Bundesgerichtshof, Beschluss vom 20.12.2022, Az. XIII ZB 8/20

13. Zivilsenat | REWIS RS 2022, 8995

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Gegenstand

(Notwendigkeit einer Sachaufklärung bei möglicherweise fehlender Haftfähigkeit) 


Tenor

Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss des [X.], [X.], vom 23. Dezember 2019 wird auf Kosten des Betroffenen mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass [X.] nicht erhoben werden.

Der Antrag des Betroffenen auf Gewährung von Verfahrenskostenhilfe wird zurückgewiesen.

Der Gegenstandswert des [X.] beträgt 5.000 €.

Gründe

1

I. Der Betroffene, ein [X.] lankischer Staatsangehöriger, reiste 2013 in das [X.] ein. Seinen Asylantrag lehnte das [X.] ([X.]) mit Bescheid vom 21. März 2013 ab. Mit weiterem Bescheid vom 23. November 2017 lehnte das [X.] einen [X.] als unzulässig ab. [X.] Rechtsschutz blieb erfolglos.

2

Ein [X.] im Juli 2018 scheiterte, weil der Betroffene nicht in seiner Unterkunft angetroffen werden konnte. Am 20. November 2019 wurde er festgenommen, als er bei der Außenstelle des [X.]s in [X.] einen weiteren [X.] stellen wollte.

3

Das Amtsgericht ordnete mit Beschluss vom 21. November 2019 Haft bis zum 9. Dezember 2019 an. Aufgrund vorgelegter ärztlicher Atteste, aus denen sich ergab, dass der Betroffene an einer paranoiden schizophrenen Störung und einer posttraumatischen Belastungsstörung leide, depressiv sei und Angstzustände sowie Suizidgedanken habe, gelangte die beteiligte Behörde zu dem Entschluss, den Betroffenen unter ärztlicher Begleitung abzuschieben, was jedoch nicht mehr bis zum Ende der angeordneten Haft erfolgen konnte, sondern für den 13. Januar 2019 geplant wurde.

4

Auf Antrag der beteiligten Behörde vom 4. Dezember 2019 hat das Amtsgericht mit Beschluss vom 6. Dezember 2019 die Verlängerung der Abschiebungshaft bis zum 19. Januar 2019 angeordnet. Die vom Betroffenen dagegen eingelegte Beschwerde hat das Beschwerdegericht, das den Betroffenen persönlich angehört hat, mit Beschluss vom 23. Dezember 2019 zurückgewiesen. Mit der Rechtsbeschwerde begehrt der Betroffene - nachdem er am 9. Januar 2020 aus der Haft entlassen worden ist - die Feststellung, dass die angefochtenen Beschlüsse ihn in seinen Rechten verletzt haben.

5

II. Die zulässige Rechtsbeschwerde ist unbegründet.

6

1. Das Beschwerdegericht hat angenommen, die Anordnung der Haftverlängerung sei verhältnismäßig. Der Betroffene sei haftfähig. Aus den vorgelegten Attesten könne in einer Gesamtschau entnommen werden, dass der Betroffene für den Fall seiner Abschiebung angekündigt habe, sich das Leben zu nehmen. Zudem seien bei weiteren Abschiebungsmaßnahmen weitere psychische Erkrankungen zu erwarten. Aus den Attesten ergebe sich jedoch nicht, dass auch die Inhaftierung als solche eine erhebliche Gesundheitsgefahr für den Betroffenen darstelle. Eine solche sei auch nicht auf Grundlage der weiteren Erkenntnisse des [X.] glaubhaft. Die beteiligte Behörde habe das Beschleunigungsgebot nicht verletzt, indem sie nach Vorlage der ärztlichen Atteste erst am 2. Dezember 2019 mit der Planung einer ärztlich begleiteten Rückführung begonnen und die ursprünglich für den 9. Dezember 2019 vorgesehene Abschiebung storniert habe.

7

2. Das hält rechtlicher Überprüfung stand. Der Betroffene ist weder durch den Beschluss des Amtsgerichts noch den des [X.] in seinen Rechten verletzt.

8

a) Das Beschwerdegericht hat den sich aus § 26 FamFG ergebenden Pflichten zur Aufklärung des Sachverhalts hinreichend Rechnung getragen.

9

aa) Die Inhaftierung oder Aufrechterhaltung der Haft eines erkennbar haftunfähigen Betroffenen ist rechtswidrig ([X.], Beschluss vom 12. Mai 2011 - [X.], juris Rn. 8). Bestehen vor oder nach Anordnung der Haft - für das Gericht erkennbar - hinreichende und konkrete Anhaltspunkte dafür, dass die Haftfähigkeit möglicherweise nicht oder nicht mehr gegeben ist, hat es gemäß § 26 FamFG und gegebenenfalls im Hinblick auf eine sich daraus ergebende Pflicht zur Aufhebung der Haft nach § 426 FamFG den Sachverhalt aufzuklären. Unterlässt es das Gericht, in die gebotene Sachaufklärung einzutreten, verletzt die (weitere) Freiheitsentziehung den Betroffenen in seinem Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG ([X.], Beschlüsse vom 12. Mai 2011 - [X.], juris Rn. 8; vom 30. Oktober 2013 - [X.], [X.] 2014, 138 Rn. 7). Vor diesem Hintergrund kann eine bei einem Betroffenen möglicherweise bestehende Suizidgefahr auch im Verfahren der Freiheitsentziehung Bedeutung erlangen. Uneingeschränkt gilt das aber nur, wenn sie die Haftfähigkeit des Betroffenen in Frage stellt. Anders liegt es dagegen, wenn die Suizidgefahr die Frage nach einem Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 7 [X.] aufwirft, deren Prüfung allein Aufgabe der Verwaltungsgerichte und nicht des [X.] ist. Der Haftrichter hat in einem solchen Fall nur zu prüfen, ob die Abschiebung trotz des von dem Betroffenen geltend gemachten Abschiebungshindernisses durchgeführt werden kann ([X.], Beschlüsse vom 25. Februar 2010 - [X.], NVwZ 2010, 726 Rn. 23 f.; vom 10. Mai 2012 - [X.], [X.] 2012, 225 Rn. 14; vom 11. Oktober 2012 - [X.] 274/11, [X.] 2013, 40 Rn. 11; vom 14. April 2016 - [X.] 112/15, juris Rn. 16; vom 1. Juni 2017 - [X.] 163/15, [X.] 2017, 380 Rn. 8).

bb) § 26 FamFG verpflichtet das Tatgericht, alle zur Aufklärung des Sachverhalts dienlichen Ermittlungen nach pflichtgemäßem Ermessen anzustellen, wobei sich die Anforderungen, die an Umfang und Intensität der Ermittlungspflicht zu stellen sind, nur in sehr eingeschränktem Maße generell und abstrakt bestimmen lassen ([X.], Beschluss vom 10. August 2022 - [X.]/20, [X.], 1761 Rn. 17; [X.]Z 118, 151, 163). Das Gericht hat im Rahmen der zuverlässigen Wahrheitserforschung nach § 26 FamFG jedenfalls nur die Untersuchungen vorzunehmen, die erforderlich sind. Hierzu ist eine Ermessensentscheidung zu treffen, welche weiteren Ermittlungen Erfolg versprechen ([X.], Beschluss vom 22. Februar 2022 - 3 [X.], [X.], 187 Rn. 22). Die Ermittlungen sind erst dann abzuschließen, wenn von weiteren Ermittlungen ein sachdienliches, die Entscheidung beeinflussendes Ergebnis nicht mehr zu erwarten ist ([X.], [X.], 1761 Rn. 17).

Auf die Unterstützung eines Sachverständigen ist dann zurückzugreifen, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass eine ergänzende Befunderhebung oder sachverständige wissenschaftliche Bewertung nötig sein könnten, weil dem Gericht die erforderliche Sachkunde fehlt ([X.], [X.], 187 Rn. 22; [X.], Beschluss vom 1. Dezember 2020 - 2 BvR 916/11 u.a., [X.]E 156, 63 Rn. 360 mwN). Die im vorliegenden Zusammenhang zu beachtende freiheitssichernde Funktion des Art. 2 Abs. 2 GG, den Inhaftierten vor dem Tod oder einer schweren Gesundheitsgefahr zu bewahren, hat auch verfahrensrechtliche Bedeutung und verlangt, dass Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf zureichender richterlicher Sachaufklärung beruhen und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage haben, die der Bedeutung der Freiheitsgarantie entspricht ([X.], Beschluss vom 5. Juli 2022 - 2 BvR 2061/19, NJW 2022, 2744 Rn. 38, 41). Drängen sich danach Anhaltspunkte für eine Ausnahmesituation auf, die in Anbetracht der Bedeutung und Tragweite des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG ein Zurücktreten des Sicherungszwecks der Abschiebungshaft gebieten könnte, sind die Gerichte von Verfassungs wegen gehalten, den Gesundheitszustand des Betroffenen zu klären. Gegebenenfalls haben sie insoweit ergänzende ärztliche Stellungnahmen oder ein Sachverständigengutachten einzuholen (vgl. zur Vollstreckung von Strafhaft: [X.], NJW 2022, 2744 Rn. 41 mwN).

cc) Nach diesen Maßstäben war das Beschwerdegericht nicht gehalten, weitergehende Ermittlungen zur Haftfähigkeit des Betroffenen anzustellen. Fehler bei der Ausübung des dem Tatrichter nach § 26 FamFG eingeräumten Ermessens liegen nicht vor.

Das Beschwerdegericht hat sich nach persönlicher Anhörung des Betroffenen und dem daraus gewonnenen Eindruck umfassend mit den vorgelegten ärztlichen Stellungnahmen sowie mit den besonderen Umständen des Einzelfalls auseinandergesetzt und ist auf dieser Grundlage verfahrensfehlerfrei zu dem Ergebnis gelangt, dass die weitere Inhaftierung des Betroffenen für diesen keine erhebliche Gesundheitsgefahr bedeutete. Es hat dabei ohne Rechtsfehler angenommen, dass sich aus den Attesten keine Anhaltspunkte dafür ergaben, dass die Inhaftierung als solche eine Gefahr für die Gesundheit des Betroffenen begründete, sondern allenfalls die drohende Abschiebung Ursache einer Suizidgefahr des Betroffenen sein könnte. Zudem hat das Beschwerdegericht eine medizinische Stellungnahme des Anstaltsarztes, bei dem der Betroffene mehrfach vorgesprochen hatte, zur Frage seiner Haftfähigkeit eingeholt. Daraus ergab sich, dass der Betroffene weder dem Anstaltsarzt noch anderen Mitarbeitern des medizinischen oder des uniformierten Dienstes gegenüber [X.] oder Selbstverletzungsabsichten geäußert hat und seine paranoide Schizophrenie und posttraumatische Belastungsstörung behandelt wurde. Auf dieser Tatsachengrundlage konnte das Beschwerdegericht ohne Rechtsfehler schließen, dass der Betroffene haftfähig war. Jedenfalls drängten sich keine Anhaltspunkte auf, die beim Beschwerdegericht Zweifel an der Haftfähigkeit des Betroffenen hätten aufkommen lassen müssen und eine weitergehende ärztliche Stellungnahme erforderlich gemacht hätten.

dd) Das Beschwerdegericht hatte auch keinen Anlass zu bezweifeln, dass die Abschiebung durchgeführt werden könnte. Nach den Angaben der beteiligten Behörde war die Begleitung durch einen Arzt vorgesehen und sichergestellt, dass der Betroffene in [X.] einem Arzt übergeben werde. Darüber hinaus hat das Beschwerdegericht geprüft, ob das von dem Betroffenen angestrengte Eilverfahren vor dem Verwaltungsgericht S.      der Abschiebung entgegenstehen könnte, und hat diese Frage rechtsfehlerfrei verneint.

b) Ein Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot liegt ebenfalls nicht vor. Die Rechtsbeschwerde legt bereits nicht dar, dass eine frühere Stornierung der ursprünglich für den 3. Dezember 2019 geplanten unbegleiteten Rückführung es ermöglicht hätte, den Betroffenen vor dem 13. Januar 2020 und auch vor seiner vorzeitigen Haftentlassung unter ärztlicher Begleitung nach [X.] abzuschieben. Dafür bestehen angesichts der Angabe im Haftantrag, dass die beteiligte Behörde für die am 13. Januar 2020 geplante Abschiebung einen freigewordenen Platz einer anderweitig bereits geplanten, aber stornierten Abschiebung genutzt hat, auch keine Anhaltspunkte.

c) Danach ist der Betroffene auch durch den Beschluss des Amtsgerichts nicht in seinen Rechten verletzt.

3. [X.] beruht auf § 81 Abs. 1 Satz 1 und 2, § 83 Abs. 2 FamFG. Die Festsetzung des [X.] folgt aus § 36 Abs. 2 und 3 GNotKG. Verfahrenskostenhilfe war dem Betroffenen nach den vorstehenden Ausführungen nicht zu gewähren, weil die beabsichtigte Rechtsverfolgung keine Aussicht auf Erfolg hat.

[X.]     

      

[X.]     

      

Tolkmitt

      

Rombach     

      

Holzinger     

      

Meta

XIII ZB 8/20

20.12.2022

Bundesgerichtshof 13. Zivilsenat

Beschluss

Sachgebiet: ZB

vorgehend LG Karlsruhe, 23. Dezember 2019, Az: 11 T 378/19

§ 60 Abs 7 AufenthG, § 62 AufenthG, § 26 FamFG, § 426 FamFG, Art 1 Abs 1 GG, Art 2 Abs 2 S 1 GG, Art 2 Abs 2 S 2 GG, Art 104 GG

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 20.12.2022, Az. XIII ZB 8/20 (REWIS RS 2022, 8995)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2022, 8995

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