BT-Drucksache 17/8162

Für die Einführung eines transparenten und unabhängigen Staateninsolvenzverfahrens

Vom 14. Dezember 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/8162
17. Wahlperiode 14. 12. 2011

Antrag
der Abgeordneten Thilo Hoppe, Dr. Gerhard Schick, Lisa Paus, Ute Koczy,
Uwe Kekeritz, Manuel Sarrazin, Priska Hinz (Herborn), Dr. Thomas Gambke,
Tom Koenigs, Ingrid Hönlinger, Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck (Köln),
Agnes Brugger, Viola von Cramon-Taubadel, Katja Dörner, Katja Keul,
Dr. Tobias Lindner, Kerstin Müller (Köln), Ingrid Nestle, Omid Nouripour,
Claudia Roth (Augsburg), Dr. Frithjof Schmidt, Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn,
Hans-Christian Ströbele und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Für die Einführung eines transparenten und unabhängigen
Staateninsolvenzverfahrens

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Viele Entwicklungs- und Schwellenländer kämpfen seit mehr als zwei Jahr-
zehnten mit dem Problem einer nicht mehr tragfähigen Überschuldung. Die
enorme Schuldenlast ist ein fast unüberwindbares Hindernis für die wirtschaft-
liche und soziale Entwicklung dieser Länder. Hochverschuldeten armen Staaten
fehlen die finanziellen Mittel zur Bereitstellung staatlicher Grundversorgung
mit sozialen Diensten und damit zur Verwirklichung der Millenniumsent-
wicklungsziele. Leidtragende sind die Ärmsten der Armen in einer Gesell-
schaft. Zudem ist mit wachsender Verschuldung sowohl in den Staaten selbst
wie auch zwischen Staaten eine erhebliche Umverteilung mit dem Effekt einer
stärkeren Polarisierung von Einkommen und Vermögen festzustellen.

Existierende Ad-hoc-Schuldenerlasse und einmalige multilaterale Entschul-
dungsverfahren wie die Heavily Indebted Poor Countries Initiative (HIPC) und
die Multilateral Debt Relief Initiative (MDRI) haben in der Vergangenheit das
Schuldenproblem nicht nachhaltig lösen können. So werden aktuell neun von
30 Ländern, die durch die gesamten HIPC-/MDRI-Entschuldungsprogramme
gegangen sind, vom Internationalen Währungsfonds (IWF) bereits wieder als
High-Risk-Countries, also als Länder mit hohem Risiko neuer Überschuldung,
eingestuft. Viele hochverschuldete Länder haben noch nie einen Schuldenerlass
erfahren.

Die weltweite Wirtschaftskrise hat die globale Verschuldungssituation weiter
verschärft, was die Reform der internationalen Prozesse zur Bewältigung staat-
licher Schuldenprobleme immer dringlicher werden lässt.
Die aktuelle europäische Schuldenkrise hat zudem deutlich gemacht, dass die
Gefahr einer Staatsüberschuldung bis hin zur faktischen Insolvenz nicht nur in
hochverschuldeten Entwicklungsländern besteht. Vielmehr können ein schwa-
ches Schuldenmanagement, eine leichtfertige Kreditvergabe, unglückliche
äußere oder innere Umstände in unterschiedlichen Zusammensetzungen sowie
falsche politische Entscheidungen selbst EU-Mitgliedsländer in die Gefahr der

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Staatspleite führen – mit großen Gefahren für die weltweite Finanzstabilität in-
folge vielfältiger Ansteckungskanäle.

Bei der geordneten Bewältigung staatlicher Solvenzkrisen – sei es inner- oder
außerhalb der Eurozone – ist künftig die Beteiligung der privaten Gläubiger
sicherzustellen, um eine einseitige Kostenverlagerung auf den öffentlichen
Sektor zu verhindern.

Dabei wird sich in einigen Fällen bereits mittels marktbasierter Schuldenrück-
kaufprogramme eine Reduktion der Schuldenlast auf ein tragfähiges Niveau er-
zielen lassen (nämlich dann, wenn der Marktwert stark unter dem Buchwert der
Schulden liegt und ein intelligenter Ansatz beim Schuldenrückkauf gewählt
wird). Künftig sollte die Staatengemeinschaft aber auch über vorab definierte
Verfahrenslösungen verfügen, die einen Rahmen für direkte und faire Verhand-
lungen zwischen Schuldnerstaat und Gläubigern bieten und dem Ziel dienen,
eine tragbare Verschuldung wiederherzustellen – beispielsweise dann, wenn
marktbasierte Schuldenrückkaufprogramme allein die Schuldentragfähigkeit
nicht wiederherstellen können.

Ziel sollte deshalb die Schaffung eines geordneten internationalen Staateninsol-
venzverfahrens sein. Staatenbünde mit gemeinsamer Währung wie die Euro-
zone können dabei aufgrund der spezifischen Problematik in Währungsunionen
eigene Regelungen und Verfahren vereinbaren. So sollte in der Eurozone der
Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) im Zentrum eines geeigneten eige-
nen Verfahrens zur Beteiligung privater Gläubiger im Falle staatlicher Insol-
venz stehen. Wichtig ist, dass künftig in möglichst allen Staaten mit Hilfe eines
solchen Verfahrens die Verhandlungen zwischen Schuldnern und allen Gläubi-
gern transparent und vorhersehbar gestaltet werden, während die für eine nach-
haltige sozioökonomische Entwicklung des Schuldnerlandes zumeist unum-
gängliche Schuldenumstrukturierung und -reduzierung erfolgt.

Ein unabhängiges und transparentes Staateninsolvenzverfahren müsste vier
Kernelemente enthalten:

1. Ein staatliches Insolvenzverfahren beginnt auf Antrag des Schuldnerlandes;

2. eine neutrale von Gläubiger- wie Schuldnereinflüssen unabhängige Instanz,
die über Schuldentragfähigkeit und Legitimität der Schulden entscheidet;

3. das Recht aller betroffenen Parteien, vor einer Entscheidung angehört zu
werden und die Sicherung von Mitspracherechten der Bevölkerung, bspw.
auf dem Wege des Einbezugs des Parlaments des Schuldnerlandes;

4. die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums der Bevöl-
kerung eines Schuldnerstaates als Teil der Staatenpflichten zur Umsetzung
des UN-Sozialpaktes und des UN-Zivilpaktes.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. sich umgehend und nachhaltig für die Umsetzung des in ihrem Koalitions-
vertrag zwischen CDU, CSU und FDP festgeschriebenen Staateninsolvenz-
verfahrens einzusetzen;

2. sich dafür einzusetzen, dass im Rahmen des ESM ein verbindlicher, unpar-
teiischer und umfassender Insolvenzmechanismus für die Eurozone etabliert
wird;

3. dafür im Rahmen der G20 geeignete Initiativen auf Finanz- und Entwick-
lungsministerebene anzustoßen;

4. die Zusammenarbeit mit anderen Regierungen auch außerhalb der G20 zu

suchen, die am gleichen Thema arbeiten;

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/8162

5. die von UN-Organisationen, führenden Wirtschaftswissenschaftlern und der
Zivilgesellschaft entwickelten Initiativen für ein Staateninsolvenzverfahren
aktiv zu unterstützen;

6. die Ausarbeitung und Einhaltung von Kriterien für eine verantwortliche
Kreditaufnahme und Kreditvergabe, wie sie derzeit von der United Nations
Conference on Trade and Development (UNCTAD) vorangetrieben wird,
aktiv zu unterstützen.

Berlin, den 13. Dezember 2011

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

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