Bundesgerichtshof, Beschluss vom 19.01.2011, Az. IV ZB 29/10

4. Zivilsenat | REWIS RS 2011, 10300

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Gegenstand

Wert der Berufungsbeschwer: Rückstufung in eine niedrigere Schadensfreiheitsklasse der Kfz-Haftpflichtversicherung


Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde der Klägerin wird der Beschluss der 5. Zivilkammer des [X.] vom 1. September 2010 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

[X.]: 673,04 Euro

Gründe

1

1. Die Klägerin legt ihrem Kfz-Haftpflichtversicherer die ermessensfehlerhafte Regulierung eines Verkehrsunfallschadens zur Last und erstrebt seine Verpflichtung, den Versicherungsvertrag in der bisher zugrunde gelegten Schadenfreiheitsklasse 10 (entsprechend einem Beitragssatz von 45%) ohne Berücksichtigung dieser Schadenregulierung fortzuführen. Das Amtsgericht hat die Klage abgewiesen und eine Berufung gegen seine Entscheidung nicht zugelassen.

2

Mit dem angefochtenen Beschluss hat das [X.] die Berufung der Klägerin verworfen, weil der Streitwert nur auf bis zu 600 Euro festgesetzt worden und die Berufung deshalb unzulässig sei. Zur Begründung hat es auf seinen Streitwertfestsetzungsbeschluss vom 15. Juli 2010 verwiesen. Dagegen wendet sich die Klägerin mit der Rechtsbeschwerde.

3

2. Das Rechtsmittel ist statthaft (§ 574 Abs. 1 Nr. 1; § 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO), auch im Übrigen zulässig (§ 574 Abs. 2 ZPO) und in der Sache begründet. Die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordert eine Entscheidung des [X.], weil das [X.] Verfahrensgrundrechte der Klägerin verletzt hat (vgl. dazu [X.], Beschluss vom 4. Juli 2002 - [X.], [X.]Z 151, 221, 226 f.). Die Wertgrenze des § 26 Nr. 8 EGZPO gilt im Rechtsbeschwerdeverfahren nicht ([X.], Beschluss vom 4. September 2002 - [X.], NJW 2002, 3783 unter II 1).

4

a) Die Festlegung des [X.] auf lediglich bis zu 600 Euro und die darauf gestützte Berufungsverwerfung verletzen die Klägerin in ihren Verfahrensgrundrechten aus Art. 103 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG.

5

aa) Art. 103 Abs. 1 GG gebietet [X.] eine Verfahrensgestaltung, die den Parteien rechtliches Gehör in einem Ausmaß eröffnet, das dem Erfordernis effektiven Rechtsschutzes gerecht wird (vgl. dazu [X.] 74, 228, 233 f.). Dazu gehört, dass er den Vortrag der Parteien vollständig zur Kenntnis nimmt.

6

Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG gewährt den Parteien eines Rechtsstreits den Anspruch auf ein faires Verfahren sowie effektiven Rechtsschutz. Das Gericht muss deshalb das Verfahrensrecht so handhaben, dass die eigentlichen materiellen Rechtsfragen entschieden werden und ihnen nicht durch übertriebene Anforderungen an das formelle Recht ausgewichen wird (vgl. [X.], NJW 2005, 814, 815 m.w.N.). Insbesondere darf den Prozessparteien der Zugang zu den Gerichten nicht in unzumutbarer, durch [X.] nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden.

7

bb) Diesen Maßstäben wird die angefochtene Entscheidung nicht gerecht.

8

Der [X.] im Sinne des § 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO ist gemäß § 2 ZPO nach den §§ 3 bis 9 ZPO zu ermitteln ([X.], Beschluss vom 8. Dezember 1977 - [X.], [X.], 335). Er ist nach dem Interesse des Berufungsführers an der Änderung der angefochtenen Entscheidung zu bemessen und bestimmt sich hier am Interesse der Klägerin, eine antragsgemäße Verurteilung der Beklagten zu erreichen. Dieses besteht in dem wirtschaftlichen Vorteil, der der Klägerin bei Fortführung ihres Versicherungsvertrages in der bisherigen Schadenfreiheitsklasse erhalten bliebe. Sie müsste dann - ausgehend von der vor der Schadenregulierung erreichten Schadenfreiheitsklasse 10 (Beitragssatz 45%) - insgesamt 673,04 Euro weniger an Prämien zahlen, bis sie in die günstigste Schadenfreiheitsklasse eingestuft würde. Die Klägerin hat dazu eine schriftliche Auskunft der Beklagten vom 28. Januar 2009 zur Akte gereicht, in der es wörtlich heißt:

"Für den Haftpflichtschaden vom 08.03.2008 haben wir eine Entschädigung geleistet. Dadurch ist Ihr Haftpflichtvertrag belastet und ab erster Fälligkeit im [X.] in die Klasse [X.] 60 % Beitragssatz einzustufen.

[X.] bestätigen wir Ihnen, dass durch diesen Schaden bis zum Erreichen der Schadensfreiheitsklasse mit dem günstigsten Beitragssatz eine Mehrbelastung von 673,04 Euro entsteht.

Hierbei haben wir den jetzigen Vertragsstand zu Grunde gelegt. Der genannte Betrag kann nur als Richtwert dienen. Künftige Anpassungen der Beiträge, Änderungen des [X.] (z.B. durch einen weiteren Schaden), Vertragsänderungen, Fahrzeugwechsel sowie die Umstellung des [X.] konnten wir verständlicherweise nicht berücksichtigen."

9

Das Berufungsgericht hat dessen ungeachtet angenommen, diese Berechnung des Rückstufungsnachteils träfe nur zu, wenn die Klägerin aus der günstigsten Schadenfreiheitsklasse zurückgestuft worden wäre, sie sei aber aus der Schadenfreiheitsklasse 10 (Beitragssatz 45%) in die Schadenfreiheitsklasse 4 (60%) zurückgestuft worden.

Das entbehrt jeder Grundlage und setzt sich über den eindeutigen Inhalt der Auskunft des Versicherers hinweg, der zufolge es sich bei dem genannten Betrag von 673,04 Euro um den anhand des konkreten Vertragsstandes der Klägerin ermittelten voraussichtlichen Prämienmehraufwand handelt, der nunmehr - allein durch die hier erfolgte Rückstufung bedingt - zusätzlich aufgewendet werden müsste, bis die höchste Schadenfreiheitsklasse von der Klägerin erreicht werden kann. Weshalb diese Berechnung - entgegen der Auskunft des Versicherers - nur bei einer Rückstufung aus der höchsten Schadenfreiheitsklasse gerechtfertigt sein soll, ist nicht ersichtlich. Unerheblich ist im Übrigen, dass die Klägerin möglicherweise infolge künftiger Schadenfälle noch weitere [X.] erleiden kann und sich auch andere für die Prämienberechnung maßgebliche Faktoren in Zukunft ändern können. Denn solche hypothetischen Kausalverläufe sind bei der Wertermittlung nicht zu berücksichtigen.

b) Ob der angefochtene Beschluss auch deshalb aufzuheben gewesen wäre, weil er nicht mit den nach dem Gesetz erforderlichen Gründen versehen ist (vgl. dazu [X.], Beschlüsse vom 14. Juni 2010 - [X.], NJW-RR 2010, 1582 Rn. 4 ff.; vom 28. April 2008 - [X.], NJW-RR 2008, 1455 Rn. 4 jeweils m.w.N.), kann dahinstehen.

[X.]                               [X.]                                     Dr. Kessal-Wulf

                   Felsch                                 [X.]

Meta

IV ZB 29/10

19.01.2011

Bundesgerichtshof 4. Zivilsenat

Beschluss

Sachgebiet: ZB

vorgehend LG Lüneburg, 1. September 2010, Az: 5 S 120/10, Beschluss

§ 2 ZPO, § 511 Abs 2 Nr 1 ZPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 19.01.2011, Az. IV ZB 29/10 (REWIS RS 2011, 10300)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 10300

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