Bundessozialgericht, Beschluss vom 14.11.2013, Az. B 9 SB 84/12 B

9. Senat | REWIS RS 2013, 1116

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Gegenstand

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Fürsorgepflicht des Gerichts gegenüber dem prozessunfähigen Beteiligten - besonderer Vertreter - Unwirksamkeit der Prozesshandlungen des Prozessunfähigen wegen Nichtgenehmigung - Vertreterpflichten - Wohl des Betreuten - Nachteil - gerichtliche Überprüfung - Zurückverweisung


Leitsatz

Ein Gericht hat grundsätzlich darauf zu achten, ob sich die prozessualen Handlungen eines für einen prozessunfähigen Beteiligten bestellten besonderen Vertreters im Rahmen der diesem obliegenden Pflichten gehalten haben.

Tenor

Auf die Beschwerde des [X.] wird der Beschluss des [X.] vom 26. September 2012 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Gründe

1

Mit Beschluss vom 26.9.2012 hat das [X.] [X.] ([X.]) die Berufung des [X.] gegen das Urteil des [X.] ([X.]) vom 18.4.2012 als unzulässig verworfen. Zur Begründung hat es unter Bezugnahme auf die Beschlüsse des Bundessozialgerichts (B[X.]) vom 4.10.2011 ([X.] [X.] 3/11 AR) und vom 12.7.2012 (B 9 SB 4/12 AR) ausgeführt, dass der vom [X.] bestellte besondere Vertreter, Rechtsanwalt A., auf Anfrage des Senats erklärt habe, dass er die vom Kläger erhobene Berufung sowie die eingereichten Anträge nicht genehmige (Schreiben vom 14.9.2012). Damit seien die vom Kläger persönlich vorgenommenen Prozesshandlungen, insbesondere die eingelegte Berufung, unwirksam. Gegen die Nichtzulassung der Revision in dieser Entscheidung hat der Kläger beim B[X.] Beschwerde eingelegt, die er mit dem Vorliegen von Verfahrensmängeln (§ 160 Abs 2 [X.] [X.]G) begründet.

2

Die Nichtzulassungsbeschwerde des [X.] ist zulässig. Die Begründung genügt den gesetzlichen Anforderungen (§ 160a Abs 2 S 3 [X.]G).

3

Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde - wie hier - darauf gestützt, dass ein Verfahrensmangel vorliege, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen könne (§ 160 Abs 2 [X.] [X.]G), so müssen zur Bezeichnung des [X.] die diesen (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dargetan werden (vgl B[X.] SozR 1500 § 160a [X.], 24, 34, 36). Darüber hinaus ist die Darlegung erforderlich, dass und warum die Entscheidung des [X.] - ausgehend von dessen materieller Rechtsansicht - auf dem Mangel beruhen kann, dass also die Möglichkeit einer Beeinflussung des Urteils besteht (vgl B[X.] SozR 1500 § 160a [X.], 36).

4

Diese Erfordernisse hat der Kläger beachtet. Er macht im Wesentlichen geltend, das [X.] habe ihm gegenüber seine Fürsorgepflicht verletzt, ihm den Zugang zum Gericht in nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert und rechtliches Gehör versagt, indem es seine Entscheidung ohne Weiteres darauf gestützt habe, dass sein besonderer Vertreter es abgelehnt habe, seine Einlegung der Berufung zu genehmigen. Sein auf Zuerkennung des Merkzeichens G gerichtetes Begehren sei jedenfalls nicht offensichtlich haltlos. Vielmehr liege eine weitere Sachverhaltsaufklärung nahe.

5

Die Beschwerde ist auch begründet. Der angegriffene Beschluss beruht auf einem Verfahrensmangel, weil das [X.] erkennbar nicht geprüft hat, ob sich der besondere Vertreter des [X.] bei seiner Weigerung, den Kläger bei der Durchführung der Berufung zu unterstützen, im Rahmen seiner dem Kläger gegenüber bestehenden Pflichten gehalten hat.

6

Gemäß § 72 Abs 1 [X.]G kann der Vorsitzende des jeweiligen Spruchkörpers für einen nicht prozessfähigen Beteiligten ohne gesetzlichen Vertreter bis zum Eintritt eines Vormundes, Betreuers oder Pflegers für das Verfahren einen besonderen Vertreter bestellen, dem alle Rechte, außer dem Empfang von Zahlungen, zustehen. [X.] ist eine Person, die sich nicht durch Verträge verpflichten kann (vgl § 71 Abs 1 [X.]G), also ua eine solche, die nicht geschäftsfähig iS des § 104 BGB ist, weil sie sich in einem nicht nur vorübergehenden, die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet (vgl § 104 [X.]) und deshalb nicht in der Lage ist, ihre Entscheidungen von vernünftigen Erwägungen abhängig zu machen.

7

Auf der Grundlage eines Gutachtens, das am [X.] von Dr. V., Chefarzt des [X.] der [X.], erstattet worden ist, hat das [X.] Köln den Kläger bereits im erstinstanzlichen Verfahren als prozessunfähig angesehen und ihm durch Beschluss vom [X.] Rechtsanwalt A., als besonderen Vertreter beigeordnet. Auch der Senat hat keine Zweifel an dem Vorliegen von [X.]keit (vgl dazu B[X.] SozR 4-1500 § 72 [X.] RdNr 8). Da die Bestellung des besonderen Vertreters nicht auf einen Rechtszug beschränkt worden ist, wirkt sie bis jetzt fort (vgl dazu [X.] in [X.]/[X.]/[X.], [X.]G, 10. Aufl 2012, § 72 Rd[X.]b mwN).

8

Die Pflichten eines besonderen Vertreters sind im [X.]G nicht ausdrücklich geregelt. Insofern liegt es nahe, § 15 [X.]B X heranzuziehen, der die Bestellung eines Vertreters im Verwaltungsverfahren betrifft. Ist ein Vertreter nicht vorhanden, so hat das Gericht nach § 15 Abs 1 [X.] [X.]B X auf Ersuchen der Behörde einen geeigneten Vertreter für einen Beteiligten zu bestellen, der infolge einer psychischen Krankheit oder einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung nicht in der Lage ist, in dem Verwaltungsverfahren selbst tätig zu werden. Gemäß § 15 Abs 4 [X.]B X gelten für das Amt des Vertreters in den Fällen des Abs 1 [X.] die Vorschriften über die Betreuung entsprechend. Demgemäß geht der Senat davon aus, dass sich auch die Pflichten eines nach § 72 Abs 1 [X.]G bestellten besonderen Vertreters an § 1901 BGB orientieren. § 1901 Abs 2 S 1 BGB sieht vor, dass der Betreuer die Angelegenheiten des Betreuten so zu besorgen hat, wie es dessen Wohl entspricht. Zum Wohl des Betreuten gehört auch die Möglichkeit, im Rahmen seiner Fähigkeiten sein Leben nach seinen eigenen Wünschen und Vorstellungen zu gestalten (§ 1901 Abs 2 S 2 BGB ). Darüber hinaus hat der Betreuer Wünschen des Betreuten zu entsprechen, soweit dies dessen Wohl nicht zuwiderläuft und dem Betreuer zuzumuten ist (§ 1901 Abs 3 BGB).

9

Ferner ist in diesem Zusammenhang Art 12 Übereinkommen der [X.] vom 13.12.2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen ([X.]; [X.], 1419 ff) zu berücksichtigen (vgl dazu allgemein Loytved/[X.] in [X.] , [X.], 2013, [X.], 135 ff). Nach Art 12 Abs 3 [X.] treffen die Vertragsstaaten geeignete Maßnahmen, um Menschen mit Behinderungen Zugang zu der Unterstützung zu verschaffen, die sie bei der Ausübung ihrer Rechts- und Handlungsfähigkeit gegebenenfalls benötigen. Dementsprechend sollte auch die Tätigkeit eines besonderen Vertreters darauf ausgerichtet sein, nicht einfach seine eigenen Entscheidungen an die Stelle derjenigen des prozessunfähigen Beteiligten zu setzen, sondern diesen - soweit wie möglich und zumutbar - bei der Ausübung seiner Rechts- und Handlungsfähigkeit zu unterstützen.

Im Rahmen seiner den Beteiligten gegenüber bestehenden Fürsorgepflicht (vgl dazu [X.] in [X.]/[X.]/[X.], [X.]G, 10. Aufl 2012, Vor § 60 RdNr 1b; [X.], aaO, § 106 Rd[X.] mwN) hat das Gericht zur Wahrung der prozessualen Rechte prozessunfähiger Beteiligter (vgl Art 19 Abs 4, Art 103 Abs 1 GG) grundsätzlich darauf zu achten, ob sich die Maßnahmen eines besonderen Vertreters, der für das bei ihm anhängige Verfahren bestellt ist, im Rahmen der Pflichten halten, die diesem dem prozessunfähigen Beteiligten gegenüber obliegen. Auch insoweit wirkt sich Art 12 Abs 3 [X.] bei der Auslegung des innerstaatlichen Rechts aus. Jedenfalls darf das Gericht eine Handlung des besonderen Vertreters, die den Wünschen und Interessen des prozessunfähigen Beteiligten erkennbar widerspricht, nicht ohne Weiteres seiner Entscheidung zum Nachteil des Vertretenen zugrunde legen.

Diesen Kriterien wird der vom Kläger angegriffene Beschluss des [X.] nicht gerecht. Er betrifft eine an sich statthafte Berufung gegen das klageabweisende Urteil des [X.] Köln vom 18.4.2012. Darin hat das [X.] zum Ausdruck gebracht, dass der Sachverhalt wegen der Weigerung des [X.], sich einer psychiatrischen Begutachtung zu unterziehen, nicht vollständig habe aufgeklärt werden können. Insofern ist das Berufungsbegehren des [X.] - wie dieser zutreffend geltend macht - nicht offensichtlich haltlos. Unter diesen Umständen durfte sich das [X.] nicht mit der ohne nähere Begründung abgegebenen Erklärung des besonderen Vertreters des [X.] begnügen, es sei nicht beabsichtigt, die vom Kläger eingereichten Anträge zu genehmigen. Auf die Beschlüsse des B[X.] vom 4.10.2011 - [X.] [X.] 3/11 AR - und vom 12.7.2012 - B 9 SB 4/12 AR - kann sich das [X.] insoweit nicht berufen, weil es sich dabei nicht um Entscheidungen über statthafte Rechtsmittel gehandelt hat.

Da die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 [X.] [X.]G vorliegen, macht der Senat von der in § 160a Abs 5 [X.]G vorgesehenen Möglichkeit Gebrauch, den angefochtenen Beschluss aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückzuverweisen.

Das [X.] wird ggf auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.

Meta

B 9 SB 84/12 B

14.11.2013

Bundessozialgericht 9. Senat

Beschluss

Sachgebiet: SB

vorgehend SG Köln, 18. April 2012, Az: S 10 SB 598/11, Urteil

§ 72 Abs 1 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 160a Abs 5 SGG, § 15 Abs 1 Nr 4 SGB 10, § 15 Abs 4 SGB 10, § 1901 BGB, Art 19 Abs 4 GG, Art 103 Abs 1 GG, Art 12 Abs 3 UNBehRÜbk

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 14.11.2013, Az. B 9 SB 84/12 B (REWIS RS 2013, 1116)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2013, 1116

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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