Bundesgerichtshof, Urteil vom 21.03.2024, Az. IX ZR 138/22

9. Zivilsenat | REWIS RS 2024, 1253

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Gegenstand

Verjährungsfristbeginn bei Klärung in Vorabentscheidungsverfahren und entgegenstehender nationaler höchstrichterlicher Rechtsprechung


Leitsatz

Besteht eine entgegenstehende nationale höchstrichterliche Rechtsprechung, beginnt die Verjährungsfrist eines Anspruchs auf Schadensersatz wegen einer von Anfang an ungerechtfertigten einstweiligen Verfügung, wenn die einstweilige Verfügung weiter besteht und keine Hauptsacheentscheidung zugunsten des Verfügungsgegners ergangen ist, nicht bereits in dem Zeitpunkt, in dem die zwischen den Parteien streitige Rechtsfrage im Wege eines Vorabentscheidungsurteils des Gerichtshofs der Europäischen Union über die Auslegung einer Richtlinie der Europäischen Union im Sinne der im einstweiligen Verfahren in Anspruch genommenen Partei geklärt ist.

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 6. Zivilsenats des [X.] vom 8. Juni 2022 aufgehoben. Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

Tatbestand

1

Die Klägerin nimmt die Beklagte auf Schadensersatz wegen Vollziehung einer einstweiligen Verfügung in Anspruch.

2

Die Klägerin vertreibt in [X.] als Parallelimporteurin von Arzneimitteln und Medizinprodukten unter anderem aus dem [X.] eingeführte Teststreifen für von der [X.] hergestellte Blutzuckermessgeräte zur Eigenanwendung der Marke "A.       ". Diese verpackt sie hierfür um, versieht sie mit einem [X.] Etikettenaufkleber und fügt eine [X.] Gebrauchsanweisung bei. Die Beklagte vertreibt als Vertriebsgesellschaft der [X.] ebenfalls solche Blutzuckerteststreifen in [X.].

3

Am 17. September 2010 erwirkte die Beklagte beim [X.] eine Beschlussverfügung, mittels derer der Klägerin untersagt wurde, aus Ländern der [X.] und/oder des [X.] eingeführte Blutzuckerteststreifenverpackungen mit der Kennzeichnung "A.        A.    , "A.        C.     " und "[X.]      " mit einer umgestalteten Packung und/oder Gebrauchsanweisung in den Verkehr zu bringen, ohne dass diese Gebrauchsanweisungen oder Etikettierungen vorab in einem erneuten oder ergänzenden Konformitätsbewertungsverfahren überprüft worden sind. Die Entscheidung des [X.] stand dabei im Einklang mit dem Urteil des [X.] vom 12. Mai 2010 ([X.], [X.], 756 - [X.]), wonach In-vitro-Diagnostika zur Eigenanwendung im Inland nur in Verkehr gebracht werden durften, wenn sie eine Gebrauchsanweisung und eine Etikettierung in [X.]r Sprache enthalten, die vorab in einem erneuten oder ergänzenden Konformitätsbewertungsverfahren überprüft worden sind.

4

Mit Urteil vom 13. Oktober 2016 entschied der Gerichtshof der [X.] auf ein Vorabentscheidungsersuchen des [X.] (Beschluss vom 30. April 2015 - [X.], [X.], 729 - Teststreifen zur [X.]), dass Art. 9 der [X.]/[X.] und des Rates vom 27. Oktober 1998 über In-vitro-Diagnostika ([X.]. [X.]) dahin auszulegen ist, dass er den Parallelimporteur eines Produkts zur Eigenanwendung für die Blutzuckerbestimmung, das die [X.] trägt und von einer benannten Stelle einer Konformitätsbewertung unterzogen worden ist, nicht verpflichtet, eine neue Bewertung vornehmen zu lassen, mit der die Konformität der Kennzeichnung und der Gebrauchsanweisung dieses Produkts wegen ihrer Übersetzung in die Amtssprache des Einfuhrmitgliedstaats bescheinigt werden soll ([X.], Urteil vom 13. Oktober 2016 - [X.]/15, [X.], 1149, Rn. 43 f, 52 - [X.]/[X.]). Daraufhin forderte die Klägerin die Beklagte mit Schreiben vom 25. Oktober 2016 auf, auf die Ausübung ihrer Rechte aus der Beschlussverfügung des [X.] Frankfurt am Main vom 17. September 2010 zu verzichten. Nachdem die Beklagte dies unter Hinweis auf die noch ausstehende endgültige Entscheidung des [X.] im Ausgangsverfahren abgelehnt hatte, erhob die Klägerin mit Schriftsatz vom 20. Dezember 2016 Widerspruch gegen die Beschlussverfügung des [X.] Frankfurt am Main. Mit Urteil vom 1. Juni 2017 schloss sich der [X.] unter Aufgabe seiner bisherigen Rechtsprechung dem Urteil des Gerichtshofs der [X.] vom 3. Oktober 2016 an ([X.], Urteil vom 1. Juni 2017 - [X.], [X.], 938 Rn. 23 - Teststreifen zur [X.]I). Am 6. Juli 2017 hob das [X.] auf den Widerspruch der Klägerin die Beschlussverfügung vom 17. September 2010 auf.

5

Die Klägerin verlangt von der [X.] gemäß § 945 Variante 1 ZPO wegen der Vollziehung der einstweiligen Verfügung den Ersatz entgangenen Gewinns sowie weiteren Schadensersatz. Das [X.] hat die Klage abgewiesen, weil der geltend gemachte Anspruch aus § 945 Variante 1 ZPO mit Ablauf des 31. Dezember 2019 verjährt sei. Die Berufung der Klägerin hat keinen Erfolg gehabt. Mit der vom Senat zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihre Zahlungsansprüche gegen die Beklagte unverändert weiter.

Entscheidungsgründe

6

Die Revision führt zur Aufhebung und Zurückverweisung.

I.

7

Das Berufungsgericht hält den Anspruch aus § 945 Variante 1 ZPO für verjährt. Der Anspruch [X.] mit einer Frist von drei Jahren, beginnend mit dem Schluss des Jahres, in dem der Anspruch entstanden sei und der Gläubiger von den anspruchsbegründenden Umständen und der Person des Schuldners Kenntnis erlangt habe. Diese Kenntnis habe der [X.], wenn er aufgrund der ihm bekannten Tatsachen eine Schadensersatzklage erheben könne, die bei verständiger Würdigung so viel Erfolgsaussicht habe, dass sie ihm zumutbar sei. Für den Beginn der Verjährungsfrist sei nicht zwingend erforderlich, dass die einstweilige Verfügung aufgehoben oder über den [X.] in einem Hauptsacheverfahren entschieden worden sei; entscheidend sei vielmehr, ob die Sach- und Rechtslage eindeutig geklärt sei. Die für den Beginn der Verjährung maßgebliche Klarheit über die fehlende Rechtfertigung der einstweiligen Verfügung könne auch dadurch eintreten, dass sich die höchstrichterliche Rechtsprechung zu der Rechtsfrage ändere, auf der die Verfügung allein tragend beruhe, oder dass dieser bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung durch eine Vorabentscheidung des [X.] der Boden entzogen worden sei.

8

Jedenfalls ab dem 25. Oktober 2016 sei der Klägerin aufgrund der ihr bekannten Einzelfallumstände eine Klageerhebung zumutbar gewesen, so dass die Verjährungsfrist mit dem Schluss des Jahres 2016 zu laufen begonnen habe und die am 29. Dezember 2020 bei Gericht eingereichte Leistungsklage die Verjährung nicht mehr habe hemmen können. Aufgrund des Urteils des Gerichtshofs der [X.] vom 13. Oktober 2016 ([X.]/15, [X.], 1149, Rn. 43 f, 52 - [X.]/[X.]) habe die Klägerin keinen vernünftigen Zweifel daran haben können, dass die Beschlussverfügung des [X.] vom 17. September 2010 bereits von Anfang an ungerechtfertigt gewesen sei. Auch wenn die Vorabentscheidung des Gerichtshofs der [X.] nur die mit dem Ausgangsverfahren befassten Gerichte gebunden hätte, sei mit hoher Sicherheit zu erwarten gewesen, dass sich die letztinstanzlichen Gerichte und mit ihnen die Instanzgerichte in anderen Verfahren mit hinreichend identischen streitentscheidenden Fragen der Auslegung des Gerichtshofs der [X.] anschließen würden.

II.

9

Die Ausführungen des Berufungsgerichts halten rechtlicher Prüfung nicht stand.

1. Die Verjährung des Schadensersatzanspruchs nach § 945 Variante 1 ZPO beginnt nach ständiger Rechtsprechung des [X.] im Regelfall erst mit dem Abschluss des Verfahrens betreffend den Erlass einer einstweiligen Verfügung. Erst mit dem rechtskräftigen Abschluss des einstweiligen Verfahrens besteht für die dort in Anspruch genommene [X.] die für den Beginn der Verjährung ihres Schadensersatzanspruchs erforderliche Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis von den Umständen, aus denen sich die Ersatzpflicht des Verfügungsklägers ergibt, §§ 195, 199 Abs. 1 BGB. Denn der Schadensersatzanspruch nach § 945 ZPO ist nicht nur in seiner zweiten, die Aufhebung der einstweiligen Entscheidung nach § 926 Abs. 2 ZPO oder § 942 Abs. 2 ZPO ausdrücklich voraussetzenden Variante, sondern auch in seiner ersten Variante, wonach sich die Anordnung eines Arrests oder einer einstweiligen Verfügung als von Anfang an ungerechtfertigt erweisen muss, formal ausgestaltet. Der Ausgang des einstweiligen Verfahrens ist aufgrund der Bindungswirkung, welche die Aufhebung des Arrests oder der einstweiligen Verfügung im vorläufigen Verfahren als von Anfang an unbegründet für [X.] im [X.] entfaltet ([X.], Urteil vom 20. März 1979 - [X.], [X.]Z 75, 1, 5; Beschluss vom 8. Januar 1985 - [X.], [X.], 335), von streitentscheidender Bedeutung für den [X.]. Der Bestand eines Schadensersatzanspruchs hängt demnach in beiden [X.] des § 945 ZPO von einem weiteren prozessualen Geschehen ab, das im Voraus regelmäßig nicht abschließend beurteilt werden kann. Es wäre mithin weder [X.] noch prozesswirtschaftlich befriedigend, wenn die im einstweiligen Verfahren in Anspruch genommene [X.] zur Vermeidung des Eintritts der Verjährung schon vor Abschluss des einstweiligen Verfahrens eine Klage auf Feststellung ihres Schadensersatzanspruchs in einem Parallelprozess führen müsste ([X.], Urteil vom 20. März 1979, aaO S. 4 ff; vom 26. März 1992 - [X.], NJW 1992, 2297 f).

2. Der Grundsatz, wonach die Verjährung von Ansprüchen nach § 945 ZPO nicht vor rechtskräftigem Abschluss des einstweiligen Verfahrens beginnt, gilt allerdings, wie der [X.] bereits mehrfach ausgesprochen hat, nicht ausnahmslos.

a) So beginnt der Lauf der Verjährungsfrist bereits vor Abschluss des einstweiligen Verfahrens, wenn die [X.]en den Streit um den dem einstweiligen Rechtsschutz zugrundeliegenden Anspruch allein im Hauptsacheverfahren austragen und dieses rechtskräftig abgeschlossen ist. Mit dem Abschluss des Hauptsacheverfahrens ist die Grundlage für die jederzeitige Beseitigung des noch bestehenden Arrests oder der noch bestehenden einstweiligen Verfügung gegeben. Dies ermöglicht der im einstweiligen Verfahren in Anspruch genommenen [X.] eine abschließende Beurteilung des prozessualen Ergebnisses, von dem der Schadensersatzanspruch nach § 945 ZPO abhängt ([X.], Urteil vom 26. März 1992 - [X.], NJW 1992, 2297, 2298; vom 12. November 1992 - [X.], NJW 1993, 863, 864). Weitergehend hat der [X.] entschieden, dass es dem rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens gleichsteht, wenn in einem anderen [X.] das Hauptsacheverfahren rechtskräftig abgeschlossen ist und dieses Urteil in [X.] rechtskräftig anerkannt ist. Denn ein hiervon abweichendes Urteil darf dann in [X.] nicht mehr ergehen ([X.], Beschluss vom 26. Oktober 2006 - [X.], juris Rn. 2).

b) Der [X.] hat ferner angenommen, dass der Lauf der Verjährungsfrist vor Abschluss des einstweiligen Verfahrens beginnt, falls die einstweilige Verfügung aus formalen Gründen - im entschiedenen Fall wegen Versäumung der Vollziehungsfrist - aufgehoben wird und die im einstweiligen Verfahren in Anspruch genommene [X.] im Hauptsacheverfahren ein zwar noch nicht rechtskräftiges Urteil zu ihren Gunsten erzielt, dieses aber in hohem Maße dafür spricht, dass die einstweilige Verfügung von Anfang an nicht gerechtfertigt war. In diesem Fall kann sich der Verfügungsbeklagte zwar vorher nicht sicher sein, ob das zu seinen Gunsten ergangene Urteil im Hauptsacheverfahren rechtskräftig werden würde. Der [X.] hat es für den Beginn der Verjährungsfrist des Schadensersatzanspruchs nach § 945 Variante 1 ZPO aber im dort entschiedenen Fall für ausreichend erachtet, dass der Standpunkt, die einstweilige Verfügung sei von Anfang an ungerechtfertigt gewesen, mit überwiegender Erfolgsaussicht vertreten werden konnte ([X.], Urteil vom 15. Mai 2003 - [X.], NJW 2003, 2610, 2612).

3. Bislang ausdrücklich offen gelassen hat der [X.] die Frage, ob - bei noch bestehender einstweiliger Verfügung - die Verjährung des Anspruchs aus § 945 Variante 1 ZPO jedenfalls dann vor rechtskräftigem Abschluss des Hauptsacheverfahrens beginnt, wenn die Unbegründetheit des [X.]s auch unter Berücksichtigung der formalen Ausgestaltung der Tatbestandsvoraussetzungen klar auf der Hand liegt, etwa wenn die im einstweiligen Verfahren in Anspruch genommene [X.] bei tatsächlich unstreitigen und rechtlich einfachen oder höchstrichterlich geklärten Sachverhalten ein noch nicht rechtskräftiges Urteil zu ihren Gunsten erzielt hat (vgl. [X.], Urteil vom 26. März 1992 - [X.], NJW 1992, 2297, 2298; vom 15. Mai 2003 - [X.], NJW 2003, 2610, 2612; vom 23. März 2006 - [X.], [X.], 2557 Rn. 10). Diese Frage stellt sich im Streitfall nicht, weil die Unbegründetheit des [X.]s nicht schon allein aufgrund des Vorabentscheidungsurteils des Gerichtshofs der [X.] vom 13. Oktober 2016 ([X.]/15, [X.], 1149, Rn. 43 f, 52 - [X.]/[X.]) in diesem Sinn klar auf der Hand lag.

a) Die [X.]en streiten darüber, ob die Verjährungsfrist bereits im Zeitpunkt der Kenntnis der Klägerin von dem Urteil des Gerichtshofs der [X.] vom 13. Oktober 2016 begonnen hat, mit dem der Gerichtshof auf ein Vorabentscheidungsersuchen des [X.] entschieden hat, dass Art. 9 der [X.]/[X.] über In-vitro-Diagnostika dahin auszulegen ist, dass er den Parallelimporteur eines Produkts zur Eigenanwendung für die Blutzuckerbestimmung, das die [X.] trägt und von einer benannten Stelle einer Konformitätsbewertung unterzogen worden ist, nicht verpflichtet, eine neue Bewertung vornehmen zu lassen, mit der die Konformität der Kennzeichnung und der Gebrauchsanweisung dieses Produkts wegen ihrer Übersetzung in die Amtssprache des Einfuhrmitgliedstaats bescheinigt werden soll ([X.], Urteil vom 13. Oktober 2016 - [X.]/15, [X.], 1149, Rn. 43 f, 52 - [X.]/[X.]). Mit dieser Entscheidung hat der Gerichtshof der [X.] die zwischen den [X.]en streitige Rechtsfrage im Sinne der hiesigen Klägerin geklärt (vgl. nachfolgend [X.], Urteil vom 1. Juni 2017 - [X.], [X.], 938 Rn. 23 - Teststreifen zur [X.]). Eine gerichtliche Entscheidung über den [X.] zu Gunsten der im einstweiligen Verfahren in Anspruch genommenen hiesigen Klägerin war zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht ergangen. Ein Hauptsacheverfahren war zwischen den [X.]en nicht anhängig und im einstweiligen Verfahren hat das [X.] die einstweilige Verfügung auf den Widerspruch der Klägerin vom 20. Dezember 2016 erst mit Urteil vom 7. Juli 2017 wieder aufgehoben.

Im Streitfall stellt sich mithin die Frage, ob die Verjährung schon beginnt, wenn ein Vorabentscheidungsurteil des Gerichtshofs der [X.] eine zwischen den [X.]en streitige Rechtsfrage über die Auslegung einer Richtlinie der [X.] im Sinne der im einstweiligen Verfahren in Anspruch genommenen [X.] klärt, obwohl die einstweilige Verfügung weiter besteht und weder eine Hauptsacheentscheidung zugunsten des [X.]s noch eine Entscheidung über den [X.] im einstweiligen Verfahren ergangen ist. Diese Frage verneint der [X.] jedenfalls für die Fallkonstellation, dass eine entgegenstehende höchstrichterliche Rechtsprechung besteht.

b) Der [X.] hält daran fest, dass die Verjährung des [X.] nach § 945 Variante 1 ZPO aufgrund der formalen Ausgestaltung des Tatbestands grundsätzlich erst beginnt, wenn entweder das einstweilige Verfügungsverfahren oder das Hauptsacheverfahren rechtskräftig abgeschlossen ist. Erst mit dem Abschluss eines solchen Verfahrens ist der hinsichtlich eines wesentlichen Teils seiner positiven Elemente formal ausgestaltete Haftungstatbestand des § 945 Variante 1 ZPO voll beurteilbar (vgl. [X.], Urteil vom 20. März 1979 - [X.], [X.]Z 75, 1, 5). Das Urteil des [X.]s vom 15. Mai 2003 ([X.], NJW 2003, 2610, 2612) betrifft die Sonderkonstellation, in der die einstweilige Verfügung bereits aus formalen Gründen aufgehoben worden war.

Die Erfolgsaussichten einer Klage auf Schadensersatz wegen Vollziehung der einstweiligen Verfügung nach § 945 Variante 1 ZPO liegen jedenfalls dann noch nicht klar auf der Hand, wenn - wie hier - eine zwischen den [X.]en streitige Frage zum Verständnis einer Richtlinie der [X.] nur im Wege eines Vorabentscheidungsurteils durch den Gerichtshof der [X.] in einem Verfahren zwischen anderen [X.]en geklärt worden ist, zuvor für das nationale Recht eine gegenteilige höchstrichterliche Rechtsprechung ergangen ist und die [X.] Gerichte noch nicht geklärt haben, dass und wie die aus dem Vorabentscheidungsurteil des Gerichtshofs der [X.] folgende Auslegung der Richtlinie für das anwendbare nationale Recht gilt.

c) Im Streitfall mussten die [X.]en im Zeitpunkt des Erlasses der einstweiligen Beschlussverfügung vom 17. September 2010 aufgrund der damaligen höchstrichterlichen Rechtsprechung ([X.], Urteil vom 12. Mai 2010 - [X.], [X.], 756 - [X.]) davon ausgehen, dass In-vitro-Diagnostika zur Eigenanwendung in [X.] nur in Verkehr gebracht werden durften, wenn sie eine Gebrauchsanweisung und eine Etikettierung in [X.] enthielten, die vorab in einem erneuten oder ergänzenden Konformitätsbewertungsverfahren überprüft worden waren. Die in diesem Sinne eindeutige Rechtsprechung hat der [X.] erst im Nachgang zum Urteil des Gerichtshofs der [X.] vom 13. Oktober 2016 ([X.]/15, [X.], 1149, Rn. 43 f, 52 - [X.]/[X.]) mit Urteil vom 1. Juni 2017 ([X.], [X.], 938 Rn. 23 - Teststreifen zur [X.]) aufgegeben und sich der Rechtsauffassung des Gerichtshofs der [X.] angeschlossen. Frühestens ab diesem Zeitpunkt war die Rechtslage - nun im entgegen gesetzten Sinne zur bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung - geklärt und musste die hiesige Klägerin davon ausgehen, dass sie eine Aufhebung der einstweiligen Verfügung mit überwiegender Erfolgsaussicht würde erreichen können.

An die Entscheidung des Gerichtshofs der [X.] im Vorabentscheidungsverfahren über die Auslegung von Art. 9 der [X.]/[X.] über In-vitro-Diagnostika kann für den Zeitpunkt der Kenntnis oder grob fahrlässigen Unkenntnis der Klägerin von den Anspruch nach § 945 Variante 1 ZPO begründenden Umständen und der Person des Anspruchsgegners nicht angeknüpft werden. Die Bindungswirkung von Vorabentscheidungen des Gerichtshofs der [X.] in anderen Verfahren als dem Ausgangsverfahren ist in zweierlei Hinsicht beschränkt.

Die aufgrund des Art. 267 AEUV ergangenen Vorabentscheidungen des Gerichtshofs der [X.] binden grundsätzlich nur die mit dem Ausgangsverfahren befassten Gerichte. Eine Auslegung des nationalen Rechts und eine Würdigung seiner Wirkungen nimmt der Gerichtshof der [X.] dabei nicht vor. Die Vorabentscheidungen binden das vorlegende Gericht nur hinsichtlich der Auslegung der betreffenden gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen und Handlungen ([X.], Urteil vom 3. Februar 1977 - [X.]/76, Slg. 1977, 163, 183 - [X.]). Diese Bindungswirkung "inter partes" schließt zudem nicht aus, dass das nationale Gericht oder eine höhere Instanz den Gerichtshof der [X.] erneut anruft, falls es dies für erforderlich hält. Eine erneute Vorlage ist gerechtfertigt, wenn das nationale Gericht beim Verständnis oder der Anwendung des Urteils Schwierigkeiten hat, wenn es dem Gerichtshof eine neue Rechtsfrage stellt oder wenn es ihm neue Gesichtspunkte unterbreitet, die ihn dazu veranlassen könnten, eine bereits gestellte Rechtsfrage abweichend zu beurteilen ([X.], Beschluss vom 5. März 1986 - [X.]/85, Slg. 1986, 948 Rn. 15 - Wünsche/[X.]).

Dass Vorabentscheidungen des Gerichtshofs der [X.] auch in anderen Verfahren [X.] entfalten können, um eine einheitliche Auslegung des Gemeinschaftsrechts in allen Mitgliedstaaten sicherzustellen ([X.], Urteil vom 21. April 1994 - [X.], NJW 1994, 2607, 2608), genügt im Streitfall nicht. Unter Berücksichtigung der formalen Ausgestaltung des Schadensersatzanspruchs nach § 945 Variante 1 ZPO lag die Unbegründetheit des [X.]s angesichts der entgegenstehenden höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht klar auf der Hand.

d) Die Verjährungsfrist hat im Streitfall somit erst mit dem Schluss des Jahres 2017 zu laufen begonnen, so dass die auf den Zeitpunkt der Einreichung der vorliegenden Klage am 29. Dezember 2020 zurückwirkende Zustellung an die Beklagte den Ablauf der Verjährungsfrist rechtzeitig hemmen konnte.

III.

Eine eigene Sachentscheidung kann der [X.] nicht treffen, weil die Sache nicht zur Endentscheidung reif ist, § 563 Abs. 3 ZPO. Das Berufungsgericht hat - von seinem Standpunkt aus konsequent - bislang keine Feststellungen zu den weiteren Voraussetzungen des Schadensersatzanspruchs nach § 945 Variante 1 ZPO getroffen. Das angefochtene Urteil war danach aufzuheben und zur Nachholung der erforderlichen Feststellungen an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, § 562 Abs. 1, § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO.

Schoppmeyer     

      

Röhl     

      

Selbmann

      

Harms     

      

Weinland     

      

Meta

IX ZR 138/22

21.03.2024

Bundesgerichtshof 9. Zivilsenat

Urteil

Sachgebiet: ZR

vorgehend OLG Karlsruhe, 8. Juni 2022, Az: 6 U 203/21

§ 945 Alt 1 ZPO, § 195 BGB, § 199 Abs 1 BGB, Art 267 Abs 1 AEUV

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Urteil vom 21.03.2024, Az. IX ZR 138/22 (REWIS RS 2024, 1253)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2024, 1253


Verfahrensgang

Der Verfahrensgang wurde anhand in unserer Datenbank vorhandener Rechtsprechung automatisch erkannt. Möglicherweise ist er unvollständig.

Az. IX ZR 138/22

Bundesgerichtshof, IX ZR 138/22, 21.03.2024.


Az. 6 U 203/21

Oberlandesgericht Köln, 6 U 203/21, 24.06.2022.


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