Bundesfinanzhof, Beschluss vom 29.12.2010, Az. III B 90/09

3. Senat | REWIS RS 2010, 8

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Gegenstand

Ausreichende Bezeichnung eines angefochtenen Urteils - Grundsätzliche Bedeutung bei behaupteter Verfassungswidrigkeit und bei Tatsachenwürdigung durch das FG - Keine Divergenz wegen materieller Rechtsfehler


Leitsatz

1. NV: Wird eine Abschrift des erstinstanzlichen Urteils einer Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision nicht beigefügt, gehört zur ordnungsgemäßen Bezeichnung des mit der Beschwerde angefochtenen Urteils auch die Angabe des Tages der Entscheidung und des zutreffenden Aktenzeichens des Gerichts, das das Urteil erlassen hat .

2. NV: Die Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung wegen Verfassungswidrigkeit einer Norm erfordert eine substantiierte, an den Vorgaben des Grundgesetzes sowie der dazu ergangenen Rechtsprechung des BVerfG und des BFH orientierte inhaltliche Auseinandersetzung mit der rechtlichen Problematik .

3. NV: Der vom FG im Wege der Tatsachenwürdigung getroffenen Entscheidung, ob ein Kind bei einem mehrjährigen Schulbesuch im Ausland seinen Inlandswohnsitz bei den Eltern beibehält, kommt keine grundsätzliche Bedeutung zu .

Tatbestand

1

I. Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) --ein [X.] [X.] bezog für seine drei minderjährigen Kinder Kindergeld; seine Ehefrau ist [X.] Staatsangehörige. Der Beklagten und Beschwerdegegnerin (Familienkasse) wurde bekannt, dass ein Kind im August 2005 und die anderen zwei Kinder im August 2006 [X.] verlassen hatten und sich zum Zweck des Schulbesuchs bei den Großeltern in der [X.] aufhielten. Daraufhin hob die Familienkasse mit Bescheid vom 26. Februar 2008 die Festsetzung von Kindergeld für das eine Kind ab September 2005 und für die anderen zwei Kinder ab September 2006 auf. Sie zahlte auch kein Kindergeld nach abkommensrechtlichen Vorschriften. Der Einspruch des [X.] blieb erfolglos.

2

Das Finanzgericht ([X.]) wies die hiergegen erhobene Klage mit Urteil vom 7. Mai 2009 (zugestellt am 18. Mai 2009) ab. Es entschied, dass die während der Schulferien erfolgten Besuche der Eltern nicht für die Beibehaltung des Inlandswohnsitzes der Kinder in der elterlichen Wohnung ausreichten.

3

Mit Schriftsatz vom 18. Juni 2009 --eingegangen am gleichen Tag-- legte der Kläger beim [X.] ([X.]) gegen die Nichtzulassung der Revision Beschwerde ein. In diesem Schriftsatz wird das Gericht, der Name und die Anschrift des [X.], die Beklagte sowie als Verfahrensgegenstand Kindergeld angegeben. Dagegen wird das Urteil des Gerichts ohne Datum und mit falschem Aktenzeichen benannt. Eine Abschrift der angefochtenen Entscheidung war nicht beigefügt. Das [X.] übersandte dem [X.] --eingegangen am 26. Juni 2009-- u.a. eine Abschrift der angefochtenen Entscheidung.

4

In der Beschwerdebegründung vom 20. Juli 2009 macht der Kläger die Zulassungsgründe des § 115 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 Alternative 2 der Finanzgerichtsordnung ([X.]O) geltend. Die grundsätzliche Bedeutung (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 [X.]O) ergebe sich daraus, dass das [X.] seiner Entscheidung die unzutreffende Vermutung zugrunde gelegt habe, dass minderjährige Kinder ausländischer Herkunft, die dauerhaft bei Verwandten im Ausland zum Zweck eines Schulbesuchs untergebracht seien, ihren inländischen Wohnsitz verlieren würden. Diese Auslegung finde im Gesetz keine Stütze und verletze den Kläger in Art. 6 Abs. 2 und Art. 3 des Grundgesetzes (GG). Zudem sei die Revision zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 [X.]O) erforderlich, weil nur eine neue Entscheidung des [X.] dem Grundsatz der Gewaltenteilung Geltung verschaffen könne. Wolle der Gesetzgeber in den Wohnsitzbegriff ungeschriebene Tatbestandsmerkmale, wie z.B. Alter, Herkunft, Verwurzelung des Kindes, hineinlesen, müsse er dies selbst regeln. Im Übrigen existiere bisher keine einheitliche Rechtsprechung zum Wohnsitzbegriff, weil --wie den in der Beschwerdebegründung zitierten Entscheidungen entnommen werden könne-- die Begleitumstände des Innehabens der Wohnung unterschiedlich beurteilt würden.

Entscheidungsgründe

5

II. [X.] ist unzulässig und wird durch Beschluss verworfen (§ 116 Abs. 5 Satz 1 [X.]O).

6

1. [X.]schrift bezeichnet nicht das angefochtene Urteil, wie dies § 116 Abs. 2 Satz 2 [X.]O vorsieht.

7

a) Danach sind konkrete Angaben erforderlich, die es dem [X.] ermöglichen, die angefochtene gerichtliche Entscheidung bei Ablauf der Frist für die Einlegung der Beschwerde (§ 116 Abs. 2 Satz 1 [X.]O) ohne jeden Zweifel zu identifizieren. Zu fordern ist daher grundsätzlich die Angabe des [X.], des Datums der Entscheidung sowie des Aktenzeichens des finanzgerichtlichen Rechtsstreits. Ausreichend ist, wenn sich diese Angaben aus einer der Beschwerdeschrift beigefügten Abschrift der angefochtenen Entscheidung entnehmen lassen. Aufgrund sonstiger erkennbarer Umstände muss deutlich werden, welches Urteil angefochten werden soll (vgl. [X.]-Beschlüsse vom 19. Januar 2005 [X.]/04, [X.]/NV 2005, 1107; vom 16. November 2007 [X.], [X.]/NV 2008, 244).

8

b) [X.] ging am 18. Juni 2009 --dem letzten Tag der [X.] (vgl. § 54 Abs. 2 [X.]O i.V.m. § 222 Abs. 1 der Zivilprozessordnung und § 187 Abs. 1, § 188 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches)-- ein. Sie bezeichnet nicht das Datum der Gerichtsentscheidung und benennt ein unzutreffendes Aktenzeichen; eine Vorlage der Abschrift der angefochtenen Entscheidung ist ebenfalls nicht erfolgt. Dem Senat war daher eine zweifelsfreie Identifizierung der angefochtenen Entscheidung nicht möglich. Es kann dahinstehen, ob mit der Vorlage der Abschrift des Urteils durch das [X.] am 26. Juni 2009 eine ausreichende Ergänzung der Beschwerde erfolgt ist; Vorgänge nach Ablauf der [X.] können keine Berücksichtigung mehr finden ([X.]-Beschlüsse in [X.]/NV 2005, 1107; in [X.]/NV 2008, 244).

9

2. [X.] kann aber auch deshalb keinen Erfolg haben, weil die vorgebrachten Gründe nicht die Zulassung der Revision rechtfertigen.

a) Es liegt keine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache vor (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 [X.]O).

aa) Soweit der Kläger Verfassungsverstöße durch das [X.] rügt, ist die Beschwerde bereits unzulässig, da sie schon den Darlegungsanforderungen des § 116 Abs. 3 Satz 3 [X.]O nicht genügt. Wird ein Verfassungsverstoß geltend gemacht, so ist zur substantiierten Darlegung eine an den Vorgaben des [X.] sowie der dazu ergangenen Rechtsprechung des [X.] ([X.]) und des [X.] orientierte inhaltliche Auseinandersetzung erforderlich (vgl. Senatsbeschluss vom 31. Januar 2005 [X.]/04, [X.]/NV 2005, 1081). Daran fehlt es im Streitfall. [X.]begründung gibt schon keinen Hinweis auf bereits ergangene Rechtsprechung des [X.] und des [X.] zu den behaupteten Verstößen gegen Art. 3 [X.] und Art. 6 Abs. 2 [X.].

bb) Im Übrigen hat der [X.] bereits mehrfach die Rechtsgrundsätze dargelegt, nach denen zu entscheiden ist, ob ein Kind, das sich zum Zweck des Schulbesuchs mehrere Jahre im Ausland aufhält, seinen inländischen Wohnsitz (§ 8 der Abgabenordnung --AO--) beibehält (z.B. [X.]-Urteile vom 22. April 1994 [X.], [X.]E 174, 523, [X.] 1994, 887; vom 27. April 1995 [X.]/93, [X.]/NV 1995, 967; vom 23. November 2000 [X.]/99, [X.]E 193, 569, [X.] 2001, 279, und [X.], [X.]E 193, 558, [X.] 2001, 294; Senatsbeschluss vom 31. Mai 2007 [X.]/07, [X.]/NV 2007, 1907). Ob im Einzelfall bei Anwendung dieser Grundsätze davon auszugehen ist, dass ein Kind seinen Wohnsitz im Inland hat, muss das [X.] unter Berücksichtigung der Umstände des Falles im Wege der Tatsachenwürdigung beurteilen. Der Entscheidung des [X.] als Tatsacheninstanz kommt insoweit keine grundsätzliche Bedeutung zu (vgl. Senatsbeschluss in [X.]/NV 2007, 1907). Daneben ist die vom Kläger thematisierte Rechtsfrage, ob bei minderjährigen Kindern ausländischer Herkunft, die dauerhaft bei Verwandten im Ausland zum Zweck eines Schulbesuchs untergebracht sind, die Aufgabe des [X.]es vermutet wird, bereits geklärt. Nach der Rechtsprechung des [X.] ist --dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 30. September 1996  10 [X.] 29/95 ([X.], 147) folgend-- ein derartiger Erfahrungssatz nicht (mehr) heranzuziehen (vgl. [X.]-Urteile in [X.]E 193, 569, [X.] 2001, 279; in [X.]E 193, 558, [X.] 2001, 294). Entscheidend sind vielmehr die Umstände des Einzelfalls (vgl. Senatsurteil vom 15. Juli 2010 III R 6/08, [X.]E 230, 545). Hiervon ist das [X.] in der angegriffenen Entscheidung ausgegangen. Anzumerken bleibt, dass die Tatsachenwürdigung auch bei Kindern [X.] Abstammung, die sich für mehrere Jahre im Ausland zu Ausbildungszwecken aufhalten, zu dem Ergebnis führen kann, dass sie ihren [X.] verlieren (vgl. Senatsurteil vom 28. April 2010 [X.]/09, [X.]E 229, 270, [X.] 2010, 1013).

b) Ebenso kommt eine Zulassung der Revision zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 [X.]O) nicht in Betracht. Das [X.] weicht in seinem Urteil nicht in einer entscheidungserheblichen Rechtsfrage von der Auffassung des [X.] oder des BSG ab.

Der Kläger zitiert in der Beschwerdebegründung die [X.]-Urteile vom 23. November 1988 II R 139/87 ([X.]E 155, 29, [X.] 1989, 182), vom 19. März 1997 [X.] ([X.]E 182, 296, [X.] 1997, 447), in [X.]E 193, 569, [X.] 2001, 279, in [X.]E 193, 558, [X.] 2001, 294, den [X.]-Beschluss vom 12. Februar 2009 [X.]/08 (nicht amtlich veröffentlicht) und das [X.] in [X.], 147. Aus dem Vorbringen des [X.] wird nicht deutlich, weshalb das [X.] von diesen Entscheidungen abgewichen sein soll. Den genannten Entscheidungen lässt sich nicht entnehmen, dass es für die Beibehaltung eines [X.]es gemäß § 8 AO in der elterlichen Wohnung ausreicht, wenn dort weiterhin ein Kinderzimmer zur Verfügung steht und regelmäßig genutzt wird. Vielmehr hat der [X.] in den Urteilen in [X.]E 193, 569, [X.] 2001, 279 und in [X.]E 193, 558, [X.] 2001, 294 klargestellt, dass die Anwesenheit eines Kindes in der elterlichen Wohnung nicht nur Besuchscharakter haben darf. Hiervon ist das [X.] ausgegangen. Es hat die tatsächlichen Umstände dahingehend gewürdigt, dass die Aufenthalte der drei Kinder in der elterlichen Wohnung nur Besuchsaufenthalte waren.

Mit seinem Einwand der uneinheitlichen Beurteilung der Begleitumstände des Innehabens einer Wohnung kann der Kläger nicht die Zulassung der Revision wegen Divergenz begründen. Die Beurteilung der Begleitumstände des Innehabens einer Wohnung liegt weitgehend auf tatsächlichem Gebiet (s.o. [X.]). Tatsachen- bzw. Sachverhaltswürdigungen sowie Schlussfolgerungen tatsächlicher Art sind einer Nachprüfung durch den [X.] entzogen, sofern nicht Verstöße gegen die Verfahrensordnung, gegen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze zu beanstanden sind (ständige Rechtsprechung, s. Gräber/ Ruban, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 118 Rz 30, m.w.N.). Hierbei erfolgende --im Streitfall jedoch nicht erkennbare-- Verstöße des [X.] gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze begründen als materielle Rechtsfehler grundsätzlich keine Divergenz ([X.]-Beschluss vom 21. Oktober 2009 [X.]/08, [X.]/NV 2010, 444; Lange in [X.]/[X.]/[X.], § 115 [X.]O Rz 182, m.w.N. aus der Rechtsprechung).

Meta

III B 90/09

29.12.2010

Bundesfinanzhof 3. Senat

Beschluss

vorgehend FG Nürnberg, 7. Mai 2009, Az: 3 K 1096/2008, Urteil

§ 8 AO, § 115 Abs 2 Nr 1 FGO, § 115 Abs 2 Nr 2 Alt 2 FGO, § 116 Abs 2 S 2 FGO, § 116 Abs 3 S 3 FGO, § 63 Abs 1 S 3 EStG 2002

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Beschluss vom 29.12.2010, Az. III B 90/09 (REWIS RS 2010, 8)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2010, 8

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