Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 11.03.2010, Az. 1 BvR 2909/08

1. Senat 2. Kammer | REWIS RS 2010, 8572

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Nichtannahmebeschluss: Unzureichend substantiierte Urteilsverfassungsbeschwerde - Vereinbarkeit der Bemessung von Arbeitslosengeld gem §§ 130, 132 SGB 3 mit Art 3 Abs 1, Art 6 Abs 1 GG im Falle von ihr Kind in den ersten Lebensjahren selber betreuenden Eltern


Gründe

1

Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen, denn sie ist unzulässig. Sie ist nicht im Sinne von § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 [X.] hinreichend begründet.

2

1. Nach § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 [X.] muss sich die Verfassungsbeschwerde mit dem zugrunde liegenden einfachen Recht sowie mit der verfassungsrechtlichen Beurteilung des vorgetragenen Sachverhalts auseinandersetzen und hinreichend substantiiert darlegen, dass eine Grundrechtsverletzung möglich erscheint (vgl. [X.] 89, 155 <171>). Der Beschwerdeführer muss darlegen, mit welchen verfassungsrechtlichen Anforderungen die angegriffene Maßnahme kollidiert (vgl. [X.] 108, 370 <386>). Soweit das [X.] für bestimmte Fragen bereits verfassungsrechtliche Maßstäbe entwickelt hat, muss anhand dieser Maßstäbe aufgezeigt werden, inwieweit Grundrechte durch die angegriffene Maßnahme verletzt werden (vgl. [X.] 99, 84 <87>; 101, 331 <346>; 102, 147 <164>; [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 2. September 2009 - 1 BvR 1997/08 -, juris, Rn. 5). Bei [X.] ist zudem in der Regel eine ins Einzelne gehende argumentative Auseinandersetzung mit den Gründen der angefochtenen Entscheidung erforderlich (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 28. Februar 2008 - 1 BvR 1778/05 -, juris, Rn. 2 m.w.N.).

3

2. Diesen Anforderungen genügt die Beschwerdebegründung nicht.

4

a) Die Ausführungen zu einer Verletzung des in Art. 6 Abs. 1 [X.] enthaltenen Diskriminierungsverbots durch die angebliche Besserstellung berufstätiger Eltern gegenüber Eltern, die während der ersten drei Lebensjahre ihres Kindes keiner Erwerbstätigkeit nachgehen, bei der Bestimmung der Höhe des [X.] nach §§ 130, 132 [X.] in der Fassung des [X.] vom 23. Dezember 2003 ([X.]) gehen nicht auf die vom [X.] insoweit entwickelten Grundsätze ein. Nach der ständigen Rechtsprechung des [X.]s ist Art. 6 Abs. 1 [X.] in seiner Funktion als Diskriminierungsverbot nicht einschlägig, wenn es um den Vergleich von Personengruppen geht, die gleichermaßen von Art. 6 Abs. 1 [X.] geschützt sind (vgl. [X.] 9, 237 <242 f.>; 11, 64 <69>; 29, 71 <79>; 45, 104 <126>). Das [X.] hat sogar entschieden, dass sich in solchen Fällen wegen der Gleichrangigkeit des durch das Grundgesetz gewährleisteten Schutzes gar keine besonderen Anforderungen an die Regelungsbefugnis des Gesetzgebers aus Art. 6 Abs. 1 [X.] herleiten lassen (vgl. [X.] 66, 84 <94 f.>).

5

Unsubstantiiert ist der Einwand, durch §§ 130, 132 [X.] werde in die Entscheidungsfreiheit der Eltern, ob sie wegen der Betreuung ihrer Kinder auf eine Erwerbstätigkeit verzichten wollen, eingegriffen. Warum in der Gewährung einer Sozialleistung, die bei Fortsetzung der Erwerbstätigkeit höher ausgefallen wäre, ein abwehrrechtlich relevanter Eingriff in das aus [ref=e2e53045-dc0b-440d-b15e-ee55027dec80]Art. 6 Abs. 1 [X.]] folgende Freiheitsrecht (vgl. z.B. [X.] 80, 81 <92>) liegen soll, legt die Beschwerdeführerin nicht dar. Sie setzt sich auch nicht damit auseinander, dass das [X.] die Frage der hinreichenden Berücksichtigung der Erziehung und Betreuung von Kindern auf der [X.] im Sozialversicherungsrecht bislang nicht an dem aus [ref=dc3eff0e-aa72-4e0b-bd09-3d13ae0937a6]Art. 6 Abs. 1 [X.]] folgenden Abwehrrecht gemessen hat (vgl. [X.] 87, 1 <35 ff.>; 103, 242 <258 ff.>; 109, 96 <125 f.>).

6

b) Hinsichtlich des als verletzt gerügten Art. 6 Abs. 4 [X.] fehlt es an einer Auseinandersetzung mit der ständigen Rechtsprechung des [X.]s. Danach können aus Art. 6 Abs. 4 [X.] für Sachverhalte, die nicht allein Mütter betreffen, keine besonderen Rechte hergeleitet werden (vgl. [X.] 87, 1 <42>; 94, 241 <259>). Obwohl das [X.] sich ausdrücklich auf diese Rechtsprechung bezogen hat, erwähnt sie die Beschwerdeführerin ebenso wenig wie die daraus in der Literatur gezogene Schlussfolgerung, Belastungen, die der Mutter durch die Betreuung und Erziehung des Kindes entstünden, eröffneten den Schutzbereich des Art. 6 Abs. 4 [X.] nicht, da sie auch Väter gleichermaßen treffen könnten (vgl. [X.], in: [X.]/[X.], [X.], 10. Aufl. 2009, Art. 6 Rn. 53 m.w.N.). Im Falle der Beschwerdeführerin sind es zudem nicht die [X.] nach § 3 Abs. 2, § 6 Abs. 1 MuSchG, die dazu führen, dass nach § 132 Abs. 1 [X.] ein fiktives Arbeitsentgelt als Bemessungsentgelt anzusetzen ist. Diese lagen vielmehr, wie das [X.] festgestellt hat, außerhalb des erweiterten [X.] nach § 130 Abs. 3 Satz 1 [X.].

7

c) Soweit die Beschwerdeführerin eine Verletzung von Art. 3 Abs. 1 [X.], eventuell in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 [X.], geltend macht, sie werde zum Einen im Verhältnis zu Versicherten, die bis zum Zeitpunkt der Entstehung der Voraussetzungen für einen Anspruch auf Arbeitslosengeld durchgehend voll erwerbstätig waren, ohne sachlichen Grund benachteiligt und zum Anderen in verfassungswidriger Weise mit Versicherten mit lückenhafter und prekärer Erwerbsbiographie, die ihre Erwerbstätigkeit unfreiwillig häufiger unterbrächen, gleich behandelt, sind ihre Ausführungen unzureichend.

8

Es fehlt an einer hinreichenden Auseinandersetzung mit den ausführlichen Erwägungen des [X.]s zum Vorliegen eines sachlichen Grundes. Diesen leitet das [X.] aus der Funktion des Arbeitslosengeldes als Lohnersatzleistung ab: Das Arbeitslosengeld solle das Arbeitsentgelt ersetzen, das der Arbeitslose wegen der Arbeitslosigkeit aktuell, also in einer potentiellen neuen Beschäftigung, nicht erzielt (sog. Entgeltausfallprinzip, siehe auch BTDrucks 13/5062, [X.]; [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 15. Februar 1993 - 1 BvR 1754/92 -, juris, Rn. 6). Dem im Bemessungszeitraum erzielten Arbeitsentgelt messe das Gesetz grundsätzlich Indizwirkung in dem Sinne bei, dass es typisierend das Arbeitsentgelt anzeige, das der Arbeitslose, hätte er Arbeit, auch aktuell erzielen könnte. Bei länger zurück liegenden [X.] sei jedoch die Vermutung nicht mehr gerechtfertigt, dass der Arbeitslose dieses Bemessungsentgelt auch in Zukunft verdienen könne. Diese Überlegungen hätten auch früheren Regelungen (§ 112 Abs. 7 2. Alt. [X.] , [ref=3223aef4-5901-4359-8df2-1ac83e5fc1ec]§ 133 Abs. 4 [X.][/ref] in der bis zum 31. Dezember 2004 geltenden Fassung) zugrunde gelegen (vgl. dazu auch BTDrucks 8/1053, [X.] zu Art. 1 Nr. 6 Buchstabe b)).

9

Diese Erwägungen gibt die Beschwerdeführerin nur verkürzt und unzutreffend wieder, indem sie ausführt, das [X.] erwähne das Risiko des Qualifikationsverlustes, was jedoch als sachlicher Grund nicht ausreiche. Den entscheidenden Ansatz des [X.]s erörtert sie nicht. Das [X.] hat nicht etwa darauf abgestellt, dass Versicherte, die, wie die Beschwerdeführerin, wegen der Betreuung und Erziehung ihrer Kinder mit der Erwerbstätigkeit aussetzen, ihre einmal erworbenen Qualifikationen verlören. Vielmehr hat es sich darauf gestützt, dass der Gesetzgeber typisierend davon ausgehe, dass bei einer mehrjährigen Unterbrechung des Erwerbslebens ein nahtloser Wiedereinstieg in die bisherige Berufsbiographie, insbesondere mit einem unveränderten Marktwert der angebotenen Arbeitsleistung, nicht als gesichert gelten könne. Der Marktwert der angebotenen Arbeitsleistung kann sich auch durch andere Umstände als den Verlust von Kenntnissen und Fertigkeiten durch fehlende Ausübung einer Erwerbstätigkeit verringern, z.B. durch einen zunehmenden Überhang von Bewerbern, veränderte Arbeitsbedingungen und gesamtwirtschaftliche Lohnschwankungen. Warum die vom [X.] angenommene Sichtweise des Gesetzgebers die verfassungsrechtlichen Grenzen zulässiger Typisierung (vgl. hierzu z.B. [X.] 17, 1 <23 f.>; 111, 115 <137>) überschreiten soll, legt die Beschwerdeführerin nicht dar.

Vor diesem Hintergrund sind auch die Ausführungen der Beschwerdeführerin zu einer angeblich unzulässigen Gleichbehandlung mit Versicherten, die aus anderen Gründen Lücken in ihrer Erwerbsbiographie aufweisen, nicht nachvollziehbar. Warum in Anbetracht der vom [X.] herausgearbeiteten Intention des Gesetzgebers dem Umstand, dass die Beschwerdeführerin ihr Beschäftigungsverhältnis freiwillig wegen der Betreuung und Erziehung ihres Kindes unterbrochen habe, für die Bestimmung der Höhe des Arbeitslosengeldes entscheidende Bedeutung zukommen soll, legt die Beschwerdeführerin nicht dar.

Soweit die Beschwerdeführerin bemängelt, die arbeitsrechtlichen Regelungen über die Inanspruchnahme von Elternzeit und die Regelungen über die Bestimmung des [X.] als Grundlage für die Höhe des Arbeitslosengeldes seien nicht kohärent, setzt sie sich nicht mit der vom [X.] zitierten Rechtsprechung des [X.]s auseinander, wonach Art. 3 Abs. 1 [X.] den Gesetzgeber, der sich im Rahmen seines Ermessens bei der Ausgestaltung von staatlichen Leistungen für eine familienpolitische Förderung durch Gewährung von Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub entschieden hat, nicht verpflichtet, diese Förderung auch im Zusammenhang mit anderen sozialrechtlichen Regelungen uneingeschränkt zur Geltung zu bringen (vgl. [X.]K 4, 215 <218 f.>).

Die Beschwerdeführerin erörtert schließlich nicht, dass, wie das [X.] hervor gehoben hat, Eltern in der Arbeitslosenversicherung seit dem 1. Januar 2003 dadurch begünstigt werden, dass sie zum Einen während der Erziehungszeit nach § 26 Abs. 2a [X.] in einem Versicherungspflichtverhältnis stehen und so die Anwartschaftszeit nach §§ 123, 124 [X.] für einen Anspruch auf Arbeitslosengeld dem Grunde nach auch ohne Erwerbstätigkeit erfüllen können und sich zum Anderen die Höhe des Arbeitslosengeldes nach einem Arbeitsentgelt richtet, bei dem der Gesetzgeber typisierend davon ausgeht, dass es dem aktuellen Marktwert der Arbeitsleistung in Abhängigkeit von der beruflichen Qualifikation entspricht. Gegen die gesetzlich bestimmte Höhe des anzusetzenden fiktiven Arbeitsentgelts nach § 132 Abs. 2 [X.] hat die Beschwerdeführerin keine verfassungsrechtlichen Einwände erhoben.

Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 [X.] abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Meta

1 BvR 2909/08

11.03.2010

Bundesverfassungsgericht 1. Senat 2. Kammer

Nichtannahmebeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend BSG, 29. Mai 2008, Az: B 11a AL 23/07 R, Urteil

Art 3 Abs 1 GG, Art 6 Abs 1 GG, Art 6 Abs 4 GG, § 23 Abs 1 S 2 BVerfGG, § 92 BVerfGG, § 130 SGB 3 vom 23.12.2003, § 132 SGB 3 vom 23.12.2003

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 11.03.2010, Az. 1 BvR 2909/08 (REWIS RS 2010, 8572)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2010, 8572

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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