Bundessozialgericht, Beschluss vom 25.01.2011, Az. B 5 R 261/10 B

5. Senat | REWIS RS 2011, 10116

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Gegenstand

Sozialgerichtliches Verfahren - mündliche Verhandlung - Darstellung des Sachverhalts - Verfahrensmangel - Nichtzulassungsbeschwerde


Leitsatz

Unterbleibt in der mündlichen Verhandlung die Darstellung des Sachverhalts, so liegt auch dann ein wesentlicher Verfahrensmangel vor, wenn die ehrenamtlichen Richter vorab über den Sachverhalt in Kenntnis gesetzt worden sind und die anwesenden Beteiligten auf den Sachvortrag verzichten (Fortführung der Rechtsprechung des BSG vom 23.11.1965 - 11 RA 368/65, vom 27.2.1964 - 12 RJ 254/63 = SozR Nr 5 zu § 112 SGG, vom 22.4.1965 - 10 RV 42/65, vom 14.3.1968 - 11 RA 140/67 = SozR Nr 8 zu § 112 SGG und Abgrenzung von BVerwG vom 18.4.1983 - 9 B 2337/80 = Buchholz 310 § 103 VwGO Nr 5).

Tenor

Auf die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision wird das Urteil des [X.] vom 28. Januar 2010 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte dem Kläger ab dem 1.6.2004 Rente wegen Erwerbsminderung gewähren muss.

2

Am [X.] verhandelte das [X.] mündlich über die Berufung des [X.] gegen das klageabweisende Urteil des [X.] vom 13.2.2007. Die Darstellung des Sachverhalts unterblieb, nachdem der erschienene Beklagtenvertreter "im Hinblick auf die Abwesenheit des [X.]" hierauf verzichtet und der Vorsitzende darauf hingewiesen hatte, "dass die ehrenamtlichen [X.] bereits vorab über den Sachverhalt in Kenntnis gesetzt" worden seien. Mit Urteil vom selben Tag hat das [X.] die Berufung des [X.] zurückgewiesen. Gegen die Nichtzulassung der Revision hat der Kläger beim BSG Beschwerde eingelegt und einen Verfahrensmangel iS von § 160 Abs 2 [X.] [X.] iVm § 112 Abs 1 Satz 2 [X.] geltend gemacht.

3

II. [X.] ist zulässig und im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung begründet.

4

Der Kläger hat ordnungsgemäß dargetan, dass das [X.] gegen § 112 Abs 1 Satz 2 [X.] verstoßen habe und das angefochtene Urteil auf diesem Verfahrensmangel beruhen könne 160 Abs 2 Nr 3 iVm § 160a Abs 2 Satz 3 [X.]).

5

Der gerügte Verfahrensmangel liegt auch vor. Gemäß § 112 Abs 1 Satz 2 [X.] (iVm § 153 Abs 1 [X.]) beginnt die mündliche Verhandlung nach [X.] mit der Darstellung des Sachverhalts. Ausweislich der Sitzungsniederschrift vom [X.] hat aber weder der Vorsitzende noch ein anderer [X.] den Sachverhalt vorgetragen. Der Verzicht des Beklagtenvertreters auf den Sachbericht, die Abwesenheit des [X.] und der Hinweis des Vorsitzenden, die ehrenamtlichen [X.] seien "bereits vorab über den Sachverhalt in Kenntnis gesetzt" worden, rechtfertigten es nicht, von der Darstellung des Sachverhalts abzusehen.

6

Der Sachvortrag ist Kernstück der mündlichen Verhandlung (vgl [X.] in [X.]/[X.]/[X.], [X.], 9. Aufl 2008, § 112 RdNr 5b) und soll insbesondere sicherstellen, dass sowohl die beisitzenden [X.] als auch die Beteiligten zeit- und inhaltsgleich erfahren, welche Tatumstände der vortragende [X.] für wesentlich hält (BSG, Urteil vom 23.11.1966 - 11 RA 368/65 - Juris; [X.] und [X.] zu § 112 [X.]). Der Sachbericht hat also mehrere Adressaten: Erstens die übrigen [X.] einschließlich der ehrenamtlichen [X.], die die Akten normalerweise nicht kennen ([X.] Nr 5 zu § 112 [X.]; [X.], [X.], 2. Aufl 2010, RdNr 754). Für sie bildet der Sachvortrag die wesentliche Grundlage ihres Fragerechts 112 Abs 4 Satz 1 [X.]) und der Entscheidungsfindung ([X.] Nr 8 zu § 112 [X.]; [X.], aaO). Zweitens die im Termin erschienenen Beteiligten. Sie können während des Sachberichts prüfen, ob das Gericht den Sach- und Streitstand richtig erfasst hat und ggf Berichtigungen und Ergänzungen anbringen (vgl zum Ganzen: [X.]/[X.], Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 5. Aufl 2008, [X.] RdNr 154). Darüber hinaus stellt der Sachvortrag schließlich auch die Kontrollfunktion der Öffentlichkeit (§ 61 Abs 1 [X.] iVm § 169 [X.], Art 6 Abs 1 [X.]) sicher.

7

Ein wesentlicher Verfahrensfehler wegen des Verstoßes gegen § 112 Abs 1 Satz 2 [X.] ([X.] [X.] zu § 112 [X.]) scheidet nicht etwa deshalb aus, weil der in der mündlichen Verhandlung unterlassene Sachvortrag rechtlich gleichwertig durch andere Maßnahmen erfüllt worden wäre. Der im Protokoll allein dokumentierte und damit bewiesene (§ 122 [X.] iVm § 165 Satz 1 ZPO) Hinweis des Vorsitzenden auf die Vorabinformation der ehrenamtlichen [X.] lässt offen, wer diese [X.] zu welchem genauen Zeitpunkt und auf welche Weise informiert hat. Die Beachtung sonstiger Förmlichkeiten, zu denen auch die wesentlichen Vorgänge der Verhandlung, wie sie § 112 [X.] vorschreibt, zählen (Roller in [X.], HK-[X.], 3. Aufl 2009, § 122 RdNr 4; [X.] in [X.]/Fichte, [X.], 2009, § 122 RdNr 17; [X.] in [X.], [X.], § 122 RdNr 16), ist im Protokoll, das insofern einziges Beweismittel ist, schon hinsichtlich der ehrenamtlichen [X.] nicht dokumentiert. Die selektive schriftliche oder mündliche Vorab-Information allein der ehrenamtlichen [X.] kann schließlich schon nicht sicherstellen, dass auch die anderen Berufsrichter und die erschienenen Beteiligten die erforderlichen Informationen einheitlich und gleichzeitig ([X.] [X.] zu § 112 [X.]) erhalten. Gerade dies ist jedoch aus rechtsstaatlichen Gründen im öffentlichen Interesse ([X.] zu § 112 [X.]) vorgeschrieben.

8

Das Recht des [X.], sich auf die fehlende Darstellung des Sachverhalts am Beginn der mündlichen Verhandlung zu berufen, ist auch nicht gemäß § 202 [X.] iVm § 295 Abs 1 ZPO entfallen. Der Kläger war ausweislich des Protokolls in der mündlichen Verhandlung vom [X.] nicht anwesend und kann dort schon deshalb weder den Verzicht auf die Einhaltung von § 112 Abs 1 Satz 2 [X.] erklärt (§ 295 Abs 1 Regelung 1 ZPO) noch die Rüge eines ihm bekannten Verfahrensfehlers (§ 295 Abs 1 Regelung 2 ZPO) unterlassen haben. Auch gibt es keine Hinweise darauf, dass er eine Verzichtserklärung wenigstens sinngemäß abgegeben hätte. Insbesondere hat er durch sein Ausbleiben im Termin zur mündlichen Verhandlung am [X.] zwar konkludent auf die Teilnahme hieran, nicht aber gleichzeitig darauf verzichtet, dass die gesetzlichen Vorschriften über den Ablauf der Verhandlung befolgt werden (vgl BSG vom 12.10.1972 - 10 RV 357/72 - Juris RdNr 24 bezüglich der ausdrücklichen Ankündigung eines [X.], nicht zur mündlichen Verhandlung zu erscheinen). Er hat damit lediglich eine Entscheidung auf Grund vollständiger mündlicher Verhandlung (§ 124 Abs 1 [X.]) oder eine solche nach Lage der Akten (§ 126 [X.]) in Kauf genommen, musste aber nicht etwa mit der - im Gesetz nicht vorgesehenen - Möglichkeit rechnen, dass sein Prozessgegner gehört wird, während sein eigenes Vorbringen nicht einmal in der Darstellung des Sachverhalts zum Ausdruck kommt (vgl dazu auch BSG, Urteil vom [X.] - 4 RJ 423/64 - Juris). Soweit demgegenüber der Vertreter der Beklagten ausweislich des Protokolls erklärt hatte: "Der Sachverhalt ist [X.] bekannt. Im Hinblick auf die Abwesenheit des [X.] verzichte ich auf eine Zusammenfassung des Sachverhalts durch den Senat", kann auch ein hierin liegender wirksamer Verzicht Auswirkungen allenfalls auf deren eigene prozessuale Situation haben. Seine Anwendbarkeit trotz des öffentlichen Interesses an der Information der [X.] (vgl [X.] [X.] zu § 112 [X.]; BSG vom 23.11.1966 - 11 RA 368/65 - Juris RdNr 10; vgl auch [X.]/[X.], aaO) vorausgesetzt (§ 295 Abs 2 ZPO), könnte § 295 Abs 1 Regelung 1 ZPO daher allenfalls das vorliegend nicht zu erörternde Rügerecht der Beklagten entfallen lassen.

9

Auf dem Verfahrensmangel kann die angefochtene Entscheidung beruhen. Denn es ist nicht auszuschließen, dass das Urteil anders ausgefallen wäre, wenn ein Mitglied des [X.] alle beisitzenden [X.] im Verhandlungstermin mündlich über den aktuellen Sach- und Streitstand unterrichtet hätte. Denn zur (endgültigen) Aufgabe des Lehrberufs ([X.]), zur Qualifizierung der "Tätigkeit als Isolierer im Brückenbau" als maßgeblichem Hauptberuf (aus dem nervenärztlichen Gutachten geht hervor, dass der Kläger hier am ersten Arbeitstag erkrankt sei und die [X.] anschließend nicht wieder aufgenommen habe), zur Möglichkeit, eine freie Toilette am Arbeitsplatz rasch zu erreichen, zur Frage der Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen sowie zur Verweisbarkeit des [X.] auf die Tätigkeit eines Büroboten lassen sich unterschiedliche Meinungen vertreten, die eine Rentengewährung nicht von vornherein ausgeschlossen erscheinen lassen.

Soweit das [X.] in seinem Beschluss vom 18.4.1983 (9 B 2337/80 - [X.] 310 § 103 VwGO Nr 5 = NJW 1984, 251) zu § 103 Abs 2 VwGO entschieden hat, es spreche "aufgrund der Bindung des [X.]s an Gesetz und Recht eine Vermutung dafür", dass "allen [X.]n im Rahmen der Beratung eine vollständige Unterrichtung über den Sach- und Streitstoff zuteil" werde und das Gegenteil nur angenommen werden könne, wenn sich aus der angefochtenen Entscheidung selbst Zweifel daran herleiten ließen, dass eine ausreichende Unterrichtung der mitwirkenden [X.] auch außerhalb der mündlichen Verhandlung unterblieben sei, schließt sich der Senat dieser Rechtsprechung nicht an ([X.], VwGO, 16. Aufl 2009, § 103 RdNr 6; [X.], aaO, § 112 RdNr 5c).

Der 10. Senat des BSG hat bereits im Urteil vom [X.] (10 RV 42/65, Juris RdNr 12) darauf hingewiesen, dass im sozialgerichtlichen Verfahren die Darstellung des Sachverhalts wesentlicher Bestandteil, Grundlage und Kernstück der mündlichen Verhandlung ist. Eine - nach Auffassung des [X.] aaO "regelmäßig anzunehmende" - Unterrichtung der ehrenamtlichen [X.] erst in der Beratung ist demgegenüber weder geeignet, wenigstens diesen Personenkreis vorweg (!) in den Sach- und Streitstand einzuführen, um ihn so in die Lage zu versetzen, den geltend gemachten Anspruch und das Vorbringen hierzu sachgerecht zu beurteilen (BSG vom [X.] aaO), noch genügt sie den weiteren Erfordernissen der einheitlichen und gleichzeitigen Information aller beisitzenden [X.] und der erschienenen Beteiligten. Sie gleicht damit hinsichtlich des letztgenannten Gesichtspunkts der selektiven schriftlichen Information der ehrenamtlichen [X.]. Entgegen der vom [X.] für das Verfahrensrecht der Verwaltungsgerichtsbarkeit vertretenen Auffassung kann unter diesen Umständen in Verfahren der Sozialgerichtsbarkeit der einmal begangene Fehler der unterlassenen Darstellung des Sachverhalts in der mündlichen Verhandlung seine negativen Wirkungen nicht mehr durch eine Unterrichtung in der Beratung verlieren. Im Blick hierauf ist vorliegend nicht näher darauf einzugehen, dass es für die vom [X.] zu Grunde gelegte Vermutung an einer Grundlage fehlen dürfte, wenn dem Gericht entgegen seiner Bindung an Recht und Gesetz (Art 20 Abs 3 GG) unmittelbar vorher ein wesentlicher Verfahrensmangel unterlaufen ist. Darüber hinaus dürfte es unter anderem bereits mit dem Grundsatz des fairen Verfahrens unvereinbar sein, einem Beteiligten Vortrag gerade zu dem durch das Beratungsgeheimnis (§§ 43, 45 Abs 1 Satz 2 DRiG) seiner Wahrnehmung entzogenen Teil des Verfahrens zuzumuten, zumal die Entscheidungsgründe gerade nicht so abgefasst sein dürfen, dass sie entsprechende Rückschlüsse zulassen ([X.] in [X.], aaO, § 61 RdNr 10).

Nach § 160a Abs 5 [X.] kann das erkennende Gericht in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückverweisen, wenn - wie hier - die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 [X.] [X.] vorliegen. Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch.

Das [X.] wird im wieder eröffneten Berufungsverfahren auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.

Meta

B 5 R 261/10 B

25.01.2011

Bundessozialgericht 5. Senat

Beschluss

Sachgebiet: R

vorgehend SG Gotha, 13. Februar 2007, Az: S 11 RJ 2962/04, Urteil

§ 112 Abs 1 S 2 SGG, § 153 SGG, § 202 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 160a Abs 2 S 3 SGG, § 295 Abs 1 ZPO, § 103 Abs 2 VwGO, § 43 DRiG, § 45 Abs 1 S 2 DRiG

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 25.01.2011, Az. B 5 R 261/10 B (REWIS RS 2011, 10116)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 10116

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