Bundessozialgericht, Urteil vom 30.01.2019, Az. B 14 AS 11/18 R

14. Senat | REWIS RS 2019, 10888

© Bundessozialgericht, Dirk Felmeden

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Gegenstand

Arbeitslosengeld II - Unterkunft und Heizung - angemessene Unterkunftskosten - schlüssiges Konzept des Grundsicherungsträgers - Vergleichsraumbildung - Rückschreibung in die Zeit vor Aufstellung


Leitsatz

Die Rückschreibung eines Konzepts zur Bestimmung der angemessenen Aufwendungen für die Unterkunft in die Zeit vor der Aufstellung des Konzepts ist unzulässig.

Tenor

Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des [X.]vom 13. September 2017 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte hat den Klägern die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

Tatbestand

1

Umstritten ist nur noch die Höhe des anzuerkennenden Bedarfs für Unterkunft für Juli 2011, insbesondere im Hinblick auf die Rückschreibung eines schlüssigen Konzepts für 2012.

2

Der 1990 geborene Kläger zu 1 ist der [X.]der 1964 geborenen Klägerin zu 2. Sie bewohnten in [X.](Salzlandkreis) eine 68,5 qm große Wohnung, für die monatlich zu zahlen waren 299 Euro Nettokaltmiete, 98,98 Euro Betriebskostenvorauszahlung und 113 Euro Heizkostenvorauszahlung, insgesamt 510,98 Euro. Im August 2010 teilte die Rechtsvorgängerin des beklagten [X.]den Klägern mit, angemessen seien pro Quadratmeter bis zu 4 Euro für die Nettokaltmiete und 1,10 Euro für die Betriebskosten. Für die [X.]vom 1.2. bis 31.7.2011 bewilligte der Beklagte den Klägern ua im Hinblick auf eine Erwerbstätigkeit der Klägerin vorläufig [X.]und erkannte als Bedarf für eine 60 qm-Wohnung monatlich eine Nettokaltmiete von 240 Euro, eine Betriebskostenvorauszahlung von 66 Euro sowie schließlich die tatsächlichen Heizkosten von 113 Euro an (Bescheide vom 20.1.2011 und 14.4.2011; Widerspruchsbescheid vom 20.6.2011). Für Juli 2011 bewilligte er unter Anerkennung dieser Bedarfe dem Kläger 168,49 Euro und der Klägerin 193,01 Euro [X.]endgültig (Bescheid vom 25.6.2011).

3

Das [X.]hat den [X.]unter Änderung der genannten Bescheide verurteilt, den Klägern monatlich von Februar bis Juli 2011 weitere 91,98 Euro als Bedarfe für die Unterkunft zu gewähren, weil von den tatsächlichen Aufwendungen auszugehen sei, die unter den Werten nach dem [X.]plus 10 % lägen (Urteil vom 25.10.2013). Die vom [X.]zugelassene Berufung des [X.]hat das L[X.]zurückgewiesen (Urteil vom 13.9.2017). Es lasse sich nicht feststellen, dass der Beklagte für die [X.]ab Februar 2011 die angemessenen Aufwendungen der Unterkunft berücksichtigt habe. Die ab dem [X.]angewandte Handlungsanweisung des [X.]zur Angemessenheit der Leistungen für Unterkunft und Heizung erfülle nicht die Mindestanforderungen an ein schlüssiges Konzept. Eine rückwirkende Anwendung des vom [X.]in 2012 erarbeiteten Konzepts sei nicht möglich.

4

Mit seiner Revision rügt der Beklagte die Verletzung von § 22 Abs 1 Satz 1 SGB II. Das L[X.]habe zu Unrecht einen Vergleichsraum festgelegt, diesbezüglich stehe dem Leistungsträger eine nicht justiziable [X.]zu. Zudem sei eine Rückschreibung der mit dem Stichtag 1.3.2012 erhobenen Mietobergrenzen für Juli 2011 mittels des [X.]möglich. [X.]als notwendig angesehene Nachermittlungen zur Vergleichsraumbildung und Erstellung eines schlüssigen Konzepts für 2012 seien möglich.

5

Der Beklagte beantragt,
die Urteile des [X.]vom 13. September 2017 und des [X.]vom 25. Oktober 2013 aufzuheben und die Klagen abzuweisen.

6

Die Kläger verteidigen die angefochtene Entscheidung und beantragen,
die Revision zurückzuweisen.

7

In einem Teilvergleich vor dem Senat haben sich die Beteiligten hinsichtlich der allein strittigen Höhe des anzuerkennenden Bedarfs für die Unterkunft für Februar bis Juni 2011 dem Ausgang des Rechtsstreits für Juli 2011 unterworfen.

Entscheidungsgründe

8

Die zulässige Revision des [X.]ist unbegründet (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG). Zu Recht hat das [X.]die Berufung des [X.]gegen das Urteil des [X.]zurückgewiesen, denn die Kläger haben Anspruch auf Leistungen für Unterkunft und Heizung unter Anerkennung ihrer tatsächlichen Aufwendungen.

9

1. Streitgegenstand des Revisionsverfahrens ist nach dem Teilvergleich vor dem Senat neben den vorinstanzlichen Entscheidungen der Bescheid vom 25.6.2011, der die Leistungen für Juli 2011 endgültig bewilligte und insoweit die vorangegangenen Bescheide ersetzte (zur Anwendbarkeit des § 96 SGG auf nach Erlass des Widerspruchsbescheids, jedoch vor Klageerhebung ergangene Bescheide vgl [X.]in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl 2017, § 96 Rd[X.]3a), sowie die Höhe der Leistungen für Unterkunft und Heizung nach § 22 Abs 1 SGB II für Juli 2011 (zur Zulässigkeit einer solchen Beschränkung B[X.]vom [X.]- [X.]AS 42/13 R - [X.]4-4200 § 22 [X.]Rd[X.]10).

2. Verfahrensrechtliche Hindernisse stehen einer Sachentscheidung des Senats nicht entgegen. Insbesondere ist die Berufung zulässig, weil sie vom [X.]zugelassen worden ist. Die Kläger verfolgen ihr Begehren zutreffend mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1, Abs 4 SGG), zulässigerweise gerichtet auf den Erlass eines Grundurteils (§ 130 Abs 1 Satz 1 SGG).

Ein solches Grundurteil im Höhenstreit ist auch hinsichtlich der zwischen den Beteiligten allein strittigen Höhe des anzuerkennenden Bedarfs für die Unterkunft zulässig. Voraussetzung für die Zulässigkeit eines Grundurteils im Höhenstreit in Abgrenzung zu einer unzulässigen Elementfeststellungsklage ist eine so umfassende Aufklärung zu Grund und Höhe des Anspruchs, dass mit Wahrscheinlichkeit von einer höheren Leistung ausgegangen werden kann, wenn der Begründung der Klage gefolgt wird (vgl nur B[X.]vom 16.4.2013 - [X.]AS 81/12 R - [X.]4-4225 § 1 [X.]Rd[X.]10 mwN; zur Abgrenzung bei Verfahren nach § 44 SGB X: B[X.]vom [X.]AS 32/16 R - BSGE 123, 199 = [X.]4-4200 § 11 [X.]80, Rd[X.]17 ff). Diese Voraussetzung ist vorliegend erfüllt, weil der Beklagte den Klägern [X.]bewilligt hat und diese Anspruch auf höheres [X.]haben, wenn ihrem Vorbringen zur Höhe des anzuerkennenden Bedarfs für die Unterkunft gefolgt wird.

3. Rechtsgrundlage der Ansprüche der Kläger auf höhere Leistungen für die Unterkunft und Heizung für Juli 2011 gegen das beklagte [X.]sind §§ 19, 22 [X.]in der ab 1.4.2011 geltenden Fassung der Bekanntmachung vom 13.5.2011 ([X.]850). Denn in Rechtsstreitigkeiten über schon abgeschlossene Bewilligungszeiträume ist das damals geltende Recht anzuwenden (Geltungszeitraumprinzip, vgl B[X.]vom 19.10.2016 - [X.]AS 53/15 R - [X.]4-4200 § 11 [X.]Rd[X.]14 f).

4. Die Bedarfe für Unterkunft und Heizung werden im Rahmen der Bewilligung von [X.]in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen anerkannt, soweit diese angemessen sind (§ 22 Abs 1 Satz 1 SGB II). Die Prüfung der Angemessenheit des Bedarfs für die Unterkunft und der des Bedarfs für die Heizung haben grundsätzlich getrennt voneinander zu erfolgen (vgl nur B[X.]vom 2.7.2009 - [X.]AS 36/08 R - BSGE 104, 41 = [X.]4-4200 § 22 [X.]23, Rd[X.]18 mwN), unbeschadet der Wirtschaftlichkeitsprüfung bei Kostensenkungsaufforderungen (§ 22 Abs 1 Satz 4 SGB II) und der zwischenzeitlich eingeführten Gesamtangemessenheitsgrenze nach § 22 Abs 10 SGB II in der Fassung des [X.]([X.]1824).

Zur Bestimmung des anzuerkennenden Bedarfs für die Unterkunft ist von den tatsächlichen Aufwendungen auszugehen (B[X.]vom [X.]- [X.]AS 8/09 R - BSGE 104, 179 = [X.]4-4200 § 22 [X.]24 <Staffelmiete>, Rd[X.]15 ff). [X.]das [X.]nicht die tatsächlichen Aufwendungen als Bedarf anerkennen, weil es sie für unangemessen hoch hält, muss es grundsätzlich ein Kostensenkungsverfahren durchführen und der leistungsberechtigten Person den der Besonderheit des Einzelfalls angemessenen Umfang der Aufwendungen mitteilen (§ 22 Abs 1 Satz 3 SGB II; so schon BSG vom 7.11.2006 - B 7b AS 10/06 R - BSGE 97, 231 = [X.]4-4200 § 22 [X.]2, Rd[X.]29; letztens B[X.]vom [X.]AS 36/15 R - [X.]4-4200 § 22 [X.]90).

5. Bei dem entscheidenden gesetzlichen Tatbestandsmerkmal "Angemessenheit" handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff (stRspr: vgl B[X.]vom 19.2.2009 - [X.]AS 30/08 R - BSGE 102, 263 = [X.]4-4200 § 22 [X.]19 <München I>, Rd[X.]12; letztens B[X.]vom 12.12.2017 - [X.]AS 33/16 R - BSGE 125, 29 = [X.]4-4200 § 22 [X.]93 <Fortschreibung schlüssiges Konzept>, Rd[X.]14).

Gegen die Verwendung dieses unbestimmten Rechtsbegriffs bestehen keine durchgreifenden Bedenken, zumal zur Konkretisierung des Tatbestandsmerkmals der Angemessenheit des § 22 Abs 1 Satz 1 SGB II auch die Regelungen der §§ 22a bis 22c [X.]zu berücksichtigen sind ([X.]vom 6.10.2017 - 1 BvL 2/15, 1 BvL 5/15 - Rd[X.]17; B[X.]vom 12.12.2017 - [X.]AS 33/16 R - BSGE 125, 29 = [X.]4-4200 § 22 [X.]93 <Fortschreibung schlüssiges Konzept>, Rd[X.]17 f).

Die Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe durch die Verwaltung ist grundsätzlich gerichtlich voll überprüfbar (vgl nur [X.]in Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Aufl 2018, § 40 Rd[X.]147 ff, § 46 Rd[X.]63 ff, jeweils mwN; [X.]in Hauck/Noftz, SGB X, [X.]§ 31 Rd[X.]100, Stand der Einzelkommentierung 12/2011) und die Angemessenheit nach § 22 Abs 1 Satz 1 SGB II ebenfalls. Eine Rechtsgrundlage oder dogmatische Herleitung für die von [X.]in diesem Zusammenhang zum Teil beanspruchte "nicht justiziable Einschätzungsprärogative" oder "gerichtlich nicht überprüfbare politische Entscheidung" sind im Lichte von Art 19 Abs 4 GG nicht ersichtlich (vgl zur vollen gerichtlichen Überprüfbarkeit die einhellige Auffassung der Literatur zu § 22 SGB II: [X.]in LPK-SGB II, 6. Aufl 2017, § 22 Rd[X.]61; [X.]in Hauck/Noftz, SGB II, [X.]§ 22 Rd[X.]71, Stand der Einzelkommentierung 10/2012; [X.]in Gagel, SGB II/SGB III, § 22 SGB II Rd[X.]33, Stand der Einzelkommentierung 10/2016; [X.]in Eicher/Luik, SGB II, 4. Aufl 2017, § 22 Rd[X.]73, 91; Piepenstock in jurisPK-SGB II, 4. Aufl 2015, § 22 Rd[X.]83; [X.]in Estelmann, SGB II, § 22 Rd[X.]71, Stand der Einzelkommentierung 10/2017).

6. Die Ermittlung des angemessenen Umfangs der Aufwendungen für die Unterkunft hat in zwei größeren Schritten zu erfolgen: Zunächst sind die abstrakt angemessenen Aufwendungen für die Unterkunft, bestehend aus Nettokaltmiete und kalten Betriebskosten (= Bruttokaltmiete), zu ermitteln; dann ist die konkrete (= subjektive) Angemessenheit dieser Aufwendungen im Vergleich mit den tatsächlichen Aufwendungen, insbesondere auch im Hinblick auf die Zumutbarkeit der notwendigen Einsparungen, einschließlich eines Umzugs, zu prüfen (stRspr B[X.]vom 7.11.2006 - B 7b AS 10/06 R - BSGE 97, 231 = [X.]4-4200 § 22 [X.]2, Rd[X.]24 f; letztens B[X.]vom 12.12.2017 - [X.]AS 33/16 R - BSGE 125, 29 = [X.]4-4200 § 22 [X.]93 <Fortschreibung schlüssiges Konzept>, Rd[X.]14 ff; vgl aus der Literatur auch zum Folgenden: [X.]in LPK-SGB II, 6. Aufl 2017, § 22 Rd[X.]63 ff; [X.]in Hauck/Noftz, SGB II, [X.]§ 22 Rd[X.]70 ff, Stand der Einzelkommentierung 10/2012; [X.]in Gagel, SGB II/SGB III, § 22 SGB II Rd[X.]33 ff, Stand der Einzelkommentierung 10/2016; [X.]in Eicher/Luik, SGB II, 4. Aufl 2017, § 22 Rd[X.]73 ff; Piepenstock in jurisPK-SGB II, 4. Aufl 2015, § 22 Rd[X.]83 ff; [X.]in Hohm, GK-SGB II, § 22 Rd[X.]ff, Stand der Einzelkommentierung 9/2017; [X.]in Estelmann, SGB II, § 22 Rd[X.]74 ff, Stand der Einzelkommentierung 10/2017).

7. Die Ermittlung der abstrakt angemessenen Aufwendungen hat unter Anwendung der Produkttheorie ("Wohnungsgröße in Quadratmeter multipliziert mit dem Quadratmeterpreis") in einem mehrstufigen Verfahren zu erfolgen, das der Senat ausgehend von der bisherigen Rechtsprechung unter Einbeziehung der Rechtsentwicklung wie folgt zusammenfasst und konkretisiert (stRspr B[X.]vom [X.]- [X.]AS 18/09 R - BSGE 104, 192 = [X.]4-4200 § 22 [X.]30 <Wilhelmshaven>; B[X.]vom 20.12.2011 - [X.]AS 19/11 R - BSGE 110, 52 = [X.]4-4200 § 22 [X.]51 <Duisburg>; B[X.]vom [X.]- [X.]AS 60/12 R - BSGE 114, 1 = [X.]4-4200 § 22 [X.]69 <überhöhte Heizkosten>, Rd[X.]18; B[X.]vom 12.12.2017 - [X.]AS 33/16 R - BSGE 125, 29 = [X.]4-4200 § 22 [X.]93 <Fortschreibung schlüssiges Konzept>, Rd[X.]14 f): (1) Bestimmung der (abstrakt) angemessenen Wohnungsgröße für die leistungsberechtigte(n) Person(en), (2) Bestimmung des angemessenen Wohnungsstandards, (3) Ermittlung der aufzuwendenden Nettokaltmiete für eine nach Größe und Wohnungsstandard angemessene Wohnung in dem maßgeblichen örtlichen [X.]nach einem schlüssigen Konzept, (4) Einbeziehung der angemessenen kalten Betriebskosten.

8. Der Ermittlung der angemessenen Nettokaltmiete in dem maßgeblichen örtlichen [X.]nach einem schlüssigen Konzept ist ausgehend von der zuvor angeführten Rechtsprechung zugrunde zu legen:

a) Der [X.]ist der Raum, für den ein grundsätzlich einheitlicher abstrakter [X.]zu ermitteln ist (B[X.]vom 19.2.2009 - [X.]AS 30/08 R - BSGE 102, 263 = [X.]4-4200 § 22 [X.]19 <München I>, Rd[X.]21), innerhalb dessen einer leistungsberechtigten Person ein Umzug zur Kostensenkung grundsätzlich zumutbar ist (vgl B[X.]vom 17.12.2009 - [X.]AS 27/09 R - [X.]4-4200 § 22 [X.]27 <Essen> Rd[X.]32 ff) und ein nicht erforderlicher Umzug nach § 22 Abs 1 Satz 2 SGB II zu einer Deckelung der Aufwendungen auf die bisherigen führt (vgl in Abgrenzung hierzu B[X.]vom [X.]- [X.]AS 60/09 R - BSGE 106, 147 = [X.]4-4200 § 22 [X.]35 <Umzug in anderen Vergleichsraum>, Rd[X.]18 ff; letztens B[X.]vom 17.2.2016 - [X.]AS 12/15 R - [X.]4-4200 § 22 [X.]88 Rd[X.]13 ff). Der [X.]ist ein ausgehend vom Wohnort der leistungsberechtigten Person bestimmter ausreichend großer Raum der Wohnbebauung, der aufgrund räumlicher Nähe, Infrastruktur und insbesondere verkehrstechnischer Verbundenheit einen insgesamt betrachtet homogenen Lebens- und Wohnbereich bildet (vgl zB B[X.]vom 19.2.2009 - [X.]AS 30/08 R - BSGE 102, 263 = [X.]4-4200 § 22 [X.]19 <München I>, Rd[X.]20 ff).

Nach der auch für schlüssige Konzepte im Rahmen des § 22 Abs 1 SGB II entsprechend anzuwendenden gesetzgeberischen Vorgabe in § 22b Abs 1 Satz 4 SGB II bildet das Zuständigkeitsgebiet eines Jobcenters zunächst einen Vergleichsraum, der indes aufgrund der örtlichen Gegebenheiten in mehrere [X.]zu unterteilen sein kann, für die jeweils eigene Angemessenheitswerte bestimmt werden können. Als solche örtlichen Gegebenheiten kommen weniger unterschiedliche Landschaften, sondern eher räumliche Orientierungen, wie [X.]für Berufstätige oder die Nähe zu Ballungsräumen, sowie aus der Datenerhebung ersichtliche, deutliche Unterschiede im [X.]in Betracht.

b) Das schlüssige Konzept soll die Gewähr dafür bieten, dass die aktuellen Verhältnisse des [X.]im [X.]dem [X.]zugrunde liegen und dieser realitätsgerecht ermittelt wird. [X.]ist ein Konzept, wenn es neben rechtlichen zudem bestimmte methodische Voraussetzungen erfüllt und nachvollziehbar ist. Dies erfordert trotz Methodenvielfalt insbesondere eine Definition der untersuchten Wohnungen nach Größe und Standard, Angaben über die Art und Weise der Datenerhebung, Angaben über den Zeitraum, auf den sich die Datenerhebung bezieht, Repräsentativität und Validität der Datenerhebung, Einhaltung anerkannter mathematisch-statistischer Grundsätze bei der Datenauswertung, Vermeidung von "Brennpunkten" durch [X.]Segregation sowie eine Begründung, in der die Ermittlung der Angemessenheitswerte aus den Daten dargelegt wird (grundlegend B[X.]vom [X.]- [X.]AS 18/09 R - BSGE 104, 192 = [X.]4-4200 § 22 [X.]30 <Wilhelmshaven>, Rd[X.]18 f; B[X.]vom 18.11.2014 - [X.]AS 9/14 R - BSGE 117, 250 = [X.]4-4200 § 22 [X.]81 <Dresden>, Leitsatz: zur Entwicklungsoffenheit dieser Grundsätze; zuletzt B[X.]vom 12.12.2017 - [X.]AS 33/16 R - BSGE 125, 29 = [X.]4-4200 § 22 [X.]93 <Fortschreibung schlüssiges Konzept>, Rd[X.]17 f; vgl zudem § 22a Abs 3, § 22b Abs 1, 2, § 22c Abs 1 SGB II).

c) Es kann verschiedene Methoden geben, um ein schlüssiges Konzept in diesem Sinne zu erstellen und den damit unmittelbar zusammenhängenden [X.]oder ggf mehrere [X.]zu bilden, weil weder aus § 22 SGB II noch aus §§ 22a bis 22c [X.]die Anwendung eines bestimmten Verfahrens rechtlich zwingend ableitbar ist (vgl B[X.]vom 18.11.2014 - [X.]AS 9/14 R - BSGE 117, 250 = [X.]4-4200 § 22 [X.]81 <Dresden>, Rd[X.]19 ff; siehe ferner BT-Drucks 17/3404 [X.]zu § 22b: "Vielfalt an Konzepten"; [X.]in Hohm, GK-SGB II, § 22 Rd[X.]142, Stand der Einzelkommentierung 9/2017; vgl zu den verschiedenen Verfahren: Forschungsbericht 478, Ermittlung der existenzsichernden Bedarfe für die Kosten der Unterkunft und Heizung in der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch <SGB II> und in der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch <SGB XII>, erstellt von v. [X.]ua, hrsg vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales, 2017, [X.]ff; zu den Interdependenzen zwischen [X.]und schlüssigem Konzept schon B[X.]vom 11.12.2012 - [X.]AS 44/12 R - Rd[X.]18).

9. Es ist gerichtlich voll überprüfbar - wie ausgeführt (siehe 5.) -, ob die Ermittlung der abstrakt angemessenen Nettokaltmiete, insbesondere die Festlegung des [X.]und die Erstellung eines schlüssigen Konzepts im Rahmen der Methodenvielfalt zutreffend erfolgt ist. Die volle gerichtliche Überprüfung des [X.]und des Verfahrens zu seiner Ermittlung schließt nicht aus, dass bei dieser Kontrolle der Verwaltung deren in der Methodenvielfalt zum Ausdruck kommenden Eigenverantwortung Rechnung getragen und die gerichtliche Kontrolle als eine nachvollziehende Kontrolle ausgestaltet wird ([X.]vom 31.5.2011 - 1 BvR 857/07 - [X.]129, 1, juris-Rd[X.]70; vgl zu den Grenzen gerichtlicher Kontrolle zudem: [X.]vom 23.10.2018 - 1 BvR 2523/13, 1 BvR 595/14; vgl ferner [X.]in Eicher/Luik, SGB II, 4. Aufl 2017, § 22 Rd[X.]91, 104: "Verfahrenskontrolle").

a) Zur Umsetzung der gerichtlichen Kontrolle ist es auf eine entsprechende Klage hin zunächst Aufgabe des Gerichts, die Rechtmäßigkeit des vom beklagten [X.]ermittelten abstrakten [X.]sowohl im Hinblick auf die Festlegung des [X.]als auch die Erstellung eines schlüssigen Konzepts zu überprüfen.

Ist die Ermittlung dieses abstrakten [X.]rechtlich zu beanstanden, ist dem [X.]Gelegenheit zu geben, diese Beanstandungen durch Stellungnahmen, ggf nach weiteren eigenen Ermittlungen, auszuräumen (vgl B[X.]vom 18.11.2014 - [X.]AS 9/14 R - BSGE 117, 250 = [X.]4-4200 § 22 [X.]81 <Dresden>, Rd[X.]19 ff zu einer erfolgreichen Nachbesserung; B[X.]vom 16.6.2015 - [X.]AS 44/14 R - [X.]4-4200 § 22 [X.]85 <Raumschaft Umland Freiburg> Rd[X.]18 f).

b) Gelingt es dem [X.]nicht, die Beanstandungen des Gerichts auszuräumen, ist das Gericht zur Herstellung der Spruchreife der Sache (vgl zu dieser Pflicht des Gerichts § 131 Abs 2, 3 [X.]sowie dessen Abs 5 mit der Zurückverweisung an die Verwaltung nur unter bestimmten Voraussetzungen; B[X.]vom 28.6.2001 - B 3 P 9/00 R - BSGE 88, 215 = [X.]3-3300 § 9 [X.]1, juris-Rd[X.]42) nicht befugt, seinerseits eine eigene Vergleichsraumfestlegung vorzunehmen (dazu 10.) oder ein schlüssiges Konzept - ggf mit Hilfe von Sachverständigen - zu erstellen. Beide Entscheidungen korrespondieren miteinander, denn die Bildung des [X.]kann nicht von der Erstellung des Konzepts getrennt werden, einschließlich der anzuwendenden Methode, und sind dem [X.]vorbehalten (vgl zu den Auswirkungen dieser Entscheidungen auf den örtlichen Wohnungsmarkt nur § 22a Abs 3 Satz 2 SGB II).

Vielmehr kann das Gericht zur Herstellung der Spruchreife, wenn ein qualifizierter Mietspiegel vorhanden ist, auf diesen zurückgreifen; andernfalls sind mangels eines in rechtlich zulässiger Weise bestimmten [X.]die tatsächlichen Aufwendungen für die Unterkunft dem Bedarf für die Unterkunft zugrunde zu legen, begrenzt durch die Werte nach dem [X.]plus Zuschlag von 10 % (B[X.]vom 20.8.2009 - [X.]AS 65/08 R - [X.]4-4200 § 22 [X.]26 <Zweibrücken> Rd[X.]20 f; B[X.]vom 16.6.2015 - [X.]AS 44/14 R - [X.]4-4200 § 22 [X.]85 <Raumschaft Umland Freiburg> Rd[X.]30). Dadurch soll den Gegebenheiten des örtlichen Wohnungsmarkts zumindest ansatzweise gemäß gesetzgeberischer Entscheidungen - wenn auch für einen anderen Personenkreis - durch eine "Angemessenheitsobergrenze" Rechnung getragen werden, die die Finanzierung extrem hoher und per se unangemessener Mieten verhindert (B[X.]vom 17.12.2009 - [X.]AS 50/09 R - [X.]4-4200 § 22 [X.]29 <Flensburg> Rd[X.]27; [X.]in LPK-SGB II, 6. Aufl 2017, § 22 Rd[X.]92 ff).

10. Nach diesen Maßstäben kann der Beklagte sich für den strittigen Juli 2011 nicht in zulässiger Weise auf ein Konzept berufen, das die aufgezeigten Voraussetzungen erfüllt und eine Anerkennung eines Bedarfs für die Unterkunft, der unterhalb der tatsächlichen Aufwendungen der Kläger liegt, zu rechtfertigen vermag.

a) Die ab dem [X.]geltende Handlungsanweisung des Beklagten, die zur [X.]im August 2010 bis zur endgültigen Bewilligung durch Bescheid vom 25.6.2011 angewandt wurde, wird den aufgezeigten Voraussetzungen nach den für den Senat mangels entsprechender [X.]der Beteiligten nach § 163 SGG bindenden Feststellungen des [X.]nicht gerecht, weil ihr keine repräsentative und valide Datenerhebung zugrunde lag.

b) Das in 2012 entwickelte und anschließend angewandte Konzept des [X.]kann nicht für die [X.]vorher angewandt werden. Die Rückschreibung eines Konzepts zur Bestimmung der angemessenen Aufwendungen für die Unterkunft in die [X.]vor der Aufstellung des Konzepts ist unzulässig. Eine rechnerisch mögliche Rückschreibung ist mit den Anforderungen an ein Kostensenkungsverfahren nach § 22 Abs 1 Satz 3 SGB II nicht vereinbar.

Nach der gefestigten Rechtsprechung des B[X.]erfordert eine wirksame Kostensenkungsaufforderung die Bezeichnung der angemessenen Aufwendungen für die Unterkunft durch das [X.]und stellt ein "Angebot" dar, in einen Dialog über die angemessenen Aufwendungen einzutreten (B[X.]vom 27.2.2008 - B 14/7b AS 70/06 R - [X.]4-4200 § 22 [X.]8 Rd[X.]15 f mwN; B[X.]vom [X.]AS 36/15 R - [X.]4-4200 § 22 [X.]90 Rd[X.]15 f mwN). Dass ein erst im [X.]entwickeltes Konzept weder zur Bezeichnung angemessener Aufwendungen im vorher liegenden [X.]führen noch Grundlage für einen Dialog in diesem Jahr sein kann, ergibt sich aus der zeitlichen Abfolge.

Eine Bezugnahme auf das Konzept aus 2012 im Sinne eines Nachschiebens von Gründen für das Kostensenkungsverfahren und die Anerkennung nur abgesenkter Aufwendungen bei der Leistungsbewilligung scheidet aus, weil ein solches Nachschieben von Gründen dem aufgezeigten Sinn einer Kostensenkungsaufforderung, in einen Dialog über die angemessenen Aufwendungen der Unterkunft einzutreten, entgegensteht. Über ein Konzept und dessen Angemessenheitswerte, die (noch) nicht bekannt sind, kann nicht gesprochen werden. Im Übrigen scheidet das Nachschieben von Gründen aus, wenn dadurch die Rechtsverteidigung des Betroffenen in unzulässiger Weise beeinträchtigt oder erschwert wird (vgl nur [X.]in Hauck/Noftz, SGB X, [X.]§ 41 Rd[X.]19, Stand der Einzelkommentierung 8/2017; Schütze in von Wulffen/Schütze, SGB X, 8. Aufl 2014, § 41 Rd[X.]12, jeweils mwN). Eine solche Fallgestaltung ist gegeben, wenn Rechtsfolgen an ein Kostensenkungsverfahren geknüpft werden sollen, dessen Grundvoraussetzung "Bezeichnung der angemessenen Aufwendungen" in der maßgeblichen [X.]nicht erfüllt war, weil die entsprechenden Erkenntnisse, auf die der Beklagte sich nun für die damalige [X.]stützen will, erst später ermittelt wurden.

Entgegen der Auffassung des [X.]kann aus der Rechtsprechung des B[X.]zur Zulässigkeit der Fortschreibung eines schlüssigen Konzepts in die Zukunft (B[X.]vom 12.12.2017 - [X.]AS 33/16 R - BSGE 125, 29 = [X.]4-4200 § 22 [X.]93 <Fortschreibung schlüssiges Konzept>) nicht auf die Zulässigkeit einer Rückschreibung in eine Vergangenheit ohne schlüssiges Konzept geschlossen werden. Eine solche Rückschreibung ist nicht schlicht das zulässige Gegenstück zur Fortschreibung, sondern etwas anderes.

Ob die Vergleichsraumbildung und das Konzept des [X.]für 2012 die oben aufgezeigten Voraussetzungen erfüllen oder eine Nachbesserung möglich ist, kann dahingestellt bleiben.

c) Die tatsächlichen Aufwendungen der Kläger für die Unterkunft liegen nicht oberhalb der "Angemessenheitsobergrenze" nach dem [X.]plus Zuschlag von 10 %, was zwischen den Beteiligten auch nicht umstritten ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.

Meta

B 14 AS 11/18 R

30.01.2019

Bundessozialgericht 14. Senat

Urteil

Sachgebiet: AS

vorgehend SG Magdeburg, 25. Oktober 2013, Az: S 15 AS 2495/11, Urteil

§ 22 Abs 1 S 1 SGB 2, § 22 Abs 1 S 3 SGB 2, § 22b Abs 1 S 4 SGB 2

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Urteil vom 30.01.2019, Az. B 14 AS 11/18 R (REWIS RS 2019, 10888)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2019, 10888

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1 BvR 857/07

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