raum vom 1.1.2011 bis [X.] Anspruch auf höhere Asylbewerberleistungen hat; in Betracht kommen insoweit allerdings nur höhere Grundleistungen. Soweit der Rechtsstreit den [X.]raum vom [X.] bis zum 31.12.2010 betrifft, kann der Kläger höhere Leistungen schon deshalb nicht beanspruchen, weil ausgehend von der Stellung seines [X.] am [X.] die rückwirkende Zahlung von vorenthaltenen Leistungen nur für ein Jahr in Betracht kommt.

Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid der Beklagten vom [X.] (§ 95 SGG), mit dem die Beklagte es abgelehnt hat, dem Kläger unter teilweiser Rücknahme der bestandskräftigen Bewilligungen für die [X.] ab [X.] höhere Leistungen zu gewähren, und zwar nach Beschränkung des Antrags im Klageverfahren nur noch für die [X.] bis [X.]. Dabei ist nach dem sog Meistbegünstigungsprinzip (vgl nur BSG vom 10.3.1994 - 7 [X.]/93 - [X.], 77, 79 = [X.]-4100 § 104 [X.] f; BSG vom 10.11.2011 - [X.] [X.] 18/10 R - [X.] 4-3500 § 44 [X.] Rd[X.]3) davon auszugehen, dass der Kläger mit seinem Antrag auf Überprüfung der bestandskräftig gewordenen Entscheidungen höhere Leistungen unter jedem rechtlichen Gesichtspunkt geltend gemacht und die Beklagte entsprechend umfassend entschieden hat. Es handelt sich (auch soweit die Überprüfung der Voraussetzungen von § 2 [X.] betroffen ist) bei zutreffender Auslegung um die Ablehnung eines [X.] wegen der Höhe eines dem Grunde nach zugestandenen Anspruchs (vgl BSG vom 17.6.2008 - [X.]/9b [X.] - [X.], 49 = [X.] 4-3520 § 2 [X.], Rd[X.]4; anders noch zum Verhältnis von [X.] zu Grundleistungen BSG vom [X.] [X.] - [X.], 116 = [X.] 4-3520 § 2 [X.], Rd[X.]4). Der Kläger verfolgt sein Begehren mit einer kombinierten Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1, Abs 4, § 56 SGG), die auch bei Anwendung des § 44 [X.] im Höhenstreit zulässigerweise auf ein Grundurteil (§ 130 Abs 1 Satz 1 SGG) gerichtet ist (vgl nur BSG vom [X.] [X.] R - [X.], 20 = [X.] 4-3520 § 9 [X.], Rd[X.]).

Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen sind erfüllt. Entgegen der Auffassung des [X.] ist die Klage nicht dadurch unzulässig geworden, dass der Kläger während des Berufungsverfahrens nach [X.] umgezogen ist. Ein tatsächlicher (und ggf [X.]) Aufenthalt im Inland ist im Hinblick auf das Gebot effektiven Rechtsschutzes (Art 19 Abs 4 GG) nicht Voraussetzung für das Rechtsschutzinteresse einer Klage auf Nachzahlung (rechtswidrig vorenthaltener) Leistungen nach dem [X.] im Wege eines Überprüfungsverfahrens. Soweit das [X.] davon ausgeht, dass infolge der bloßen Ausreise ein Anspruch auf (höhere) Asylbewerberleistungen für [X.]räume vor der Ausreise nicht mehr geltend gemacht werden könne, verkennt es den verfassungsrechtlich vorgegebenen Maßstab, an dem das Rechtsschutzinteresse zu bestimmen ist, und misst § 1 Abs 1 [X.], wonach die [X.] nach dem [X.] den tatsächlichen Aufenthalt im [X.] voraussetzt, eine Bedeutung zu, die die Norm nicht hat. § 1 Abs 1 [X.] regelt allein die [X.] nach dem [X.] dem Grunde nach (vgl BT-Drucks 12/4451 S 7).

Das Rechtsschutzbedürfnis, also ein berechtigtes Interesse, mittels eines gerichtlichen Verfahrens Rechtsschutz zu erlangen, ist Zulässigkeitsvoraussetzung einer Klage. Es muss noch im [X.]punkt der gerichtlichen Entscheidung bestehen und ist auch vom [X.] in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfen (vgl etwa BSG vom [X.] - [X.] [X.] 24/10 R - NZS 2012, 798 = juris Rd[X.]0 mwN); dadurch sollen zweckwidrige Prozesse verhindert und eine unnötige Inanspruchnahme des Rechtsschutzes durch staatliche Gerichte vermieden werden. Bei Leistungsklagen folgt das Vorhandensein des [X.] regelmäßig bereits aus dem Umstand, dass ein Kläger einen auf Leistung an sich selbst gerichteten, bislang nicht erfüllten Anspruch geltend macht. Gewährt die Rechtsordnung ein materielles Recht, erkennt sie in aller Regel auch das Interesse am gerichtlichen Rechtsschutz dessen an, der sich als der Inhaber dieses Rechtes sieht (vgl [X.] <[X.]> vom 17.1.1989 - 9 C 44.87 - [X.]E 81, 164 = [X.] 402.25 § 2 AsylVfG [X.] = juris Rd[X.]; [X.] in [X.]/[X.], VwGO, 5. Aufl 2018 § 42 Rd[X.]35). Mit der bloßen Ausreise eines [X.] aus dem [X.] - bei [X.] Erreichbarkeit für die Gerichte - entfällt das Rechtsschutzbedürfnis nicht (vgl bereits [X.] vom 17.1.1989 - 9 C 44.87 - [X.]E 81, 164 = [X.] 402.25 § 2 AsylVfG [X.]; [X.] in [X.]/[X.], VwGO, 5. Aufl 2018 § 42 Rd[X.]51; anders ggf, wenn ein Asylsuchender seit längerem "untergetaucht" und nicht erreichbar ist, vgl [X.] vom 6.8.1996 - 9 C 169.95 - [X.]E 101, 323 = [X.] 402.25 § 6 AsylVfG [X.] = juris Rd[X.]2; vgl auch [X.] in [X.]/[X.], VwGO, 27. Aufl 2021, Vorb § 40 RdNr 54). Dies gebietet auch Art 19 Abs 4 Satz 1 GG (vgl Hessisches [X.] vom 21.12.2007 - L 6 [X.]07 [X.] - juris RdNr 8 f). Die sich bereits aus dem Rechtsstaatsprinzip ergebende allgemeine Forderung nach einem angemessenen Rechtsschutz gegen Rechtsverletzungen durch die öffentliche Gewalt wird durch diese Verfassungsnorm konkretisiert. Der von Art 19 Abs 4 GG - auch Ausländern (vgl [X.] vom 18.7.1973 - 1 BvR 23/73, 1 BvR 155/73 - [X.]E 35, 382 = NJW 1974, 227) - gewährleistete substantielle Anspruch auf eine möglichst wirksame gerichtliche Kontrolle in allen von der jeweiligen Prozessordnung zur Verfügung gestellten Instanzen garantiert nicht nur das formelle Recht und die theoretische Möglichkeit, die Gerichte anzurufen, sondern auch die Effektivität des Rechtsschutzes; die Einlegung von Rechtsmitteln darf nicht von außerprozessualen Bedingungen abhängig gemacht werden (vgl [X.] vom 18.7.1973 - 1 BvR 23/73, 1 BvR 155/73 - [X.]E 35, 382 = NJW 1974, 227 = juris RdNr 53; [X.] vom [X.] - 2 BvR 630/73 - [X.]E 40, 272 = NJW 1976, 141 = juris Rd[X.]1; [X.] vom 17.3.1988 - 2 BvR 233/84 - [X.]E 78, 88 = NVwZ 1988, 718 = juris Rd[X.]4). Ein [X.] Aufenthalt im [X.] während einer nicht absehbaren gerichtlichen Verfahrensdauer wäre eine solche unzulässige außerprozessuale Bedingung. Berechtigte Ansprüche auf Leistungen, bezogen auf [X.] vor der Ausreise, erlöschen nicht mit der bloßen Ausreise; rechtswidrig abgelehnte Ansprüche nach dem [X.] - bezogen auf die [X.] des Aufenthalts im [X.] - können deshalb auch nach der Ausreise weiterverfolgt werden.

Rechtsgrundlage für die teilweise Rücknahme der Bewilligungsentscheidungen ist § 9 Abs 3 [X.] (idF der Bekanntmachung vom 5.8.1997 <[X.] 2022>, im Folgenden alte Fassung ) iVm § 44 Abs 1 Satz 1 und [X.], der zur Korrektur bestandskräftiger, rechtswidriger Leistungsablehnungen im Asylbewerberleistungsrecht anwendbar ist (vgl nur BSG vom 17.6.2008 - [X.] 5/07 R - [X.] 4-3520 § 9 [X.] Rd[X.]2 ff). Ob die Beklagte in formeller Hinsicht die für die Rücknahme sachlich und örtlich zuständige Behörde ist (§ 44 Abs 3 Halbsatz 1 [X.]; vgl dazu BSG vom [X.] [X.] R - InfAuslR 2014, 13; BSG vom [X.] [X.]/11 R - [X.] 4-1300 § 44 [X.]5 Rd[X.]3 mwN), kann der [X.] auf Grundlage der Feststellungen des [X.] nicht entscheiden. Dies mag das [X.] noch überprüfen.

Nach § 44 Abs 1 Satz 1 und [X.] ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, wenn bei dessen Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind; Sozialleistungen sind dann für einen [X.]raum bis zu vier Jahren vor dem Antrag auf Rücknahme zu erbringen. Zu Unrecht vorenthaltene Leistungen nach dem [X.] werden längstens für einen [X.]raum von bis zu vier Jahren vor der mit Wirkung für die Vergangenheit erfolgten Rücknahme eines rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsaktes erbracht (§ 9 Abs 3 [X.] aF iVm § 44 Abs 4 Satz 1 [X.]); dabei wird der [X.]punkt der Rücknahme von Beginn des Jahres an gerechnet, in dem der Verwaltungsakt zurückgenommen wird (§ 44 Abs 4 Satz 2 [X.]). Erfolgt die Rücknahme auf Antrag, tritt bei der Berechnung des [X.]raums, für den rückwirkend Leistungen zu erbringen sind, anstelle der Rücknahme der Antrag (§ 44 Abs 4 Satz 3 [X.]). Für Anträge, die - wie hier - nach dem [X.] gestellt wurden, verkürzt sich die [X.] entsprechend § 116a iVm § 136 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - ([X.]; jeweils idF des [X.] [X.] und zur Änderung des [X.] und [X.] vom 24.3.2011, [X.]), die bereits vor der Anpassung in § 9 Abs 4 Satz 2 [X.] mit dem Gesetz zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes und des Sozialgerichtsgesetzes vom 10.12.2014 ([X.]) entsprechend anwendbar waren, aber auf ein Jahr (vgl BSG vom [X.] [X.] R - [X.], 20 = [X.] 4-3520 § 9 [X.], Rd[X.]2 ff).

Für die [X.] vor dem 1.1.2011 kann der Kläger keine höheren Leistungen erhalten, weil der genannte [X.]raum ausgehend von einer Antragstellung am [X.] außerhalb der Jahresfrist liegt, für die Leistungen rückwirkend zu erbringen sind. Eine isolierte Rücknahme des Bescheids iS von § 44 Abs 1 Satz 1 [X.] kommt dann nicht in Betracht (vgl BSG vom [X.] - [X.] [X.] 16/08 R - [X.], 213 = [X.] 4-1300 § 44 [X.]0, Rd[X.]2).

Soweit der Rechtsstreit die [X.] vom 1.1.2011 bis zum [X.] betrifft, kann der [X.] nicht abschließend beurteilen, ob der Kläger Anspruch auf teilweise Rücknahme der Bewilligungen und Gewährung höherer Leistungen hat.

Die nachträgliche Erbringung von Leistungen im Rahmen von § 44 [X.] setzt insoweit nicht voraus, dass beim Kläger Bedürftigkeit iS des [X.] oder des [X.] bzw des [X.] ([X.]) ununterbrochen bis zur letzten mündlichen Verhandlung beim [X.] fortbestand. Nach der Rechtsänderung zum 1.4.2011 und der Verkürzung der nachträglichen Leistungserbringung auf ein Jahr, hält der [X.] in Fällen einer Antragstellung nach § 44 [X.] nach dem [X.] an der zur früheren Rechtslage im [X.] und [X.] ergangenen Rechtsprechung des 7. und 8. [X.]s des BSG nicht mehr fest. Danach genügte es für einen Anspruch auf rückwirkende Erbringung von Leistungen über § 44 [X.] weder im [X.] noch im [X.], dass bei Erlass der bestandskräftigen Verwaltungsakte Leistungen zu Unrecht vorenthalten worden sind. Unter Berücksichtigung des § 44 [X.] ("nach den Vorschriften der besonderen Teile dieses Gesetzbuchs", also des [X.] bzw des [X.]) war vielmehr den Besonderheiten des jeweiligen Leistungsrechts dahin Rechnung zu tragen, dass die Leistungen nach dem [X.] und dem [X.] nur der Behebung einer gegenwärtigen Notlage dienen (sog [X.] oder auch [X.]) und deshalb für zurückliegende [X.]en nur dann zu erbringen waren, wenn die Leistungen ihren Zweck noch erfüllen konnten, weil ununterbrochen bis zur letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz Bedürftigkeit bestand (stRspr seit BSG vom [X.] - [X.] [X.] 16/08 R - [X.], 213 = [X.] 4-1300 § 44 [X.]0, Rd[X.]1; vgl BSG vom 9.6.2011 - [X.] 1/10 R - [X.] 4-1300 § 44 [X.]2 Rd[X.]0; BSG vom 20.12.2012 - [X.] [X.]11 R - [X.] 4-3520 § 3 [X.] Rd[X.]4; BSG vom [X.] [X.] R - InfAuslR 2014, 13 Rd[X.]3; BSG vom 17.12.2015 - [X.] [X.] 24/14 R - [X.] 4-3500 § 116a [X.] Rd[X.]6; vgl auch [X.] vom 7.2.2012 - 1 BvR 1263/11 - juris Rd[X.]6).

An den Gedanken des [X.]s schließt auch die gesetzgeberische Entscheidung an, mWv 1.4.2011 im [X.] und im [X.] und nachfolgend mWv [X.] auch in § 9 Abs 4 [X.] festzulegen, dass nach erfolgreichen Überprüfungsverfahren Leistungen längstens bis zum Beginn des Jahres rückwirkend zu erbringen sind, das dem [X.] des rechtswidrigen Verwaltungsaktes oder der darauf gerichteten Antragstellung vorausgegangen ist. Die Änderungen in § 40 Abs 1 [X.] und in § 116a [X.] (vgl Art 2 [X.]2 und Art 3 [X.]5 des [X.] [X.] und zur Änderung des [X.] und [X.] vom 24.3.2011, [X.]) hat der Gesetzgeber damit begründet, die Funktion des § 44 [X.], im Interesse der Allgemeinheit an Rechtssicherheit und dem Interesse des Leistungsberechtigten an materieller Gerechtigkeit einen Ausgleich für den Fall herzustellen, dass eine Verwaltungsentscheidung zum Nachteil des Leistungsberechtigten rechtswidrig ist, sei auch im Existenzsicherungsrecht unverzichtbar. Die [X.] sei allerdings für steuerfinanzierte Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts vor dem Hintergrund des [X.]es zu lang und eine kürzere Frist von einem Jahr sach- und [X.] (vgl BT-Drucks 17/3404 [X.] und [X.]; zu § 9 Abs 4 Satz 2 [X.] vgl BT-Drucks 18/2592 S 3 und [X.], "Gleichlauf mit den entsprechenden Regelungen im [X.] und [X.]"). Damit hat der Gesetzgeber eine Harmonisierung der drei Existenzsicherungssysteme herbeigeführt und dabei vor dem Hintergrund des [X.]s einheitliche, aus seiner Sicht sach- und [X.]e Regelungen bezüglich der nachträglichen Leistungserbringung geschaffen. Diese Regelungen versteht der [X.] aber als abschließend (vgl dazu auch [X.] in [X.]/[X.]/[X.]/[X.], [X.], 20. Aufl 2020, § 116a Rd[X.]5; [X.] in jurisPK-[X.], 3. Aufl 2020, § 18 RdNr 59, Stand Februar 2020; [X.] in jurisPK-[X.], 3. Aufl 2020, § 116a Rd[X.]7, Stand 18.5.2020; [X.] in [X.], [X.], 2. Aufl 2020, § 9 Rd[X.]0; zu § 40 [X.] etwa BSG vom 4.4.2017 - B 4 [X.]/16 R - [X.], 76 = [X.] 4-4200 § 40 [X.]2, Rd[X.]8 ff mit [X.], jurisPR-[X.] 2/2018 Anm 1; aA Cantzler in Cantzler, Asylbewerberleistungsgesetz, 2019, § 9 Rd[X.]6 f).

Ein Anspruch auf teilweise Rücknahme der ursprünglichen Leistungsbewilligungen für die [X.] ab dem 1.1.2011 und die Gewährung höherer Leistungen folgt - entgegen der Auffassung des [X.] - nicht aus § 44 Abs 1 Satz 1 [X.] iVm § 2 Abs 1 [X.] (idF des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der [X.] vom 19.8.2007, [X.] 1970, im Folgenden aF). Ob die Summe denkbarer [X.] die dem Kläger gewährten Grundleistungen übersteigt, kann dabei dahinstehen. Der Kläger erfüllt die Voraussetzungen für [X.] nicht. Nach § 2 Abs 1 [X.] aF ist abweichend von den §§ 3 bis 7 [X.] das [X.] auf diejenigen Leistungsberechtigten entsprechend anzuwenden, die über eine Dauer von insgesamt 48 Monaten Leistungen nach § 3 [X.] erhalten haben und die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben. Der Kläger hat die Dauer seines Aufenthalts rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst.

Rechtsmissbräuchlich iS von § 2 Abs 1 [X.] aF ist ein Verhalten, wenn es unter jeweiliger Berücksichtigung des Einzelfalls, der besonderen Situation eines Ausländers in der [X.] und der besonderen Eigenheiten des [X.] unentschuldbar im Sinne von Sozialwidrigkeit ist (BSG vom 17.6.2008 - [X.]/9b [X.] - [X.], 49 = [X.] 4-3520 § 2 [X.], Rd[X.]1 ff; im Einzelnen auch BSG vom [X.] - [X.] [X.]20 R). Die Gesetzesbegründung führt insoweit beispielhaft die Vernichtung des Passes und Angabe einer falschen Identität als typische Fallgestaltungen eines Rechtsmissbrauchs an (BT-Drucks 15/420 S 121).

So liegt der Fall hier. Durch die Angabe eines falschen Namens und eines falschen Geburtsorts hat der Kläger auch die Dauer seines Aufenthalts selbst beeinflusst. Es genügt, wenn bei abstrakt-genereller Betrachtungsweise das Verhalten typischerweise geeignet ist, die Aufenthaltsdauer zu verlängern. Das gilt nur dann nicht, wenn eine etwaige Ausreisepflicht des betroffenen Ausländers unabhängig von seinem Verhalten ohnehin in dem gesamten [X.]raum ab dem [X.]punkt des Rechtsmissbrauchs nicht hätte vollzogen werden können (BSG vom 17.6.2008 - [X.]/9b [X.] - [X.], 49 = [X.] 4-3520 § 2 [X.], Rd[X.]4; BSG vom [X.] - [X.] 1/08 R - juris Rd[X.]2). Falsche Angaben zur Identität sind bei abstrakt-genereller Betrachtung typischerweise geeignet, die Aufenthaltsdauer zu verlängern, schon weil sie aufenthaltsbeendende Maßnahmen erschweren, wenn nicht vereiteln. Eine etwaige Ausreisepflicht des [X.] hätte ohne das rechtsmissbräuchliche Verhalten jedenfalls während Teilen der seit dem rechtsmissbräuchlichen Verhalten vergangenen [X.] auch vollzogen werden können. Gegen die Feststellungen des [X.], der Kläger habe im Asylverfahren eine falsche Identität genutzt, hat der Kläger zulässige [X.] im Revisionsverfahren nicht erhoben. Diese Feststellungen sind für den [X.] bindend (§ 163 SGG). Das [X.] hat für den [X.] auch bindend festgestellt, dass gesundheitliche Gründe einer Ausreise nicht entgegenstanden.

In subjektiver Hinsicht ist erforderlich, dass dem Kläger Vorsatz zur Last fällt, der sich sowohl auf das rechtsmissbräuchliche Verhalten als auch auf die Verlängerung der Aufenthaltsdauer beziehen muss (BSG vom 17.6.2008 - [X.]/9b [X.] - [X.], 49 = [X.] 4-3520 § 2 [X.], Rd[X.]9). Dies ist nach dem Gesamtzusammenhang der Feststellungen des [X.] ebenfalls der Fall.

Eine mögliche rechtsmissbräuchliche Aufenthaltsverlängerung ist nicht deshalb unbeachtlich, weil der Kläger Vater einer Tochter mit [X.] Staatsangehörigkeit ist. Der Ausschluss von [X.] wegen rechtsmissbräuchlicher Aufenthaltsverlängerung wirkt während des gesamten [X.]; eine zwischenzeitliche Integration ist unbeachtlich (BSG vom 17.6.2008 - [X.]/9b [X.] - [X.], 49 = [X.] 4-3520 § 2 [X.], Rd[X.]1; BSG vom 17.6.2008 - [X.] 11/07 R - juris Rd[X.]4). Ob daran uneingeschränkt festzuhalten ist, kann hier dahinstehen (zweifelnd [X.]/[X.] in jurisPK-[X.], 3. Aufl 2020, § 2 [X.] Rd[X.]18, Stand 5.1.2021; [X.] in Grube/[X.]/[X.], [X.], 7. Aufl 2020, § 2 [X.] Rd[X.]1). Für Fallgestaltungen wie die vorliegende hat der Gesetzgeber ohnehin durch die zeitlich nur beschränkte [X.] nach dem [X.] im [X.] an die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs 5 [X.] (vgl § 1 Abs 1 [X.] Buchst c [X.] idF des [X.]) an dieser Rechtsfolge so nicht festgehalten. Ansprüche auf existenzsichernde Leistungen ergeben sich seither für den betroffenen Personenkreis nach Ablauf von 18 Monaten unmittelbar aus dem [X.] bzw dem [X.]. Die Ablehnung von höheren Leistungen auf Grundlage von § 2 Abs 1 [X.] aF ist hier aber vor dem 31.7.2012 bestandskräftig geworden. Eine ggf vorliegende Verkürzung des Rechts auf ein menschenwürdiges Existenzminimum (Art 1 Abs 1 iVm Art 20 Abs 1 GG) ist nach Ziff 3 Buchst e des Tenors des Urteils des [X.] vom 18.7.2012 (1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11 - [X.]E 132, 134 Rd[X.]13 = [X.] 4-3520 § 3 [X.] Rd[X.]39-140) bis zu diesem [X.]punkt übergangsweise hinzunehmen.

Der [X.] kann allerdings nicht beurteilen, ob ein Anspruch auf höhere Grundleistungen nach § 3 [X.] besteht. Das [X.] hat keine für eine abschließende Entscheidung ausreichenden Feststellungen zur Hilfebedürftigkeit (Wohnverhältnisse, Einkommen, Vermögen) des [X.] getroffen. Der [X.] weist darauf hin, dass ein Anspruch auf höhere Grundleistungen nicht deshalb besteht, weil dem Kläger für die [X.] vom 1.1.2011 bis zum [X.] Leistungen in einer Höhe gewährt worden sind, die das [X.] für verfassungswidrig erklärt hat ([X.] vom 18.7.2012 - 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11 - [X.]E 132, 134 = [X.] 4-3520 § 3 [X.]). In Bezug auf den Regelungsgegenstand seiner Entscheidung hat das [X.] die Anwendung des § 44 [X.] für [X.]räume bis Ende Juli 2012 ausgeschlossen (vgl [X.] vom 18.7.2012 - 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11 - [X.]E 132, 134 Rd[X.]13 = [X.] 4-3520 § 3 [X.] Rd[X.]39-140). Nach Ziff 3 Buchst e des Tenors können nur solche Leistungsberechtigte in der [X.] bis 31.7.2012 höhere Leistungen nach Maßgabe der Übergangsregelung des [X.] beanspruchen, bei denen - anders als vorliegend - die Bewilligungsentscheidung nicht vor diesem [X.]punkt bestandskräftig geworden ist. Die Stellung eines [X.] allein wahrt diese Frist nicht.

Das [X.] wird ggf auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

Meta

B 7 AY 2/20 R

24.06.2021

Bundessozialgericht 7. Senat

Urteil

Sachgebiet: AY

vorgehend SG Dresden, 6. Mai 2014, Az: S 54 AY 15/12, Urteil

§ 1 Abs 1 AsylbLG, § 9 Abs 3 AsylbLG vom 26.05.1997, § 9 Abs 4 S 2 AsylbLG vom 10.12.2014, § 44 Abs 1 S 1 SGB 10, § 44 Abs 4 S 1 SGB 10, § 116a SGB 12 vom 24.03.2011, § 136 SGB 12 vom 24.03.2011, Art 19 Abs 4 S 1 GG

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Urteil vom 24.06.2021, Az. B 7 AY 2/20 R (REWIS RS 2021, 4655)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2021, 4655

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1 BvR 1263/11

1 BvL 10/10

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