Bundessozialgericht, Beschluss vom 21.09.2016, Az. B 8 SO 127/15 B

8. Senat | REWIS RS 2016, 5181

© Bundessozialgericht, Dirk Felmeden

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Gegenstand

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - partielle Prozessunfähigkeit eines Beteiligten - Absehen von der Bestellung eines besonderen Vertreters - keine offensichtliche Haltlosigkeit des Klagebegehrens - absoluter Revisionsgrund


Tenor

Auf die Beschwerde der Klägerin wird das Urteil des [X.] vom 9. Juli 2015 - L 8 [X.] 317/14 - aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Die Klägerin ist 1963 geboren, steht nicht unter Betreuung, und bezieht seit dem [X.] wegen eines seelischen Leidens Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Dauer sowie seit Januar 2013 Pflegegeld nach dem [X.] - ([X.]) wegen Einschränkungen der Alltagskompetenz in erheblichem Maß. Sie bewohnt zusammen mit einer anderen Person eine Wohnung. Im Streit sind und waren in einer Vielzahl von Verfahren Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (Grundsicherungsleistungen) nach dem [X.] Zwölftes Buch - Sozialhilfe - ([X.]I).

2

Mit der im Juni 2014 erhobenen Klage macht die Klägerin Verfahrensfehler (Verstoß gegen [X.], unterbliebene notwendige Beiladung des Jobcenters) in einem im Jahr 2012 geführten gerichtlichen Verfahren geltend, in dem sie Leistungen für Unterkunft und Heizung begehrt hatte; die Klage blieb in beiden Instanzen ohne Erfolg (Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Osnabrück vom 23.9.2014; Urteil des Landessozialgerichts <[X.]> Niedersachsen-Bremen vom [X.]). Zur Begründung seiner Entscheidung hat das [X.] ua ausgeführt, die Klage sei unzulässig, weil kein tauglicher Gegenstand einer Feststellung iS des § 55 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz ([X.]) vorliege. Deshalb habe es, selbst wenn die Klägerin partiell prozessunfähig sein sollte, nicht der Bestellung eines besonderen Vertreters bedurft. Das Rechtsmittel sei "offensichtlich haltlos".

3

Mit der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision rügt die Klägerin als Verfahrensmangel, das [X.] habe zu Unrecht von der Bestellung eines besonderen Vertreters abgesehen; die Rechtsverfolgung sei nicht offensichtlich haltlos.

4

II. Die durch den vom Senat bestellten besonderen Vertreter und Prozessbevollmächtigten eingelegte Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision ist zulässig und begründet. Da der gerügte Verfahrensmangel vorliegt, konnte das angefochtene Urteil gemäß § 160a Abs 5 [X.] aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückverwiesen werden.

5

Die angefochtene Entscheidung beruht auf einem Verstoß gegen § 72 Abs 1 [X.], weil das [X.] zu Unrecht von der Bestellung eines besonderen Vertreters für die bereits im Klage- und Berufungsverfahren prozessunfähige Klägerin abgesehen hat. Diese war deshalb im Berufungsverfahren nicht wirksam vertreten (§ 202 [X.] iVm § 547 [X.] Zivilprozessordnung); hierin liegt ein absoluter Revisionsgrund, bei dem unterstellt wird, dass das Urteil des [X.] auf ihm beruht.

6

Gemäß § 72 Abs 1 [X.] kann der Vorsitzende des jeweiligen Spruchkörpers für einen nicht prozessfähigen Beteiligten ohne gesetzlichen Vertreter bis zum Eintritt eines Vormundes, Betreuers oder Pflegers für das Verfahren einen besonderen Vertreter bestellen, dem alle Rechte, außer dem Empfang von Zahlungen, zustehen. [X.] ist eine Person, die sich nicht durch Verträge verpflichten kann (vgl § 71 Abs 1 [X.]), also ua eine solche, die nicht geschäftsfähig iS des § 104 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) ist, weil sie sich gemäß § 104 [X.] 2 BGB in einem nicht nur vorübergehenden, die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet und deshalb nicht in der Lage ist, ihre Entscheidungen von vernünftigen Erwägungen abhängig zu machen. Dabei können bestimmte Krankheitsbilder auch zu einer sog partiellen [X.]keit führen, bei der die freie Willensbildung nur bezüglich bestimmter Prozessbereiche eingeschränkt ist. Soweit eine partielle [X.]keit anzunehmen ist, erstreckt sie sich auf den gesamten Prozess ([X.]-1500 § 160a [X.] 32 S 65).

7

Eine solche partielle [X.]keit im Hinblick auf die Führung von sozialgerichtlichen Rechtsstreitigkeiten ist auf Grund der überzeugenden Feststellungen des Facharztes für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie [X.] in dem vom Senat beigezogenen Gutachten vom [X.] samt ergänzender gutachterlicher Stellungnahme vom [X.] (im Verfahren [X.] [X.] 62/13 des [X.]) anzunehmen, die im Wege des [X.] verwertet worden sind. Insoweit wird zur näheren Begründung auf die Ausführungen im Senatsbeschluss vom 21.9.2016 - [X.] [X.] 126/15 B - verwiesen.

8

Im Berufungsverfahren durfte nicht davon abgesehen werden, einen besonderen Vertreter für die partiell prozessunfähige Klägerin zu bestellen. Steht die [X.]keit für den Prozess fest, muss dieser grundsätzlich mit einem besonderen Vertreter fortgeführt werden, wenn eine sonstige gesetzliche Vertretung nicht gewährleistet und ein Betreuer nicht bestellt ist (im Einzelnen zuletzt [X.]-1500 § 72 [X.] 2 Rd[X.] 9). Zwar sind Ausnahmen von der Vertreterbestellung für zulässig erachtet worden, wenn unter Anlegung eines strengen Maßstabs das Rechtsmittel eines [X.]en "offensichtlich haltlos" ist ([X.] 5, 176, 178 f), was insbesondere bei absurden Klagebegehren ohne jeden Rückhalt im Gesetz oder bei offensichtlich unschlüssigem Vorbringen anzunehmen ist, etwa wenn kein konkreter Streitgegenstand erkennbar ist, nur allgemeine Ausführungen ohne irgendeinen Bezug zum materiellen Recht geäußert werden oder wenn das Vorbringen bereits mehrmals Gegenstand gerichtlicher Entscheidungen war ([X.]-1500 § 72 [X.] 2 Rd[X.] 10). Diese Ausnahmen liegen nicht vor.

9

Bei der prozessualen Begründung eines offensichtlich haltlosen Klagebegehrens, wie es das [X.] mit einer aus anderen Gründen als der [X.]keit unzulässigen Klage seiner Entscheidung angenommen hat, ist jedoch besondere Zurückhaltung geboten (BSG aaO). Ein haltloses Klagebegehren ist deshalb nicht zu bejahen, wenn zumindest nach Hinweisen des Vorsitzenden (§ 106 [X.]) unter Berücksichtigung des Meistbegünstigungsgrundsatzes (vgl nur: [X.] 74, 77 ff = [X.] 3-4100 § 104 [X.] 11 [X.]9 ff; [X.] in [X.]/[X.]/[X.], [X.], 11. Aufl 2014, § 92 Rd[X.] 12 mwN) ein besonderer Vertreter in der Lage wäre, im wohlverstandenen Interesse der Klägerin sachdienliche Klageanträge mit hinreichendem Bezug zum materiellen Recht zu formulieren (BSG aaO).

Das [X.] wird ggf auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.

Meta

B 8 SO 127/15 B

21.09.2016

Bundessozialgericht 8. Senat

Beschluss

Sachgebiet: SO

vorgehend SG Osnabrück, 23. September 2014, Az: S 4 SO 122/14, Gerichtsbescheid

§ 160a Abs 1 S 1 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 72 Abs 1 SGG, § 71 Abs 1 SGG, § 104 Nr 2 BGB, § 202 S 1 SGG, § 547 Nr 4 ZPO

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 21.09.2016, Az. B 8 SO 127/15 B (REWIS RS 2016, 5181)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2016, 5181

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