Bundessozialgericht, Urteil vom 01.07.2014, Az. B 1 KR 47/12 R

1. Senat | REWIS RS 2014, 4460

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Gegenstand

Krankenversicherung - Vergütung einer stationären Behandlung - Entstehen des Vergütungsanspruchs nach Inanspruchnahme der Leistung - Geltung des Rechtsinstituts der Verwirkung im Sozialversicherungsrecht - keine Verwirkung nach Schweigen im Rechtsverkehr


Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des [X.] vom 23. April 2012 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt auch die Kosten des Revisionsverfahrens.

Der Streitwert für das Revisionsverfahren wird auf 5260,09 Euro festgesetzt.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten über die Vergütung einer Krankenhausbehandlung.

2

Die Klägerin ist Trägerin eines in den Krankenhausplan des [X.] aufgenommenen Krankenhauses. Es berechnete 6955,28 Euro für die stationäre Behandlung einer Versicherten der beklagten Krankenkasse ([X.]) vom 31.5. bis zum [X.] (Fallpauschale [X.], geriatrische frührehabilitative Komplexbehandlung bei Krankheiten und Störungen der Harnorgane; 10.7.2008). Die Beklagte bezahlte unter Vorbehalt und beauftragte den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung mit einer Überprüfung (15.7.2008). Dieser hielt eine um 17 Tage kürzere stationäre Behandlung und die [X.] (Infektionen der Harnorgane ohne äußerst schwere [X.] , Alter > 5 Jahre) für ausreichend ([X.]). Die Beklagte "verrechnete" daraufhin den bereits bezahlten Betrag vollständig mit einer anderen Forderung der Klägerin und zahlte den nach ihrer Auffassung korrekten Betrag in Höhe von 1695,19 Euro an die Klägerin (4.6.2009). Die Klägerin widersprach dieser "Verrechnung" erstmals im Febr[X.]r 2011. Nachdem sich die Beklagte im Klageverfahren nach erneuter Auswertung der Patientenakte nicht länger darauf berufen hat, dass keine Notwendigkeit für die gesamte Dauer des Krankenhausaufenthaltes bestanden habe, hat das [X.] die Beklagte antragsgemäß zur Zahlung von 5260,09 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 6.6.2009 verurteilt. Zur Begründung seiner Entscheidung hat es [X.] ausgeführt, der Vergütungsanspruch sei nicht verwirkt. Die Klägerin habe durch bloßes Nichtstun in einem Zeitraum von mehr als eineinhalb Jahren keinen Vertrauenstatbestand geschaffen (Urteil vom 23.4.2012).

3

Die Beklagte rügt mit ihrer Sprungrevision eine Verletzung des § 69 Abs 1 S 3 [X.]B V in Verbindung mit § 242 BGB. Der Anspruch sei verwirkt, weil die Beklagte nach einem so langen Zeitraum mit Widerspruch und Klageerhebung nicht mehr habe rechnen müssen.

4

Die Beklagte beantragt,
das Urteil des [X.] vom 23. April 2012 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

5

Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

6

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Entscheidungsgründe

7

Die zulässige Sprungrevision der beklagten [X.] ist nicht begründet. Das [X.] hat sie zu Recht verurteilt, der klagenden Krankenhausträgerin 5260,09 Euro nebst Zinsen zu zahlen. Die von der Klägerin erhobene (echte) Leistungsklage ist im hier bestehenden [X.] zulässig (vgl zB B[X.]E 102, 172 = [X.]-2500 § 109 [X.], Rd[X.] 9 mwN; B[X.]E 104, 15 = [X.]-2500 § 109 [X.], Rd[X.] 12; B[X.] [X.]-2500 § 115a [X.] Rd[X.] ). Die Klägerin hat gegen die Beklagte den geltend gemachten Restanspruch, denn er ist entstanden (dazu 1.) und nicht nach [X.] und Glauben verwirkt (dazu 2.).

8

1. Die Voraussetzungen des Anspruchs der Klägerin auf Zahlung weiterer 5260,09 Euro Krankenhausvergütung für die Behandlung der Versicherten im Zeitraum vom 31.5. bis zum [X.] sind erfüllt. Der Vergütungsanspruch des Krankenhauses und dazu korrespondierend die Zahlungsverpflichtung einer [X.] entstehen - unabhängig von einer Kostenzusage - unmittelbar mit der Inanspruchnahme der Leistung durch den Versicherten kraft Gesetzes, wenn die Versorgung - wie hier - in einem zugelassenen Krankenhaus durchgeführt wird und iS von § 39 Abs 1 S 2 [X.]B V erforderlich ist (stRspr, vgl zB B[X.]E 102, 172 = [X.]-2500 § 109 [X.], Rd[X.] 11; B[X.]E 102, 181 = [X.]-2500 § 109 [X.], Rd[X.]; B[X.]E 109, 236 = [X.]-5560 § 17b [X.], Rd[X.]; B[X.] [X.]-2500 § 109 [X.]7 Rd[X.] 9; B[X.] [X.]-7610 § 204 [X.] Rd[X.]). Die Klägerin berechnete hierfür nach den [X.], den Senat bindenden Feststellungen des [X.] (§ 163 [X.]G) rechtmäßig aufgrund der [X.] insgesamt 6955,28 Euro. Die Beklagte zahlte hierauf lediglich 1695,19 Euro; danach verbleibt ein von der [X.] zu zahlender (Rest-)Vergütungsanspruch in Höhe von 5260,09 Euro. Der Zinsanspruch beruht auf § 10 Abs 5 [X.] ([X.] gemäß § 112 Abs 2 S 1 [X.] 1 [X.]B V zwischen der [X.] einerseits und der [X.] sowie weiteren [X.]n andererseits [X.]) iVm § 288 Abs 1 BGB (vgl B[X.] [X.]-2500 § 69 [X.] 7).

9

2. Die Klägerin war nach dem Grundsatz von [X.] und Glauben (§ 242 BGB) nicht daran gehindert, ihren Restzahlungsanspruch gegenüber der [X.] noch im Februar 2011 geltend zu machen. Die Beklagte beruft sich ohne Erfolg auf den Einwand der Verwirkung. Das [X.] passt als ergänzende Regelung innerhalb der kurzen vierjährigen Verjährungsfrist grundsätzlich nicht. Es findet nur in besonderen, engen Ausnahmekonstellationen Anwendung (vgl B[X.] Urteil vom 12.11.2013 - [X.] KR 56/12 R - [X.]-2500 § 264 [X.] Rd[X.]; B[X.]E 112, 141 = [X.]-2500 § 275 [X.], Rd[X.] 37 mwN), etwa wenn eine Nachforderung eines Krankenhauses nach vorbehaltlos erteilter Schlussrechnung außerhalb des laufenden Haushaltsjahres der [X.] erfolgt (B[X.] [X.]-2500 § 109 [X.]; B[X.] [X.]-2500 § 109 [X.]7). Um eine solche Nachforderung geht es indes nicht.

Die Verwirkung als Ausprägung des Grundsatzes von [X.] und Glauben (§ 242 BGB) ist auch für das Sozialversicherungsrecht und insbesondere für die Nachforderung von Beiträgen zur Sozialversicherung anerkannt. Sie setzt als Unterfall der unzulässigen Rechtsausübung voraus, dass der Berechtigte die Ausübung seines Rechts während eines längeren Zeitraums unterlassen hat und weitere besondere Umstände hinzutreten, die nach den Besonderheiten des Einzelfalls und des in Betracht kommenden Rechtsgebietes das verspätete [X.] des Rechts dem Verpflichteten gegenüber nach [X.] und Glauben als illoyal erscheinen lassen. Solche, die Verwirkung auslösenden "besonderen Umstände" liegen vor, wenn der Verpflichtete infolge eines bestimmten Verhaltens des Berechtigten (Verwirkungsverhalten) darauf vertrauen durfte, dass dieser das Recht nicht mehr geltend machen werde (Vertrauensgrundlage) und der Verpflichtete tatsächlich darauf vertraut hat, dass das Recht nicht mehr ausgeübt wird (Vertrauenstatbestand) und sich infolgedessen in seinen Vorkehrungen und Maßnahmen so eingerichtet hat ([X.]), dass ihm durch die verspätete Durchsetzung des Rechts ein unzumutbarer Nachteil entstehen würde (stRspr; vgl B[X.]E 112, 141 = [X.]-2500 § 275 [X.], Rd[X.] 37; B[X.]E 109, 22 = [X.]-2400 § 7 [X.] 14, Rd[X.] 36; B[X.] [X.]-2400 § 24 [X.] 5 Rd[X.] 31; B[X.] [X.]-2600 § 243 [X.] Rd[X.] 36; B[X.] [X.]-4200 § 37 [X.] 1 Rd[X.]; B[X.] [X.] 3-2400 § 4 [X.] 5 S 13; B[X.] Urteil vom [X.] - Juris Rd[X.]7; B[X.]E 80, 41, 43 = [X.] 3-2200 § 1303 [X.] 6 S 17 f; B[X.] Urteil vom 1.4.1993 - 1 RK 16/92 - [X.] 44, 478, 483 = Juris Rd[X.]3; B[X.] [X.] 2200 § 520 [X.] 3 S 7; B[X.] Urteil vom [X.] - Juris Rd[X.]; B[X.]E 47, 194, 196 = [X.] 2200 § 1399 [X.] 11 S 15; B[X.] Urteil vom [X.] - 9 RV 238/71 - Juris Rd[X.]; vgl auch [X.], Vertrauensschutz in der Rechtsprechung der Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit, in [X.] , Der [X.] des [X.], 2012, [X.] ff, 167 f).

An solchen die Verwirkung auslösenden Umständen fehlt es vorliegend. Hierfür genügt es nicht, dass sich die Klägerin die aus Sicht der [X.] berechtigte Teilzahlung überweisen ließ, ohne sich hierzu zu äußern. Das Schweigen der Klägerin war nicht beredt. Grundsätzlich kann Schweigen im Rechtsverkehr nicht als Zustimmung gewertet werden, soweit nicht besondere Umstände dies rechtfertigen (vgl etwa [X.], 915 Rd[X.]). Der bloße Zeitablauf stellt kein die Verwirkung begründendes Verhalten dar. Der Umstand, dass die Klägerin der "Verrechnung" erst im Februar 2011 widersprochen hat, genügt deshalb nicht. Hierdurch unterscheidet sich die Verwirkung von der Verjährung (s ferner ergänzend zu den bereits oben genannten Entscheidungen B[X.]E 51, 260, 262 = [X.] 2200 § 730 [X.] S 4; B[X.] Urteil vom 30.10.1969 - 8 RV 53/68 - USK 6983 S 345 = Juris Rd[X.]3; B[X.]E 38, 187, 194 = [X.] 2200 § 664 [X.] 1 S 9; B[X.]E 34, 211, 214 = [X.] [X.] 14 zu § 242 BGB; B[X.]E 7, 199, 200 f; vgl auch [X.], 445, 446). Nichtstun, also Unterlassen, kann ein schutzwürdiges Vertrauen in Ausnahmefällen allenfalls dann begründen und zur Verwirkung des Rechts führen, wenn der Schuldner dieses als bewusst und planmäßig erachten darf (vgl B[X.] Urteil vom [X.] - USK 80292 S 1312 = Juris Rd[X.] 32; B[X.]E 47, 194, 197 f = [X.] 2200 § 1399 [X.] 11 S 17; B[X.]E 45, 38, 48 = [X.]100 § 40 [X.] S 55). Hierbei kann zu berücksichtigen sein, wie sich das Verhalten nach [X.] und Glauben unter Berücksichtigung der Verkehrssitte darstellt (vgl dazu [X.], Der Grundsatz von [X.] und Glauben im Allgemeinen Verwaltungsrecht, 2006, [X.]; ebenso [X.], Mißbrauch von Rechten, selbstwidersprüchliches Verhalten und Verwirkung im öffentlichen Recht, 2000, S 221).

Ein solcher Ausnahmefall liegt hier nicht vor. Die Klägerin gab der [X.] keinen Anlass dafür, anzunehmen, ihr Schweigen auf die ganz massive Rechnungskürzung und Teilzahlung bedeute, sie werde ohne ein weiteres Wort zu verlieren davon absehen, die ihr noch zustehenden 5260,09 Euro nebst Zinsen geltend zu machen. Dafür, dass ein solches Verhalten üblich ist, liegt nichts vor. Die Beklagte konnte nicht ihrerseits eine Äußerungspflicht der Klägerin einseitig begründen, indem sie ohne Rechtsgrundlage die Einhaltung von selbst erdachten "[X.]" forderte. Insgesamt fehlt es an einem zu der schlichten Untätigkeit hinzutretenden zusätzlichen Verwirkungsverhalten, aufgrund dessen die Beklagte darauf hätte vertrauen dürfen, die Klägerin werde ihren Anspruch nicht mehr geltend machen. Weder aus den Feststellungen des [X.] noch aus dem Vorbringen der [X.] ergeben sich hierfür irgendwelche Anhaltspunkte.

3. [X.] beruht auf § 197a Abs 1 S 1 Teils 3 [X.]G iVm § 154 Abs 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 197a Abs 1 S 1 Teils 1 [X.]G iVm § 63 Abs 2, § 52 Abs 1 und 3 sowie § 47 Abs 1 GKG.

Meta

B 1 KR 47/12 R

01.07.2014

Bundessozialgericht 1. Senat

Urteil

Sachgebiet: KR

vorgehend SG Darmstadt, 23. April 2012, Az: S 8 KR 77/11, Urteil

§ 39 Abs 1 S 2 SGB 5, § 109 Abs 4 S 3 SGB 5, § 112 Abs 2 S 1 Nr 1 SGB 5, § 7 S 1 Nr 1 KHEntgG, § 17b KHG, § 45 Abs 2 SGB 1, § 242 BGB, § 812 BGB, § 814 BGB

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Urteil vom 01.07.2014, Az. B 1 KR 47/12 R (REWIS RS 2014, 4460)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2014, 4460

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