BT-Drucksache 17/9948

Eigengebrauch von Cannabis wirksam entkriminalisieren - Nationale und internationale Drogenpolitik evaluieren

Vom 13. Juni 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/9948
17. Wahlperiode 13. 06. 2012

Antrag
der Abgeordneten Dr. Harald Terpe, Tom Koenigs, Hans-Christian Ströbele,
Jerzy Montag, Birgitt Bender, Maria Klein-Schmeink, Elisabeth Scharfenberg,
Volker Beck (Köln), Viola von Cramon-Taubadel, Uwe Kekeritz,
Sven-Christian Kindler, Markus Kurth, Dr. Tobias Lindner, Dr. Konstantin von Notz,
Lisa Paus, Claudia Roth (Augsburg), Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Eigengebrauch von Cannabis wirksam entkriminalisieren – Nationale
und internationale Drogenpolitik evaluieren

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat bereits 1994 die Möglichkeit einer
eingeschränkten Strafbarkeit des Erwerbs und Besitzes kleiner Mengen von Can-
nabisprodukten zum gelegentlichen Eigenverbrauch eingeräumt (BVerfGE 90,
S. 145). In diesen Fällen solle wegen des verfassungsrechtlichen Übermaßver-
botes von der Verfolgung entsprechender Straftaten abgesehen werden. Es wäre
aber bedenklich, so das Bundesverfassungsgericht, wenn es auf der Grundlage
des § 31a des Betäubungsmittelgesetzes (BtMG) bei einer stark unterschied-
lichen Einstellungspraxis in den verschiedenen Bundesländern bliebe – insbe-
sondere bei der Bemessung der geringen Menge sowie bei der Behandlung von
Wiederholungstätern. Das Max-Planck-Institut für ausländisches und interna-
tionales Strafrecht, Freiburg, hat allerdings noch 2006 in einer Studie im Auftrag
der Bundesregierung erhebliche Unterschiede der Verfolgungspraxis in den
Bundesländern festgestellt. Sowohl bei Cannabisdelikten als auch bei Delikten
mit sonstigen Betäubungsmitteln seien große Differenzen festzustellen. Insge-
samt führe die unterschiedliche Einstellungspraxis dazu, dass die gegenwärtige
Rechtswirklichkeit vor dem Hintergrund der Forderung des Bundesverfassungs-
gerichts nach einer im Wesentlichen gleichmäßigen Rechtsanwendungspraxis
problematisch erscheint.

Bundesregierung und Gesetzgeber haben sowohl aus dem Urteil als auch den
Untersuchungen des Max-Planck-Institutes keine hinreichenden Schlüsse gezo-
gen. Die geltende Rechtslage führt in der Konsequenz bei Cannabis zu einer un-
verhältnismäßigen Kriminalisierung der Eigenverbraucherin bzw. des Eigenver-
brauchers. So verzeichnete die polizeiliche Kriminalstatistik seit 2001 jährlich

ca. 100 000 konsumnahe Delikte im Zusammenhang mit Cannabis.

Die derzeitige Rechtslage beruht auf inzwischen vielfach widerlegten Annah-
men: Widerlegt ist, dass Cannabis eine aus der pharmakologischen Wirkung
resultierende Schrittmacherfunktion für den Gebrauch härterer illegaler Drogen
haben soll. Entkräftet ist auch die Behauptung, dass eine erhebliche Gesundheits-

Drucksache 17/9948 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

gefährdung durch den gelegentlichen oder regelmäßigen Konsum von Cannabis
besteht.

Die überwiegende Mehrzahl der Konsumentinnen und Konsumenten praktiziert
keinen riskanten Gebrauch. Gleichwohl behindern die einschlägigen Vorschrif-
ten des Betäubungsmittelgesetzes eine glaubwürdige Prävention, wirksamen
Verbraucher-/Jugendschutz und effektive Schadensminderung. Letzteres ist vor
allem deswegen bedenklich, weil durch die bestehenden rechtlichen Bedingun-
gen ein Schwarzmarkt entstanden ist, auf dem auch Produkte vertrieben werden,
die einen erhöhten Wirkstoffgehalt haben oder mit Glas, Blei oder anderen Stof-
fen verunreinigt sind. Damit wird die gesundheitliche Gefährdung von Konsu-
mentinnen und Konsumenten bewusst in Kauf genommen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert deshalb die Bundesregierung auf,

1. einen Gesetzentwurf zur Änderung des Betäubungsmittelgesetzes vorzu-
legen, durch den die Strafbarkeit entfällt, wenn die Person Cannabis aus-
schließlich zum Eigenverbrauch anbaut, herstellt, einführt, erwirbt, besitzt
oder zur Ermöglichung des gleichzeitigen und gemeinsamen Konsums un-
entgeltlich abgibt;

2. eine Kommission mit Vertreterinnen und Vertretern aus Wissenschaft, Dro-
genhilfe und der Gesundheitspolitik sowie kommunalen Spitzenverbänden
und Ländern einzuberufen, die das geltende Betäubungsmittelrecht in
Deutschland auch unter Berücksichtigung internationaler Erfahrungen trans-
parent im Hinblick auf unerwünschte Wirkungen, Neben- und Gegenwirkun-
gen und rechtliche, soziale und gesundheitliche Folgen evaluiert und Emp-
fehlungen zu dessen Reform formuliert.

Berlin, den 12. Juni 2012

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

Begründung

Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichtes ist beim gelegentlichen Er-
werb und Besitz geringer Mengen weicher Drogen zum Eigenkonsum ohne
Fremdgefährdung eine staatliche Sanktion regelmäßig entbehrlich (BVerfGE
90, S. 145; vgl. Körner, Betäubungsmittelgesetz, 6. Auflage, § 31a, Rn. 25).

Ausweislich einer im Auftrag der Bundesregierung 2006 veröffentlichten Studie
des Max-Planck-Institutes für ausländisches und internationales Strafrecht wer-
den die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes zu diesem verfassungsrecht-
lichen Übermaßverbot in Deutschland jedoch nur unzureichend umgesetzt. Dies
betrifft vor allem Wiederholungstäter und -täterinnen. Von einer einheitlichen
Rechtsanwendung wie vom Bundesverfassungsgericht gefordert, könne ledig-
lich bei knapp 20 Prozent aller Cannabisverfahren ausgegangen werden. In be-
stimmten Bundesländern würden Verfahren erheblich seltener eingestellt, auch
dann wenn es sich um Delikte im Zusammenhang mit dem gelegentlichen
Eigenverbrauch handelt (Carsten Schäfer, Letizia Paoli: Drogen und Strafverfol-
gung. Die Anwendung des § 31a BtMG und anderer Opportunitätsvorschriften
auf Drogenkonsumdelikte. Berlin 2006). So wurden in Bayern nur 28 Prozent
aller Konsumentenverfahren eingestellt, in Schleswig-Holstein jedoch 84,7 Pro-
zent (vgl. Körner, Rn. 39).

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/9948

Cannabis ist im Gegensatz zu anderen illegalen Substanzen eine Alltagsdroge.
Im Jahre 2009 gaben 4,8 Prozent der Bevölkerung Deutschlands im Alter von 18
bis 64 Jahren an, in den letzten zwölf Monaten Cannabis konsumiert zu haben.
In diesem Antrag werden nun bundeseinheitliche Regelungen vorgeschlagen,
durch welche – wie vom Bundesverfassungsgericht gefordert – diese Bevölke-
rungsgruppe wirksamer als bislang von Strafe befreit wird. Damit und durch
geeignete Regelungen zum Anbau können die vom Bundesverfassungsgericht
befürchteten eher nachteiligen gesundheitlichen und spezialpräventiven Ergeb-
nisse der „Verhängung von Kriminalstrafe gegen Probierer und Gelegenheits-
konsumenten kleiner Mengen von Cannabiskonsumenten“ vermieden werden
(BVerfGE 90, S. 145,188).

Auf die erheblichen negativen Auswirkungen prohibitiv ausgerichteter nationa-
ler und internationaler Regelungen haben zuletzt verschiedene Initiativen wie
zum Beispiel die „Wiener Erklärung“ und die „Global Commission on Drug
Policy“ hingewiesen. Letzterer gehören unter anderem der ehemalige UN-Gene-
ralsekretär Kofi Annan, der ehemalige Hohe Repräsentant der EU für Außen-
und Sicherheitspolitik Javier Solana sowie weitere ehemalige Präsidenten,
Regierungschefs und Außenminister Brasiliens, Griechenlands, Kolumbiens,
Mexikos, Norwegens, der Schweiz sowie der USA an.

Die in diesem Antrag enthaltenen Vorschläge sind Mindestanforderungen an
eine an zeitgemäßer, evidenzbasierter und wirksamer Prävention, Schadensmin-
derung und der Selbstbestimmung der Konsumentinnen und Konsumenten orien-
tierten Drogenpolitik. In eine ähnliche Richtung gingen auch Vorschläge der
Fraktion der SPD (Bundestagsdrucksachen 12/2739 und 13/6534). Die Vor-
schläge dieses Antrags können daher eine Grundlage bieten, um im politischen
Raum eine Übereinkunft zu erzielen. Davon unbenommen halten die Antragsteller
an ihren auf Bundestagsdrucksache 16/11762 enthaltenen Vorschlägen insbeson-
dere zur wissenschaftlich begleiteten Erprobung eines reguliertes Abgabe-
modells für Cannabisprodukte sowie zur Änderung internationaler Übereinkom-
men fest. Diese steht auch im Einklang mit den Empfehlungen der „Global
Commission on Drug Policy“.

Zu Nummer 1

Mit der angestrebten Änderung des Betäubungsmittelgesetzes soll eine neue Re-
gelung in § 29 BtMG eingeführt werden, die dem Bestimmtheitsgebot aus Arti-
kel 103 Absatz 2 des Grundgesetzes (GG) entsprechend den Wegfall der Straf-
barkeit vorsieht, wenn die Konsumentin oder der Konsument Cannabis bis zu
einer bestimmten Grenzmenge lediglich zum Eigenverbrauch anbaut, herstellt,
einführt, ausführt, durchführt, erwirbt oder sich in sonstiger Weise verschafft
oder besitzt. Zusätzlich wird von der Regelung auch die unentgeltliche Abgabe
im Rahmen des gleichzeitigen und gemeinschaftlichen Konsums erfasst. Bei der
Definition der Grenzmenge, unterhalb derer die Strafbarkeit entfällt, könnte im
Hinblick auf Cannabis beispielsweise die Rechtsprechung des Bundesgerichts-
hofes herangezogen werden. Dieser ist 1996 bis zu einer Gewichtsmenge von
10 Gramm von einer geringen Menge ausgegangen (3 StR 245/75).

Da der mögliche Ertrag einer Cannabispflanze jedoch deutlich oberhalb dieser
Grenze von 10 Gramm liegt, liefe die Vorschrift zur Entkriminalisierung auch
des Anbaus ins Leere. Daher sind gesonderte Regelungen für den zum Eigenver-
brauch straffreien Anbau einer bestimmten Anzahl von Pflanzen im privaten Be-
reich sowie für den entsprechenden Erwerb von Samen nötig.

Damit würde in der Konsequenz auch erreicht, dass die Konsumentinnen und
Konsumenten für den Erwerb von Cannabisprodukten nicht auf den Schwarz-
markt angewiesen wären. Dies ist aus Gründen der Schadensminderung gebo-

ten, um sie vor den erheblichen gesundheitlichen Risiken des Schwarzmarktes

Drucksache 17/9948 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

mit verunreinigten und hinsichtlich ihres Wirkstoffgehaltes intransparenten Pro-
dukten zu schützen.

Ein Anstieg des Cannabisgebrauchs ist durch diese Regelung nicht zu erwarten.
Es gibt keine Anhaltspunkte, die darauf hindeuten, dass eine liberale Drogen-
politik den Cannabisgebrauch begünstigt und eine repressivere Regelung diesen
verringert. Darauf hat u. a. Karl-Heinz Reuband in einer Untersuchung der Aus-
wirkungen der in den Bundesländern unterschiedlichen Sanktionspraxis bei
Cannabisdelikten hingewiesen. Ob eine liberale Drogenpolitik oder eine repres-
sive Drogenpolitik praktiziert werde, wirke sich auf der Nachfrageseite nicht aus
(Karl-Heinz Reuband: Prävention durch Abschreckung? Drogenpolitik und
Cannabisgebrauch im innerdeutschen Vergleich. In: Karl Mann, Ursula Have-
mann-Reinecke, Raphael Gaßmann (Hrsg.): Jugendliche und Suchtmittelkon-
sum. Freiburg 2009). Auch Erfahrungen in Portugal deuten nicht darauf hin,
dass die dort im Jahre 2000 vollzogene Änderung des Betäubungsmittelrechts zu
einem Anstieg insbesondere des Cannabiskonsums geführt hätte (vgl. House of
Lords, European Union Committee: The EU Drugs Strategy. 26th Report of Ses-
sion 2010–2012. Rn. 157 f.).

Die gesundheitlichen Risiken des Cannabisgebrauchs sind abhängig davon, auf
welche Weise und in welcher Frequenz Cannabis genutzt wird. Grundsätzlich ist
bei inhalativer Einnahmeform das Risiko von Atemwegserkrankungen bei Can-
nabisrauchern – ähnlich wie Zigarettenrauchern – deutlich erhöht. Neuere Über-
blicksstudien (Rainer Thomasius 2007) zeigen, dass starker und dauerhafter
Konsum bei bestimmten Menschen den Ausbruch von Psychosen begünstigen
kann. Einer 2007 veröffentlichten wissenschaftlichen Untersuchung zufolge, hat
Cannabis im Vergleich zu legalen psychoaktiven Substanzen wie Tabak oder Al-
kohol allerdings ein deutlich geringeres gesundheitliches Risikopotential (David
N. Nutt, Leslie A. King et al. Development of a rational scale to assess the harm
of drugs of potential misuse. Lancet Vol. 369 S. 1047 ff.).

Eine von der Bundesregierung in Auftrag gegebene Studie zeigt, dass etwa zwei
Drittel des finanziellen Engagements des Staates in Bezug auf Drogen in repres-
sive Maßnahmen fließen. 10 Prozent der gesamten öffentlichen Ausgaben für
die öffentliche Sicherheit und Ordnung haben einen Bezug zu illegalen Drogen.
Nur ein geringer Teil der Mittel fließt hingegen in Prävention, Therapie- und
Hilfsangebote (Tim Pfeiffer-Gerschel, Prof. Dr. Jürgen Wasem et.al. Schätzung
der Ausgaben der öffentlichen Hand durch den Konsum illegaler Drogen in
Deutschland. Das Gesundheitswesen 2010; 72: 886 – 894). Vor diesem Hinter-
grund könnte der in diesem Antrag enthaltene Vorschlag zur wirksamen Ent-
kriminalisierung eine Entlastung der Strafverfolgungsbehörden bewirken. So
eingesparte Mittel könnten der Prävention sowie Therapie- und Hilfsangeboten
zufließen.

Zu Nummer 2

Das Bundesverfassungsgericht hat 1994 auf die Pflicht des Gesetzgebers hinge-
wiesen, die Auswirkungen des geltenden Rechts unter Einschluss der Erfahrun-
gen des Auslandes zu beobachten und zu überprüfen. Auch dies ist bislang nur
unzureichend geschehen. Neuere Entwicklungen wie die in der Schweiz ange-
strebte Bußgeldbewährung des Besitzes von zehn Gramm Cannabis sowie die
Entkriminalisierung in Portugal oder Tschechien wurden bislang nicht einbezo-
gen. Auch vergleichende Untersuchungen unterschiedlicher Regelungen und
deren Auswirkungen auf den Konsum insbesondere in Deutschland oder den
Niederlanden sind bislang nicht in die Bewertung der aktuellen Gesetzgebung
eingeflossen.

Die Bundesregierung hat bei der Entwicklung ihrer im Februar 2012 vorgestell-

ten Nationalen Strategie zur Drogen- und Suchtpolitik anscheinend vollständig
darauf verzichtet, deutsche und internationale Untersuchungen und Aktivitäten

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/9948

wie beispielsweise den Report der „Global Commission on Drug Policy“ zu eva-
luieren bzw. in die Weiterentwicklung der deutschen Drogen- und Suchtpolitik
einzubeziehen.

Mit der vorgeschlagenen, durch die Bundesregierung einzusetzenden Kommis-
sion soll, wie unter anderem von der „Global Commission on Drog Policy“ emp-
fohlen, eine transparente und evidenzbasierte Überprüfung des geltenden Betäu-
bungsmittelrechts vorgenommen werden. Dabei soll das geltende Recht
insbesondere hinsichtlich gesundheitlicher und sozialer Auswirkungen sowie im
Hinblick auf die Wirksamkeit und Effizienz von Hilfsangeboten evaluiert wer-
den. Zusätzlich sind auch internationale Auswirkungen insbesondere auf An-
bau- und Transitländer zu überprüfen.

Auf dieser Grundlage soll die Kommission Empfehlungen an den Gesetzgeber
zur Reform des nationalen Betäubungsmittelrechts insgesamt formulieren und
zugleich Vorschläge zur Novellierung internationaler Übereinkommen unter-
breiten.

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.