Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 04.01.2022, Az. 1 B 100/21

1. Senat | REWIS RS 2022, 2224

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Gegenstand

Erfolglose Nichtzulassungsbeschwerde Wehrdienstentziehung Syrien ("starke Vermutung") (Grundsatz- und Verfahrensrüge)


Tenor

Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Beschluss des [X.] vom 30. November 2021 wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Gründe

1

Die [X.]eschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision hat keinen Erfolg.

2

1. Die Revision ist nicht wegen der geltend gemachten grundsätzlichen [X.]edeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) zuzulassen.

3

1.1 Grundsätzliche [X.]edeutung im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO kommt einer Rechtssache zu, wenn sie eine für die erstrebte Revisionsentscheidung entscheidungserhebliche Rechtsfrage des revisiblen Rechts aufwirft, die im Interesse der Einheit und der Fortbildung des Rechts revisionsgerichtlicher Klärung bedarf. Das Darlegungserfordernis des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO setzt insoweit die Formulierung einer bestimmten, höchstrichterlich noch ungeklärten und für die Revisionsentscheidung erheblichen Rechtsfrage des revisiblen Rechts und außerdem die Angabe voraus, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende [X.]edeutung besteht. Die [X.]eschwerde muss daher erläutern, dass und inwiefern die Revisionsentscheidung zur Klärung einer bisher revisionsgerichtlich nicht beantworteten fallübergreifenden Rechtsfrage des revisiblen Rechts führen kann (stRspr, vgl. [X.]VerwG, [X.]eschluss vom 19. August 1997 - 7 [X.] 261.97 - [X.] 310 § 133 VwGO Nr. 26 S. 14). Die [X.]egründungspflicht verlangt, dass sich die [X.]eschwerde mit den Erwägungen des angefochtenen Urteils, auf die sich die aufgeworfene Frage von angeblich grundsätzlicher [X.]edeutung bezieht, substantiiert auseinandersetzt und im Einzelnen aufzeigt, aus welchen Gründen der Rechtsauffassung, die der Frage zugrunde liegt, zu folgen ist (vgl. [X.]VerwG, [X.]eschlüsse vom 8. Juni 2006 - 6 [X.] - NVwZ 2006, 1073 Rn. 4 f. und vom 10. August 2015 - 5 [X.] - juris Rn. 3 m.w.N.).

4

1.2 Nach diesen Grundsätzen ist die Revision nicht wegen der geltend gemachten grundsätzlichen [X.]edeutung zuzulassen, weil weder ausdrücklich noch sinngemäß eine revisionsrechtlich klärungsfähige Rechtsfrage fallübergreifender [X.]edeutung darlegt ist und die [X.]eschwerde daher den Darlegungsanforderungen des § 133 Abs. 3 VwGO nicht genügt.

5

a) Der Hinweis auf die Rechtsprechung des [X.] (Urteil vom 29. Januar 2021 - OVG 3 [X.] 109.18 -) genügt nicht, weil zwar eine - vom [X.]erufungsgericht hier auch benannte - Abweichung bei der tatrichterlichen [X.]ewertung der Gefahr einer Verfolgungshandlung vorliegt (deren beachtliche Wahrscheinlichkeit das [X.]erufungsgericht hier geprüft und in Würdigung der Erkenntnislage verneint hat), nicht aber eine "Abweichung" in entscheidungserheblichen Rechtssätzen bezeichnet wird.

6

Für die Zulassung der Revision reicht, anders als für die Zulassung der [X.]erufung wegen grundsätzlicher [X.]edeutung nach § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO/§ 78 Abs. 3 Nr. 1 [X.] ([X.]VerwG, Urteil vom 31. Juli 1984 - 9 C 46.84 - [X.]VerwGE 70, 24 <26>), eine Tatsachenfrage grundsätzlicher [X.]edeutung nicht aus (stRspr, s. nur [X.]VerwG, [X.]eschluss vom 14. September 2020 - 1 [X.] -). Die Klärungsbedürftigkeit muss vielmehr in [X.]ezug auf den anzuwendenden rechtlichen Maßstab, nicht die richterliche Tatsachenwürdigung und -bewertung bestehen; auch der Umstand, dass das Ergebnis der zur Feststellung und Würdigung des [X.] berufenen Instanzgerichte voneinander abweicht oder für eine Vielzahl von Verfahren von [X.]edeutung ist, lässt für sich allein nach geltendem Revisionszulassungsrecht eine Zulassung wegen grundsätzlicher [X.]edeutung nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO nicht zu. Der Gesetzgeber hat insoweit auch für das gerichtliche Asylverfahren an den allgemeinen Grundsätzen des [X.] festgehalten und für das [X.] keine [X.]efugnis eröffnet, Tatsachen(würdigungs)fragen grundsätzlicher [X.]edeutung in "[X.]", wie sie etwa das [X.] Prozessrecht kennt, zu treffen. Nach der Rechtsprechung des [X.]s ([X.]VerwG, Urteil vom 8. September 2011 - 10 C 14.10 - [X.]VerwGE 140, 319 Rn. 21 ff. - zur Feststellung einer extremen Gefahrenlage) haben sich allerdings die [X.]erufungsgerichte nach § 108 VwGO (erkennbar) mit abweichenden Tatsachen- und Lagebeurteilungen anderer Oberverwaltungsgerichte/[X.] auseinanderzusetzen. Dies hat das [X.]erufungsgericht hier getan.

7

b) Keine andere [X.]eurteilung rechtfertigt daher, dass der Senat mit [X.]eschluss vom 20. Juli 2021 - 1 [X.] (1 C 21.21) - gegen das von der [X.]eschwerde herangezogene Urteil des [X.] wegen grundsätzlicher [X.]edeutung die Revision zur Klärung der Frage zugelassen hat,

"welche Anforderungen an die Annahme einer 'starken Vermutung' ([X.], Urteil vom 19. November 2020 - [X.]/19 - [X.]. 57) für eine Verknüpfung zwischen der Verweigerung des Militärdienstes unter den in Art. 9 Abs. 2 [X.]uchst. e der Richtlinie 2011/95/[X.] (§ 3a Abs. 2 Nr. 5 [X.]) genannten Voraussetzungen mit einem der in Art. 10 der Richtlinie 2011/95/[X.] (§ 3a Abs. 3 i.V.m. § 3b [X.]) genannten Verfolgungsgründe - sowie deren Widerlegung - zu stellen sind und welche [X.]edeutung einer solchen 'starken Vermutung' im Rahmen der richterlichen Überzeugungsbildung (§ 108 Abs. 1 VwGO) zukommt."

8

Denn es wird mit der [X.]eschwerde schon nicht dargelegt, ob diese Frage für die angegriffene [X.]erufungsentscheidung entscheidungserheblich ist.

9

c) Aus denselben Gründen geht auch die [X.]erufung auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs der [X.] (Gerichtshof) fehl, der unionsrechtlich eine Vermutung begründet habe, dass "die Wehrdienstentziehung in einem flüchtlingsrechtlich relevanten Zusammenhang zu einem der fünf Gründe in Art. 10 der [X.]-Richtlinie 2011/95/[X.] stets nationalrechtlich dazu führt, dass eine Flüchtlingsanerkennung nur dann verweigert werden kann, wenn hinreichende Sicherheit vor Verfolgung im [X.] besteht." Denn auch insoweit wird eine Abweichung in den für die Entscheidung maßgeblichen rechtlichen Ansätzen schon nicht dargelegt und vernachlässigt, dass das [X.]erufungsgericht in [X.]ewertung der Erkenntnislage zu den Verhältnissen in [X.] bereits die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Strafverfolgung oder [X.]estrafung (also einer Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a Abs. 2 Nr. 3 und 5 [X.]) geprüft und verneint hat.

Der Gerichtshof hat zudem nicht mit [X.]indungswirkung - und unabhängig von einer Veränderung der tatsächlichen Verfolgungslage - für die nationalen Gerichte festgestellt, dass [X.] bei Rückkehr nach [X.] mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nach Art und Schwere eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung zu besorgen haben. Er hat vielmehr die rechtlichen Maßstäbe entfaltet, nach denen die Gefahr von Verfolgungshandlungen sowie die Verknüpfung mit flüchtlingsrechtlich erheblichen [X.] zu beurteilen ist, hat insoweit auch eine starke Vermutung dafür gesehen, dass die Verweigerung des Militärdienstes unter den in Art. 9 Abs. 2 [X.]uchst. e dieser Richtlinie genannten Voraussetzungen mit einem der fünf in Art. 10 dieser Richtlinie aufgezählten Gründe in Zusammenhang stehe, dann aber betont, dass es Sache der zuständigen nationalen [X.]ehörden ist, in Anbetracht sämtlicher in Rede stehender Umstände die Plausibilität dieser Verknüpfung zu prüfen. Eine tatsächliche [X.]indung der nationalen [X.]ehörden und Gerichte an eine bestimmte tatrichterliche [X.]ewertung der [X.] enthält dies nicht ([X.]VerwG, [X.]eschluss vom 10. März 2021 - 1 [X.] 2.21 - NVwZ-RR 2021, 687).

d) Eine Abweichungsrüge (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) hat die [X.]eschwerde zu Recht nicht erhoben, weil weder der Gerichtshof der [X.] noch die Oberverwaltungsgerichte anderer Länder zu den in § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO abschließend bezeichneten Gerichten gehören, von denen eine revisionszulassungsrechtlich beachtliche Abweichung gerügt werden kann.

2. Die Revision ist auch nicht wegen eines [X.] (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) zuzulassen.

2.1 Ein Verfahrensmangel im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO ist schließlich nur dann hinreichend bezeichnet, wenn er sowohl in den ihn (vermeintlich) begründenden Tatsachen als auch in seiner rechtlichen Würdigung substantiiert dargetan wird (stRspr, vgl. [X.]VerwG, [X.]eschluss vom 10. November 1992 - 3 [X.] 52.92 - [X.] 303 § 314 ZPO Nr. 5). Dies ist hier nicht der Fall.

2.2 Es begründet schließlich auch keinen Verfahrensmangel, wenn das [X.]erufungsgericht eine europarechtliche Frage nicht dem Gerichtshof der [X.] vorlegt (oder dessen Entscheidung zu einer bereits vorgelegten Frage abwartet) und es in seinem Urteil auch die Revision nicht zulässt ([X.]VerwG, [X.]eschluss vom 22. Dezember 2004 - 10 [X.] 21.04 - [X.] 401.65 Hundesteuer Nr. 8 S. 21). Art. 267 Abs. 3 A[X.]V (vormals Art. 234 Abs. 3 EGV) verpflichtet das [X.]erufungsgericht zur Anrufung des Gerichtshofs der [X.] nur für den Fall, dass seine Entscheidung mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts nicht weiter angefochten werden kann. Vorliegend ist hiergegen aber die streitgegenständliche [X.]eschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision statthaft. Die Annahme der [X.]eschwerde, dass das [X.]erufungsgericht den Kläger [X.] entzogen hätte (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG), scheidet daher aus ([X.]VerwG, [X.]eschluss vom 12. Oktober 2010 - 7 [X.] 22.10 -).

2.3 Keine andere [X.]eurteilung rechtfertigt der Hinweis der [X.]eschwerdeschrift, die von dem [X.]erufungsgericht entschiedene Frage sei letztlich eine Tatsachenfrage und deswegen der revisionsgerichtlichen Überprüfung entzogen, sodass auch eine Vorlagepflicht bestanden habe. Dieses Vorbringen legt einen Verfahrensmangel schon deswegen nicht dar (§ 133 Abs. 3 VwGO), weil nach Art. 267 A[X.]V dem Gerichtshof der [X.] die Klärung von Fragen der Auslegung des Unionsrechts obliegt, nicht hingegen die [X.]ewertung von Tatsachenfragen.

3. Von einer weiteren [X.]egründung sieht der Senat ab (§ 133 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 2 VwGO).

4. [X.] folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § [X.] [X.] nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 [X.]. Gründe für eine Abweichung gemäß § 30 Abs. 2 [X.] liegen nicht vor.

Meta

1 B 100/21

04.01.2022

Bundesverwaltungsgericht 1. Senat

Beschluss

Sachgebiet: B

vorgehend Oberverwaltungsgericht für das Land Mecklenburg-Vorpommern, 30. November 2021, Az: 4 LB 180/18, Beschluss

§ 132 Abs 2 Nr 1 VwGO, § 132 Abs 2 Nr 3 VwGO, § 133 VwGO, § 3a Abs 2 Nr 3 AsylVfG, § 3a Abs 2 Nr 5 AsylVfG, § 3a Abs 3 AsylVfG, § 3b AsylVfG, Art 267 AEUV, Art 101 GG

Zitier­vorschlag: Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 04.01.2022, Az. 1 B 100/21 (REWIS RS 2022, 2224)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2022, 2224

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