Bundesgerichtshof, Beschluss vom 10.02.2016, Az. XII ZB 38/15

12. Zivilsenat | REWIS RS 2016, 16467

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Gegenstand

Vollstreckbarerklärung einer polnischen Entscheidung über die Kindesherausgabe: Internationale Zuständigkeit nach der Brüssel IIa-VO für die Anordnung einer den Bereich der elterlichen Sorge betreffenden einstweiligen Maßnahme; Rückgriff auf nationales Recht; Dringlichkeit der Maßnahme; Erforderlichkeit der Anwesenheit des Kindes und des betroffenen Elternteils im Mitgliedstaat des angerufenen Gerichts


Leitsatz

1. Enthält die eine einstweilige Maßnahme anordnende Entscheidung keine eindeutige Begründung für die Zuständigkeit des Ursprungsgerichts in der Hauptsache unter Bezugnahme auf eine der in den Art. 8 bis 14 Brüssel IIa-VO genannten Zuständigkeiten, und ergibt sich die Hauptsachezuständigkeit auch nicht offensichtlich aus der erlassenen Entscheidung, ist davon auszugehen, dass die Entscheidung nicht nach den Zuständigkeitsvorschriften der Brüssel IIa-VO ergangen ist. In diesem Fall ist zu prüfen, ob die Entscheidung unter die Öffnungsklausel des Art. 20 Brüssel IIa-VO fällt (im Anschluss an Senatsbeschluss BGH, 9. Februar 2011, XII ZB 182/08, BGHZ 188, 270 = FamRZ 2011, 542).

2. Sind auch die Voraussetzungen des Art. 20 Brüssel IIa-VO nicht gegeben, kommt eine Anerkennung und Vollstreckung der von einem nach der Brüssel IIa-VO unzuständigen Gericht erlassenen einstweiligen Maßnahme nicht in Betracht (im Anschluss an Senatsbeschluss BGH, 9. Februar 2011, XII ZB 182/08, BGHZ 188, 270 = FamRZ 2011, 542).

3. Dringlichkeit i.S.d. Art. 20 Abs. 1 Brüssel IIa-VO bezieht sich sowohl auf die Lage, in der sich das Kind befindet, als auch auf die praktische Unmöglichkeit, den die elterliche Verantwortung betreffenden Antrag vor dem Gericht zu stellen, das für die Entscheidung in der Hauptsache zuständig ist (im Anschluss an EuGH, 23. Dezember 2009, C-403/09 PPU, FamRZ 2010, 525).

4. Einstweilige Maßnahmen i.S.v. Art. 20 Abs. 1 Brüssel IIa-VO können nur in Bezug auf Personen erlassen werden, die sich in dem Mitgliedstaat befinden, in dem das für den Erlass dieser Maßnahmen zuständige Gericht seinen Sitz hat. Das gilt in Verfahren über die elterliche Verantwortung nicht nur für das Kind selbst, sondern auch für den Elternteil, dem durch den Erlass der Maßnahme das Sorgerecht genommen wird (im Anschluss an EuGH, 23. Dezember 2009, C-403/09 PPU, FamRZ 2010, 525).

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des 12. Zivilsenats - Familiensenat - des [X.] vom 22. Januar 2015 aufgehoben.

Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des [X.] vom 15. Oktober 2014 wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.

Die Kosten des [X.] trägt die Antragstellerin.

Wert: 3.000 €

Gründe

A.

1

Die Antragstellerin begehrt die Vollstreckbarerklärung einer [X.] Entscheidung über die Kindesherausgabe.

2

Aus der Ehe der Antragstellerin und des Antragsgegners ging das am 10. September 2012 in [X.] geborene Kind R. hervor. Die nunmehr getrennt lebenden Eltern - beide [X.] Staatsangehörige - wohnten gemeinsam mit dem Kind in [X.]. Im Mai 2013 reiste die Antragstellerin mit dem Kind nach [X.] und verblieb dort. Der Antragsgegner, der hiermit nicht einverstanden war, leitete daraufhin in [X.] ein Verfahren nach dem [X.] Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung vom 25. Oktober 1980 ([X.] [X.]; im Folgenden: [X.] [X.] - [X.]) ein. Anfang September 2013 kehrte die Antragstellerin mit dem Kind nach [X.] zurück. Bereits am 30. September 2013 zog sie mit dem Kind gegen den Willen des Antragsgegners wieder nach [X.]. Der Antragsgegner stellte daraufhin erneut in [X.] einen Antrag nach dem [X.] [X.] auf Rückführung des Kindes. Vor einer Entscheidung hierüber verbrachte er das Kind am 13. Juli 2014 eigenmächtig wieder nach [X.]. Sein Rückführungsantrag wurde daraufhin abgewiesen.

3

Zwischen den Eltern ist in [X.] ein Scheidungsverfahren anhängig, in dessen Rahmen auch ein Sorgerechtsverfahren eingeleitet wurde. In diesem Verfahren ordnete das Bezirksgericht [X.] am 14. Juli 2014 auf Antrag der Antragstellerin in einer Sicherungsverfügung an, dass der Aufenthalt des Kindes für die Dauer des Verfahrens bei der Mutter liege. Zudem verpflichtete es den Antragsgegner, das Kind an die Antragstellerin herauszugeben.

4

Die Antragstellerin hat in [X.] beantragt, die Sicherungsverfügung für vollstreckbar zu erklären und sodann die Vollstreckung vorzunehmen. Das Amtsgericht hat die Anträge abgewiesen. Auf die Beschwerde der Antragstellerin hat das Beschwerdegericht die Entscheidung des Amtsgerichts aufgehoben und die Sicherungsverfügung hinsichtlich der Herausgabeverpflichtung mit einer Vollstreckungsklausel versehen. Hiergegen wendet sich der Antragsgegner mit der Rechtsbeschwerde.

B.

5

[X.] hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung der Beschwerdeentscheidung und zur Zurückweisung der Beschwerde der Antragstellerin.

I.

6

Die nach §§ 28 des Gesetzes zur Aus- und Durchführung bestimmter [X.] auf dem Gebiet des internationalen Familienrechts (Internationales Familienrechtsverfahrensgesetz - IntFamRVG), 574 Abs. 1 Nr. 1 ZPO statthafte Rechtsbeschwerde ist auch im Übrigen zulässig. Eine Entscheidung des Senats ist zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich (§§ 28 IntFamRVG, 574 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 ZPO). Mit Recht macht die Rechtsbeschwerde geltend, dass die Beschwerdeentscheidung auf einer Abweichung von der Rechtsprechung des [X.] ([X.] [X.], 525 Rn. 42) beruht.

II.

7

[X.] ist auch begründet.

8

1. Das Beschwerdegericht hat seine in [X.], 777 veröffentlichte Entscheidung wie folgt begründet:

9

Für die Vollstreckung der Sicherungsverfügung sei die Verordnung ([X.]) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung ([X.]) Nr. 1347/2000 ([X.]. [X.] Nr. L 338 S. 1; im Folgenden: [X.]) grundsätzlich anwendbar. Die Entscheidung sei aber nicht nach Art. 11 Abs. 8, 40 Abs. 1 lit. b, 42 [X.] unmittelbar vollstreckbar. Eine vollstreckbare Entscheidung im Sinne von Art. 28 [X.] liege ebenfalls nicht vor, weil nicht ersichtlich sei, dass das [X.] Gericht seine internationale Zuständigkeit auf die Art. 8 ff. [X.] gestützt habe.

Damit handele es sich allenfalls um eine Entscheidung nach Art. 20 [X.], auf die die Art. 21 ff. [X.] nicht anwendbar seien. Art. 20 [X.] lasse aber unter den dort genannten Voraussetzungen den Rückgriff auch auf an sich nachrangige Übereinkommen und gegebenenfalls das nationale Recht zu. Hier habe sich das [X.] Gericht auf Art. 20 [X.] stützen können, denn aufgrund des rechtswidrigen Verhaltens des Antragstellers, der das Kind in einem Akt der Selbstjustiz entführt und nach [X.] verbracht habe, habe ein dringendes Regelungsbedürfnis für den Erlass einer einstweiligen Maßnahme bestanden, um die Rückführung des Kindes zur Antragstellerin anzuordnen. Hier könne für die Anerkennung und Vollstreckbarerklärung auf das [X.] Übereinkommen über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung, Vollstreckung und Zusammenarbeit auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung und der Maßnahmen zum Schutz von Kindern vom 19. Oktober 1996 ([X.]. 2003 Nr. L 48 S. 3; im Folgenden: [X.]) zurückgegriffen werden. Die Sicherungsverfügung sei gemäß Art. 26 Abs. 1 [X.] für vollstreckbar zu erklären. Ein Ausschlussgrund nach Art. 23 Abs. 2 [X.] liege nicht vor, insbesondere sei das Bezirksgericht [X.] international zuständig gewesen. Zwar habe das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt in [X.]; es habe während des Aufenthalts in [X.] noch keinen neuen gewöhnlichen Aufenthalt dort begründet. Die Zuständigkeit ergebe sich aber aus Art. 11 [X.], weil sich das Kind in [X.] befunden habe und ein dringender Fall vorgelegen habe.

2. Dies hält rechtlicher Nachprüfung in einem wesentlichen Punkt nicht stand.

a) Zutreffend ist allerdings, dass die in der Sicherungsverfügung angeordnete - aus der elterlichen Sorge resultierende - Aufenthaltsbestimmung und die damit einhergehende Herausgabeverpflichtung in den sachlichen Anwendungsbereich der [X.] [X.] fallen (Art. 1 Abs. 1 lit. b Alt. 2, Art. 2 Nr. 7 und [X.] [X.]) und dass die Voraussetzungen für eine Vollstreckung ohne Vollstreckbarerklärung nach Art. 42 Abs. 1, 40 Abs. 1 lit. b, 11 Abs. 8 [X.] nicht vorliegen.

b) Ebenso wenig ist etwas dagegen zu erinnern, dass das Berufungsgericht das Vorliegen einer vollstreckbaren Entscheidung im Sinne von Art. 28 [X.] verneint hat, weil nicht ersichtlich sei, dass das [X.] Gericht seine internationale Zuständigkeit auf die Art. 8 ff. [X.] gestützt habe.

aa) [X.] das Gericht eine einstweilige Maßnahme, die den Bereich der elterlichen Sorge betrifft, ist für die Anwendung der Art. 21 ff. [X.] darauf abzustellen, ob das Ursprungsgericht seine Zuständigkeit auf Art. 8 ff. [X.] gestützt hat. Ist dies zweifelhaft, ist anhand der Ausführungen in der Entscheidung zu prüfen, ob das Ursprungsgericht seine Zuständigkeit auf eine Vorschrift der [X.] [X.] stützen wollte (Senatsbeschlüsse [X.], 10 = [X.], 1011 Rn. 19 und [X.], 270 = FamRZ 2011, 542 Rn. 23; [X.] [X.], 1521 Rn. 73 ff.). Kann das nicht festgestellt werden, so ist davon auszugehen, dass die zu vollstreckende Entscheidung nicht nach den Zuständigkeitsvorschriften der [X.] [X.] ergangen ist ([X.] [X.], 1521 Rn. 76; Senatsbeschluss [X.], 270 = FamRZ 2011, 542 Rn. 24). In diesem Fall kann eine Maßnahme nach Art. 20 [X.] vorliegen. Diese Vorschrift begründet aber keine Zuständigkeit im Sinne der Verordnung, weshalb auf derartige Verfahren die Art. 21 ff. [X.] nicht anwendbar sind ([X.] [X.], 1521 Rn. 83 ff.; Senatsbeschluss [X.], 270 = FamRZ 2011, 542 Rn. 17).

bb) Gemessen hieran hat das Beschwerdegericht zu Recht die Anwendbarkeit der Art. 21 ff. [X.] verneint.

Das Bezirksgericht [X.] hat in seiner Entscheidung auf die [X.] [X.] nicht Bezug genommen. Soweit es ausführt, dass das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt in [X.] habe, gibt es nur den Vortrag der Antragstellerin wieder, ohne dass erkennbar wird, inwieweit hieraus ein Grund für die internationale Zuständigkeit abgeleitet werden soll. Zutreffend hat das Beschwerdegericht ausgeführt, dass es für die Zuständigkeit vielmehr ausschließlich Normen des [X.] Rechts zitiert und diese im Wesentlichen aus dem laufenden Verfahren in der Hauptsache hergeleitet hat, ohne dass die Zuständigkeit hierfür begründet wird. Damit liegt weder eine eindeutige Begründung der Zuständigkeit nach der [X.] [X.] vor, noch ergibt sich diese offensichtlich aus der Entscheidung.

c) Nicht zutreffend ist jedoch die Annahme des [X.], dass die Voraussetzungen der Öffnungsklausel des Art. 20 [X.] vorgelegen hätten.

aa) Die fehlende Anwendbarkeit der Art. 21 ff. [X.] steht indes der Anerkennung und Vollstreckung einer auf der Grundlage des Art. 20 [X.] ergangenen Maßnahme in anderen Mitgliedstaaten nicht von vornherein entgegen. Vielmehr handelt es sich bei Art. 20 [X.] um eine Öffnungsklausel. Während die [X.] [X.] grundsätzlich unter den in Art. 59 bis 63 der Verordnung genannten Voraussetzungen Vorrang vor den meisten einschlägigen internationalen Übereinkommen hat, lässt Art. 20 [X.] unter den dort genannten Voraussetzungen den Rückgriff auch auf an sich nachrangige Übereinkommen und gegebenenfalls auf das nationale Recht zu. Dies bedeutet nicht nur, dass sich die Zuständigkeit für einstweilige Maßnahmen unter den Voraussetzungen des Art. 20 [X.] aus nachrangigen Übereinkommen und dem nationalen Recht ergeben kann, sondern auch, dass die Anerkennung und Vollstreckung solcher Maßnahmen auf der Grundlage der dort enthaltenen [X.] in Betracht kommt (Senatsbeschluss [X.], 270 = FamRZ 2011, 542 Rn. 18 mwN).

bb) Jedoch liegen die Voraussetzungen des Art. 20 Abs. 1 [X.][X.] nach den getroffenen Feststellungen nicht vor.

(1) Art. 20 Abs. 1 [X.] hat drei Voraussetzungen, die allesamt erfüllt sein müssen, damit die Öffnungsklausel Platz greift. Die Maßnahme muss dringlich sein, sie muss in Bezug auf Personen oder Vermögensgegenstände getroffen werden, die sich in dem Mitgliedstaat befinden, in dem das Gericht seinen Sitz hat, und sie muss vorübergehender Art sein ([X.] [X.], 525 Rn. 39 und [X.], 1521 Rn. 77; Senatsbeschluss [X.], 270 = FamRZ 2011, 542 Rn. 19).

(a) Der Begriff der Dringlichkeit bezieht sich dabei sowohl auf die Situation des Kindes als auch auf die praktische Unmöglichkeit, eine Entscheidung des in der Hauptsache zuständigen Gerichts zur elterlichen Verantwortung herbeizuführen ([X.] [X.], 525 Rn. 42 und [X.], 1521 Rn. 94). Bei der Auslegung dieses Tatbestandsmerkmals ist das Ziel der [X.] [X.] zu beachten, die Beteiligten davon abzuhalten, die Kinder rechtswidrig in einen anderen Mitgliedstaat zu verbringen oder in einem solchen zurückzuhalten. Dürfte eine Maßnahme, die zu einer Veränderung der elterlichen Verantwortung und damit zu einer Verfestigung der aus rechtswidrigem Handeln entstandenen tatsächlichen Situation führt, nach Art. 20 Abs. 1 [X.] erlassen werden, liefe das darauf hinaus, die Position des hierfür verantwortlichen Elternteils zu stärken (vgl. [X.] [X.], 525 Rn. 49, 57).

(b) Daneben ist schon dem Wortlaut von Art. 20 Abs. 1 [X.] zu entnehmen, dass einstweilige Maßnahmen nur in Bezug auf Personen zu erlassen sind, die sich in dem Mitgliedstaat befinden, in dem das für den Erlass dieser Maßnahmen zuständige Gericht seinen Sitz hat. Handelt es sich bei der einstweiligen Maßnahme um eine Sorgerechtsentscheidung (hier in Form der Aufenthaltsbestimmung und Herausgabeverpflichtung), wird diese nicht nur in Bezug auf das Kind, sondern auch in Bezug auf den Elternteil getroffen, dem die elterliche Sorge entzogen wird, so dass die Anwesenheit des Kindes und des betroffenen Elternteils im Mitgliedstaat des angerufenen Gerichts erforderlich ist (vgl. [X.] [X.], 525 Rn. 50 f.).

(c) Schließlich muss die Maßnahme vorübergehender Art sein, es darf sich also nicht um eine Hauptsacheentscheidung handeln.

(2) Hier hat das Beschwerdegericht rechtsfehlerhaft Art. 20 [X.] angewandt, obgleich weder die Dringlichkeit noch die Anwesenheit der betroffenen Personen gegeben waren.

(a) Das Beschwerdegericht hat einen dringenden Fall i.S.d. Art. 20 Abs. 1 [X.] angenommen ohne zu prüfen, ob es der Antragstellerin nicht möglich war, rechtzeitig eine Entscheidung zur elterlichen Verantwortung durch die [X.] Gerichte herbeizuführen. Von deren Zuständigkeit gemäß Art. 8 i.V.m. Art. 10 [X.] ist nach den getroffenen und nicht angegriffenen Feststellungen auszugehen. Das Kind hatte vor dem widerrechtlichen Verbringen durch seine Mutter seinen gewöhnlichen Aufenthalt in [X.]. Die Voraussetzungen des Art. 10 [X.] für einen Wechsel der Zuständigkeit liegen ersichtlich nicht vor; ebenso wenig sind die Voraussetzungen der Zuständigkeit der [X.] Gerichte nach Art. 12 [X.] erkennbar. Nach Auffassung des [X.] hat das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt nach wie vor in [X.]. Gründe, warum die Anrufung der [X.] Gerichte nicht möglich gewesen sein soll, sind nach alledem nicht ersichtlich.

Gegen die Annahme, dass hier ein dringender Fall vorliegt, spricht im Übrigen das Ziel der [X.] [X.], die Beteiligten von einem rechtswidrigen Verbringen oder Zurückhalten der Kinder abzuhalten. Denn die Vollstreckung der Sicherungsverfügung hätte zur Folge, dass der Aufenthalt des Kindes in [X.] verfestigt und legitimiert wird, obgleich die Antragstellerin das Kind nach den Feststellungen des [X.] zuvor wiederholt widerrechtlich nach [X.] verbracht hat. Dass der Antragsgegner durch die eigenmächtige Rückholung des Kindes selbst rechtswidrig gehandelt hat, führt für sich genommen nicht zu einer anderen Bewertung der Dringlichkeit.

(b) Des Weiteren hat das Beschwerdegericht nicht beachtet, dass es an der nach Art. 20 Abs. 1 [X.] erforderlichen Anwesenheit der von der Maßnahme Betroffenen fehlt. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts hatte der Antragsgegner mit dem Kind [X.] bereits am 13. Juli 2014 verlassen. Die Sicherungsverfügung datiert demgegenüber vom 14. Juli 2014. Die Voraussetzungen des Art. 20 [X.], wonach der Antragsgegner und das Kind - als die von der Sicherungsverfügung betroffenen Personen - bei Erlass der Sicherungsverfügung in [X.] hätten anwesend sein müssen, waren demnach nicht erfüllt.

d) Sind schließlich - wie hier - auch die Voraussetzungen des Art. 20 [X.] nicht gegeben, kommt eine Anerkennung und Vollstreckung der von einem nach der [X.] [X.] unzuständigen Gericht erlassenen einstweiligen Maßnahme nicht in Betracht. Art. 20 [X.] erlaubt den Rückgriff auf die genannten anderen [X.] nur, wenn die zu treffende Maßnahme dringlich ist, einstweiligen Charakter hat und sich auf Personen oder Vermögensgegenstände bezieht, die sich in dem Mitgliedstaat befinden, in dem das mit der Sache befasste Gericht seinen Sitz hat. Ist dies nicht der Fall, bleibt es bei dem abschließenden Charakter der [X.] [X.] (Senatsbeschluss [X.], 270 = FamRZ 2011, 542 Rn. 19 mwN; vgl. auch [X.] [X.], 525 Rn. 38 ff.; [X.] FamRZ 2011, 546).

e) Da eine Vollstreckbarerklärung damit ohnehin ausscheidet, kann die Frage dahinstehen, ob auch Art. 16 [X.] einer Vollstreckbarerklärung der während des laufenden [X.]-Verfahrens erlassenen Sicherungsverfügung entgegensteht (vgl. dazu Senatsbeschluss vom 28. April 2011 - [X.] 170/11 - FamRZ 2011, 959 Rn. 13 mwN).

3. Die Beschwerdeentscheidung ist daher aufzuheben. Da keine weiteren Ermittlungen erforderlich sind, kann der Senat in der Sache abschließend entscheiden. Weil weder eine unmittelbare Vollstreckung aus der Sicherungsverfügung noch deren Vollstreckbarerklärung in Betracht kommt, hat das Amtsgericht die Anträge im Ergebnis zu Recht abgelehnt. Die Beschwerde der Antragstellerin war daher unbegründet und ist zurückzuweisen.

Dose                                Schilling                       Günter

            Nedden-Boeger                          Botur

Meta

XII ZB 38/15

10.02.2016

Bundesgerichtshof 12. Zivilsenat

Beschluss

Sachgebiet: ZB

vorgehend OLG München, 22. Januar 2015, Az: 12 UF 1821/14

Art 8 EGV 2201/2003, Art 9 EGV 2201/2003, Art 10 EGV 2201/2003, Art 11 EGV 2201/2003, Art 12 EGV 2201/2003, Art 13 EGV 2201/2003, Art 14 EGV 2201/2003, Art 20 Abs 1 EGV 2201/2003, Art 28 EGV 2201/2003, Art 28ff EGV 2201/2003

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 10.02.2016, Az. XII ZB 38/15 (REWIS RS 2016, 16467)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2016, 16467


Verfahrensgang

Der Verfahrensgang wurde anhand in unserer Datenbank vorhandener Rechtsprechung automatisch erkannt. Möglicherweise ist er unvollständig.

Az. XII ZB 38/15

Bundesgerichtshof, XII ZB 38/15, 10.02.2016.


Az. 12 UF 1821/14

OLG München, 12 UF 1821/14, 22.01.2015.


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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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