Bundessozialgericht, Urteil vom 16.12.2010, Az. B 8 SO 9/09 R

8. Senat | REWIS RS 2010, 222

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Gegenstand

(Sozialhilfe - Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung - keine Übernahme der Mehrbedarfsregelung des § 23 Abs 1 S 2 BSHG in SGB 12 - Verfassungsmäßigkeit - Nichtvorliegen einer unechten bzw echten Rückwirkung)


Leitsatz

Es ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber die Mehrbedarfsregelung des § 23 Abs 1 S 2 BSHG in das am 1.1.2005 in Kraft getretene SGB 12 nicht übernommen hat.

Tenor

Auf die Revision des [X.] wird das Urteil des [X.] vom 25. Januar 2008 aufgehoben, soweit ein höherer Regelsatz bzw ein Mehrbedarf für die [X.] vom 1. Juli 2005 bis 30. Juni 2006 abgelehnt worden ist; insoweit wird die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Tatbestand

1

[X.] ist noch ein Anspruch des [X.] auf höhere Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (Grundsicherungsleistungen) für die [X.] vom 1.7.2005 bis 30.6.2006.

2

Der 1941 geborene Kläger bezog vor 2005 Grundsicherungsleistungen vom Beklagten nach dem Grundsicherungsgesetz ([X.]); bis zum 31.12.2004 erhielt er zusätzlich einen Mehrbedarf für ältere bzw erwerbsunfähige Personen nach dem [X.] ([X.]). Ab 1.1.2005 bewilligte der Beklagte dem Kläger Leistungen nach dem [X.] - ([X.]) ohne diesen Mehrbedarf, weil das [X.] diesen nur für Erwerbsunfähige und für Personen über 65 vorsehe, denen auch das [X.] zugestanden sei; dies sei beim Kläger nicht der Fall (Bescheid vom 25.10.2005; Widerspruchsbescheid vom 20.1.2006).

3

Die auf höhere Leistungen für die [X.] ab 1.1.2005 gerichtete Klage ist erfolglos geblieben (Urteil des [X.] <[X.]> vom 22.6.2006; Urteil des [X.] <[X.]> vom 25.1.2008). Zur Begründung seiner Entscheidung hat das [X.] ausgeführt, Anhaltspunkte dafür, dass dem Kläger ein Mehrbedarf nach dem [X.] zustehen könne, seien nicht ersichtlich. Die [X.] des § 23 Abs 1 Satz 2 [X.] (Mehrbedarf für über 65-Jährige und Erwerbsunfähige, der bereits bis zum 31.7.1996 anerkannt war), auf die der Kläger sein Begehren stütze und auf der der Leistungsbezug bis 31.12.2004 beruht habe, sei in das [X.] nicht übernommen worden. § 30 Abs 1 Nr 2 [X.] erkenne den Mehrbedarf nur noch für alte oder erwerbsunfähige schwerbehinderte Menschen mit dem [X.] an. Gegen die Neuregelung bestünden keine verfassungsrechtlichen Bedenken. Es seien keine Anhaltspunkte dafür erkennbar, dass dem Kläger aus anderen Gründen Mehraufwendungen entstanden seien, die seinen sozialhilferechtlichen Bedarf erhöht hätten.

4

Mit seiner Revision rügt der Kläger einen Verstoß gegen Art 20 Abs 3 Grundgesetz, weil die Besitzstandsklausel des § 23 Abs 1 Satz 2 [X.] in der bis zum 31.12.2004 geltenden Fassung nicht in das [X.] übernommen worden sei. Für ihren Wegfall fehle es an einer besonderen Rechtfertigung. Indem durch die Nichtübernahme der Besitzstandswahrung an einen Sachverhalt angeknüpft werde, der bereits endgültig Gegenstand der Gesetzesänderung 1996 gewesen sei, werde nachträglich [X.] in einen der Vergangenheit angehörigen, abgeschlossenen Sachverhalt eingegriffen. Der Wegfall der Besitzstandswahrung stelle sich als unzulässige echte Rückwirkung dar, weil gewichtige und bedeutende Gründe hierfür nicht vorlägen.

5

Der Kläger beantragt nach Rücknahme der Revision für die [X.] vom 1.1. bis 30.6.2005,
die Urteile des [X.] und des [X.] abzuändern, den Bescheid des Beklagten vom 25. Oktober 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20. Januar 2006 zu ändern und den Beklagten zu verurteilen, ihm höhere Regelsatzleistungen bzw Mehrbedarfe für die [X.] vom 1. Juli 2005 bis 30. Juni 2006 zu zahlen.

6

Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

7

Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Entscheidungsgründe

8

Die Revision ist im Sinne der Zurückverweisung zur erneuten Verhandlung und Entscheidung (§ 170 Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz ) begründet.

9

Der Kläger ist nach Einschätzung des Senats prozessfähig iS des § 71 Abs 1 SGG, obwohl für ihn wegen einer psychischen Behinderung gemäß § 1896 Abs 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) ein Betreuer bestellt worden ist. Die Betreuung greift jedoch in seine Prozessfähigkeit nicht ein, weil das Betreuungsgericht nicht gemäß § 1903 Abs 1 Satz 1 BGB angeordnet hat, dass der Kläger zu einer Willenserklärung in Bezug auf den Gegenstand des Rechtsstreits oder für die Einlegung von Rechtsbehelfen der Einwilligung des Betreuers bedarf.

Die Klage ist mangels Geltung des Behördenprinzips (§ 70 [X.]) zutreffend gegen den zuständigen [X.] gerichtet. Nach § 3 Abs 1 iVm § 97 Abs 1 [X.] ist für die Sozialhilfe der örtliche Träger der Sozialhilfe zuständig, soweit nicht der überörtliche Sozialhilfeträger zuständig ist. Die sachliche Zuständigkeit des überörtlichen Trägers der Sozialhilfe wird gemäß § 97 Abs 2 Satz 1 [X.] grundsätzlich nach Landesrecht bestimmt. Nach Art 11 Abs 1 Satz 1 [X.] 1 bis 6, Satz 2 des bis Ende 2006 in [X.] geltenden Gesetzes zur Ausführung des Sozialgesetzbuchs ([X.]) vom 10.8.1982 (Gesetz- und Verordnungsblatt 514 = [X.] Rechtssammlung 86-7-A idF des [X.] zur Änderung des [X.] vom 27.12.2004, GVBl 541) war der überörtliche Träger der Sozialhilfe in [X.] insbesondere für Aufgaben im stationären und teilstationären Bereich zuständig; eine der dort aufgezählten Aufgaben hat der Beklagte nicht wahrgenommen. Daher verbleibt es bei der Zuständigkeit des örtlichen Trägers der Sozialhilfe. Nach Art 9 Abs 1 Satz 1 [X.] sind örtliche Träger der Sozialhilfe in [X.] die kreisfreien Gemeinden und die [X.]e. Der beklagte [X.] hat auch nach Art 82 des Gesetzes zur Ausführung der Sozialgesetze ([X.]) vom 8.12.2006 (GVBl 942 = BayRS 86-7-A) weiterhin über die beantragten Leistungen zu entscheiden, falls nicht eine Heranziehung der Gemeinde [X.] erfolgt sein sollte (vgl Art 83 Abs 2 [X.]), aus der sich etwas anderes ergeben sollte (s zur Problematik der Heranziehung nur Söhngen in juris Praxiskommentar [X.] , § 99 Rd[X.] 10 ff mwN zur Rspr). Dem wäre dann ggf durch eine Berichtigung des Rubrums Rechnung zu tragen. Die örtliche Zuständigkeit des Beklagten ergibt sich aus § 98 Abs 1 [X.]. Dies mag das [X.] prüfen.

Nachdem der Kläger durch [X.] (§ 165 iVm § 156 SGG) seine Revision auf die [X.] vom [X.] bis 30.6.2006 beschränkt hat, ist Gegenstand des Verfahrens (§ 95 SGG) allein noch der Bescheid des Beklagten vom [X.] in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20.1.2006. Ein von Amts wegen zu berücksichtigender erheblicher Mangel im Vorverfahren (vgl hierzu Senatsurteil vom [X.] - [X.] [X.] 17/09 R; BVerwGE 21, 208 ff) liegt nicht darin, dass im Widerspruchsverfahren eine sozial erfahrene Person nicht entsprechend § 116 Abs 2 [X.] beteiligt war. Nach Art 22 [X.] fand § 116 Abs 2 [X.] in [X.] keine Anwendung.

Frühere Bescheide des Beklagten, die den Leistungszeitraum und Streitgegenstand betrafen, sind durch den höhere Leistungen bewilligenden Bescheid vom [X.] ersetzt worden und daher nicht mehr wirksam (§ 39 Abs 2 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch - Sozialverwaltungsver-fahren und Sozialdatenschutz - <[X.] X>). Der Kläger hat sein Begehren inhaltlich auf die Erbringung höherer Grundsicherungsleistungen für die [X.] vom [X.] bis 30.6.2006 wegen des Regelbedarfs und Mehrbedarfen beschränkt (vgl zu dieser Möglichkeit [X.], 217 ff Rd[X.] 12 ff = [X.] 4-3500 § 133a [X.] 1). Den Bescheid vom [X.] in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20.1.2006 (§ 95 SGG) hat der Kläger mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage 54 Abs 1 und 4 SGG) angefochten, soweit entsprechende Leistungen abgelehnt worden sind.

Ob der Kläger durch den angefochtenen Bescheid iS des § 54 Abs 2 Satz 1 SGG beschwert ist, ihm also höhere Leistungen zustehen, kann der Senat nach den tatsächlichen Feststellungen des [X.] nicht abschließend beurteilen. Das [X.] hat allein die Frage verneint, ob dem Kläger ein Mehrbedarf zusteht; ob die im angefochtenen Bescheid ausgewiesene Regelsatzleistung unter Berücksichtigung des Einkommens zutreffend festgestellt worden ist, hat das [X.] nicht dargestellt.

Rechtsgrundlage für einen Anspruch auf höhere Grundsicherungsleistungen ist § 19 Abs 2 iVm §§ 41 ff [X.]. Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei (dauerhafter) Erwerbsminderung nach § 41 Abs 1 [X.] 1 [X.] (idF, die die Norm durch das Gesetz zur Einordnung des Sozialhilferechts in das [X.] vom 27.12.2003 - [X.] 3022 - erhalten hat) haben auf Antrag Personen mit gewöhnlichem Aufenthalt im Inland, die das 65. Lebensjahr vollendet haben oder das 18. Lebensjahr vollendet haben, unabhängig von der jeweiligen Arbeitsmarktlage voll erwerbsgemindert iS des § 43 Abs 2 des [X.] ([X.] VI) sind und bei denen unwahrscheinlich ist, dass die volle Erwerbsminderung behoben werden kann, soweit sie ihren Lebensunterhalt nicht aus ihrem Einkommen und Vermögen gemäß §§ 82 bis 84 und 90 [X.] beschaffen können (§ 41 Abs 2 [X.]). Die Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung umfassen gemäß § 42 Satz 1 [X.] (idF, die die Norm durch das Gesetz zur Vereinfachung des Verwaltungsverfahrens im Sozialrecht vom 21.3.2005 - [X.] 818 - erhalten hat) ua den für den Leistungsberechtigten maßgebenden Regelsatz nach § 28 [X.], die Mehrbedarfe gemäß § 30 [X.] sowie die einmaligen Bedarfe gemäß § 31 [X.]. Nach § 28 Abs 1 Satz 1 [X.] (in der Normfassung des Gesetzes zur Einordnung des Sozialhilferechts in das [X.]) wird der gesamte Bedarf des notwendigen Lebensunterhalts außerhalb von Einrichtungen mit Ausnahme von Leistungen der Unterkunft und Heizung und der Sonderbedarfe der §§ 30 bis 34 [X.] nach Regelsätzen erbracht. Der Regelbedarf wird abweichend festgelegt, wenn im Einzelfall ein Bedarf ganz oder teilweise anderweitig gedeckt ist oder unabweisbar seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweicht (§ 28 Abs 1 Satz 2 [X.]). Diese Regelung gilt auch für Leistungen der §§ 41 ff [X.] ( [X.], 252 ff Rd[X.] 20 ff = [X.] 4-3500 § 28 [X.] 3; [X.], 200 ff = [X.] 4-3500 § 30 [X.] 1). Anhaltspunkte für einen abweichenden Bedarf im Sinne dieser Vorschrift liegen nicht vor.

Nach § 30 Abs 1 [X.] 1 [X.](idF des Gesetzes zur Einordnung des Sozialhilferechts in das [X.]) ist dem Kläger keine Mehrbedarfsleistung zuzugestehen. Danach wird nur für Personen, die das 65. Lebensjahr vollendet haben oder voll erwerbsgemindert nach dem [X.] VI sind und einen Ausweis nach § 69 Abs 5 [X.] behinderter Menschen - ([X.] IX) mit dem [X.] besitzen, ein Mehrbedarf in Höhe von [X.] des maßgebenden Regelsatzes anerkannt, soweit nicht im Einzelfall ein abweichender Bedarf besteht (vgl hierzu und zur historischen Entwicklung im Einzelnen: [X.], 200 ff Rd[X.] 14 = [X.] 4-3500 § 30 [X.] 1; [X.] in jurisPK-[X.], § 30 Rd[X.] 1 f; [X.] in [X.]/[X.]/[X.], [X.], 18. Aufl 2010, § 30 [X.] Rd[X.] 4 ff, 10). Diese Voraussetzungen erfüllt der Kläger nicht, weil ihm nicht das [X.] nicht einmal zuerkannt worden ist. Die Besitzstandsregelung des § 23 Abs 1 Satz 2 [X.] (für über 65-Jährige und Erwerbsunfähige), nach der der Kläger über die Grundsicherung hinaus als Sozialhilfe bis 31.12.2004 Leistungen wegen Mehrbedarfs erhalten hat, weil ihm dieser Mehrbedarf bereits bis zum 31.7.1996 zuerkannt war, ist in das [X.] (ab 1.1.2005) nicht übernommen worden. Dies verstößt nicht gegen Verfassungsrecht; entgegen der Ansicht des [X.] liegt weder eine unzulässige echte noch eine unzulässige unechte Rückwirkung vor.

Eine echte Rückwirkung (bzw Rückbewirkung von Rechtsfolgen) ist anzunehmen, wenn ein Gesetz nachträglich ändernd in abgewickelte, der Vergangenheit angehörende Tatbestände eingreift oder wenn der Beginn seiner zeitlichen Anwendung auf einen [X.]punkt festgelegt ist, der vor dem [X.]punkt liegt, zu dem die Norm durch ihre Verkündung rechtlich existent, das heißt gültig, geworden ist (vgl nur [X.], Beschluss vom [X.] - 1 BvL 11/06 ua -, Juris Rd[X.] 71 mwN). Der Wegfall der Besitzstandswahrung des § 23 Abs 1 Satz 2 [X.] erfasste keine in der Vergangenheit bereits abgewickelten Tatbestände, sodass eine echte Rückwirkung überhaupt nicht vorliegt. Hieran ändert entgegen der Ansicht des [X.] auch nichts der Umstand, dass sich der Gesetzgeber bereits im Jahr 1996 mit dem Vertrauensschutz für Altfälle befasst und den bezeichneten Bestandsschutz ins [X.] übernommen hat.

Eine unechte Rückwirkung (oder tatbestandliche Rückanknüpfung) liegt vor, wenn eine Norm auf gegenwärtige, noch nicht abgeschlossene Sachverhalte und Rechtsbeziehungen für die Zukunft einwirkt und damit zugleich die betroffene Rechtsposition nachträglich entwertet (vgl: [X.], Beschluss vom 7.12.2010 - 1 BvR 2628/07 -, Juris Rd[X.] 47; [X.]E 69, 272, 309 = [X.] 2200 § 165 [X.] 81 S 132; [X.]E 72, 141, 154; 101, 239, 263; 123, 186, 257) oder wenn die Rechtsfolgen einer Norm zwar erst nach ihrer Verkündung eintreten, deren Tatbestand aber Sachverhalte erfasst, die bereits vor der Verkündung "ins Werk gesetzt" worden sind (vgl: [X.]E 72, 200, 242; 97, 67, 79; 105, 17, 37 f; 109, 133, 181). Ob eine solche tatbestandliche Rückanknüpfung wegen der Bestandsschutzregelung des § 23 Abs 1 Satz 2 [X.] zu bejahen ist, bedarf keiner Entscheidung. Denn eine unechte Rückwirkung ist unter dem Aspekt des Vertrauensschutzes grundsätzlich zulässig (vgl nur Spellbrink in [X.] Handbuch des Arbeitsförderungsrechts, 2003, § 39 Rd[X.] 109 ff mwN zur Rspr des [X.]). Allein die Erwartung des Bürgers, er werde - den Fortbestand der jeweiligen Rechtslage vorausgesetzt - in einer bestimmten zukünftigen Sachlage leistungsberechtigt sein, ist kein geschütztes Recht. Denn die Verfassung gewährt keinen Schutz vor einer nachteiligen Veränderung der geltenden Rechtslage (vgl [X.]E 38, 61, 83; 105, 17, 40). Eine schützenswerte Rechtsposition liegt daher nicht schon in der voraussichtlichen Einschlägigkeit bestimmter Vorschriften auch in der Zukunft ([X.], Beschluss vom 7.12.2010 - 1 BvR 2628/07 -, [X.] 2011, 90 und Juris Rd[X.] 49).

Nach diesen Kriterien war der Gesetzgeber nicht gehalten, die alte Besitzstandsregelung des § 23 Abs 1 Satz 2 [X.] in das [X.] zu übernehmen und fortzuführen. Vielmehr hat er mit der umfassenden, ab 1.1.2005 geltenden Neuregelung der Sozialhilfe ein neues System der Leistungsbemessung zur Existenzsicherung geschaffen, das das vorherige [X.] abgelöst hat. Hieran war er aus [X.] nicht gehindert (vgl in anderem Zusammenhang: [X.]E 112, 368, 397 f = [X.] 4-2600 § 307a [X.] 3 Rd[X.] 47; [X.]E 100, 1, 37 = [X.] 3-8570 § 10 [X.] 3 S 51). Die Besitzstandsregelung des § 23 Abs 1 Satz 2 [X.] ist ausdrücklich (vgl BT-Drucks 15/1514, [X.] zu § 31) nicht übernommen worden. Intention hierfür war nach der Gesetzesbegründung, die bestehende Ungleichbehandlung mit dem [X.], das diesen Mehrbedarf nicht kannte (§ 3 [X.]), zu beseitigen - Leistungen nach dem [X.] waren aber nachrangig zu erbringen (vgl [X.] in jurisPK-[X.], § 19 Rd[X.] 39). Der Gesetzgeber hat hinsichtlich der Bemessung eines sozialhilferechtlichen Bedarfs den Mehrbedarf nach § 23 Abs 1 Satz 2 [X.] ausweislich der vorstehend erwähnten Entstehungsgeschichte (vgl BT-Drucks 13/3904, [X.]) nicht mehr für erforderlich gehalten. Die Fortgeltung dieser Regelung im neuen Recht des [X.] wäre auch systemwidrig, weil Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem [X.] ohnedies grundsätzlich - Jugendliche unter 15 Jahren, die nicht in einer Bedarfsgemeinschaft leben, ausgenommen - nur für erwerbsunfähige Personen bzw über 65 Jahre alte Personen gezahlt werden (§ 5 Abs 2 und § 28 Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - <[X.] II> sowie § 21 [X.]; vgl auch [X.] in jurisPK-[X.], § 21 Rd[X.] 15 ff und 21).

Zu der Neukonzeption der gesetzlichen Leistungserbringung im [X.] passt die Erbringung einer Mehrleistung allein wegen Erwerbsunfähigkeit oder aus Altersgründen nicht mehr. Unter diesen Voraussetzungen fällt die Abwägung zwischen einem - vermeintlichen - Vertrauensschaden und dem Wohl der [X.] zugunsten der Beschränkung des Anspruchs aus. Dem Kläger ist nur die Möglichkeit genommen worden, einen Mehrbedarf pauschal (ohne Nachweis) geltend zu machen; soweit die Voraussetzungen des § 28 Abs 1 Satz 2 [X.] vorliegen, hat er Anspruch auf Ausgleich des konkreten abweichenden Bedarfs.

Ein höherer Regelsatz steht dem Kläger auch nicht auf Grund der Entscheidung des [X.] ([X.]) vom [X.] ([X.]E 125, 175 ff) zu. In diesem Urteil hat das [X.] zur Verfassungsmäßigkeit der Gewährleistung des verfassungsrechtlich gebotenen Existenzminimums durch Festbeträge in Form von Regelsätzen zu § 20 Abs 2 [X.] II, die hinsichtlich ihrer Höhe den Regelleistungen nach § 28 [X.] entsprechen, entschieden, dass sich der Gesetzgeber zur Bestimmung der Regelleistungen auf ein Verfahren gestützt habe, das im Grundsatz geeignet sei, die notwendigen Leistungen [X.] zu bemessen. Anders als im [X.] II ist die Höhe der Regelsätze zwar in Verordnungen (§ 28 Abs 2 [X.] iVm der Regelsatzverordnung) geregelt und mit Rücksicht auf die Normhierarchie theoretisch auch vom Gericht korrigierbar, soweit die (landesrechtlichen) Regelsätze nicht ermächtigungskonform sind. Eine solche Korrektur kann hier gleichwohl nicht vorgenommen werden, weil das [X.] die auf die Regelsatzbemessung des [X.] rekurrierende formell gesetzliche Regelung im Rahmen des [X.] II bis Ende 2010 akzeptiert und ausdrücklich für die Bemessung der Regelbedarfe den Erlass eines Gesetzes gefordert hat (vgl im Einzelnen das Senatsurteil vom 16.12.2010 - [X.] [X.] 7/09 R). Eine Bestimmung anderer Regelsätze durch das Gericht ist damit ausgeschlossen.

Andererseits ist nicht abschließend beurteilbar, ob dem Kläger nicht aus sonstigen Gründen höhere Leistungen zustehen. Das Urteil des [X.] enthält insbesondere keine Feststellungen zum Einkommen des [X.]; eine endgültige Überprüfung der Leistungshöhe ist deshalb nicht möglich. Höhere Leistungen setzen auch voraus, dass die Voraussetzungen für Grundsicherungsleistungen überhaupt vorliegen (§ 19 Abs 2, § 41 [X.]). [X.] sind von Amts wegen auch statt der Grundsicherungsleistungen, wenn deren Voraussetzungen nicht vorliegen sollten, höhere Leistungen unmittelbar gemäß §§ 19 Abs 1, 28 [X.] zu erbringen (vgl [X.], 207 ff Rd[X.] 16 = [X.] 4-3530 § 6 [X.] 1); dabei wären dann allerdings die Vorgaben des § 21 [X.] zu beachten (vgl dazu im Einzelnen [X.] in jurisPK-[X.], § 21 Rd[X.] 15 ff und 21).

Das [X.] wird ggf auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

Meta

B 8 SO 9/09 R

16.12.2010

Bundessozialgericht 8. Senat

Urteil

Sachgebiet: SO

vorgehend SG München, 22. Juni 2006, Az: S 52 SO 12/06, Urteil

§ 41 Abs 1 Nr 1 SGB 12 vom 27.12.2003, § 42 S 1 SGB 12 vom 21.03.2005, § 23 Abs 1 S 2 BSHG vom 23.07.1996, § 28 Abs 1 S 1 SGB 12 vom 09.12.2004, § 30 Abs 1 Nr 1 SGB 12 vom 27.12.2003, Art 3 Abs 1 GG, Art 20 Abs 3 GG

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Urteil vom 16.12.2010, Az. B 8 SO 9/09 R (REWIS RS 2010, 222)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2010, 222

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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1 BvR 2628/07

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