BT-Drucksache 17/7951

Neuntes Buch Sozialgesetzbuch im Sinne des Selbstbestimmungsrechts der Menschen mit Behinderung weiterentwickeln

Vom 30. November 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/7951
17. Wahlperiode 30. 11. 2011

Antrag
der Abgeordneten Markus Kurth, Fritz Kuhn, Katrin Göring-Eckardt,
Beate Müller-Gemmeke, Brigitte Pothmer, Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn,
Volker Beck (Köln), Birgitt Bender, Priska Hinz (Herborn), Ingrid Hönlinger,
Sven-Christian Kindler, Maria Klein-Schmeink, Monika Lazar, Dr. Konstantin
von Notz, Tabea Rößner, Elisabeth Scharfenberg, Josef Philip Winkler
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Neuntes Buch Sozialgesetzbuch im Sinne des Selbstbestimmungsrechts der
Menschen mit Behinderung weiterentwickeln

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Um der Zersplitterung im Leistungsrecht für Menschen mit Behinderung zu be-
gegnen und das Handeln der Rehabilitationsträger stärker aufeinander abzustim-
men, wurde vor zehn Jahren das Neunte Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) ge-
schaffen. Leistungen zur Teilhabe sollten personenzentriert und aus einer Hand
gewährt werden. Das Gesetz etabliert einen einheitlichen Rahmen für das Recht
der Leistungen zur Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen. Mit dem
Ziel, das Selbstbestimmungsrecht von Menschen mit Behinderung zu stärken,
wurde unter anderem ein weitgehendes Wunsch- und Wahlrecht sowie das neue
Instrument des Persönlichen Budgets verankert. Die Vorgabe von Fristen, inner-
halb derer Entscheidungen über Anträge getroffen werden müssen, und die
Pflicht zur Koordinierung und Kooperation bei der Gewährung von Leistungen
stehen sowohl für mehr Bürgernähe als auch für effizientes Verwaltungshandeln.
Gemeinsame Servicestellen der Rehabilitationsträger sollten diesen Prozess
unterstützen und den Betroffenen qualifizierte Beratung bieten. Mit dem SGB IX
wurden die Rehabilitationsträger erstmals zur besonderen Berücksichtigung der
Belange behinderter Frauen und Kinder verpflichtet.

Nach zehn Jahren kann festgestellt werden, dass das SGB IX für viele Men-
schen mit Behinderung erkennbare Fortschritte und Vereinfachungen gebracht
hat. Positiv lässt sich vermerken, dass Leistungen in vielen Fällen deutlich
schneller gewährt werden und die Wünsche der Betroffenen bei der Leistungs-
gewährung eine erheblich bedeutendere Rolle spielen als vor Inkrafttreten des
Gesetzes. Gleichzeitig ist deutlich geworden, dass sich viele Hoffnungen nicht
erfüllt haben. Der Wille des Gesetzgebers wird teilweise offensichtlich igno-
riert. Zu viele Menschen mit Behinderung machen die Erfahrung, dass Reha-

bilitationsträger die Vorschriften des SGB IX nicht oder nur unvollständig an-
wenden. Die Zahl der hiervon Betroffenen ist so groß, dass nicht von Einzelfäl-
len gesprochen werden kann. Gesetzgeberischer Nachbesserungsbedarf ist vor-
dringlich in folgenden Bereichen erkennbar: Die Regelungsgegenstände des
SGB IX werden von vielen Rehabilitationsträgern noch immer als nachrangig
behandelt. Das Persönliche Budget wird nur in kleiner Zahl als trägerübergrei-
fende Leistung gewährt, als Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben jenseits der

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Institution Werkstatt für behinderte Menschen ist sie lediglich in Rheinland-
Pfalz und Niedersachsen flächendeckend verfügbar. Die Beratungsstrukturen
sind weder im erforderlichen Maße noch in zufriedenstellender Qualität ausge-
baut. Das Ziel, die Situation von Frauen und Mädchen mit Behinderung zu ver-
bessern, wurde nicht im erhofften Umfang erreicht. Die Bedarfe von Menschen
mit Behinderung und geringen Deutschkenntnissen werden nicht ausreichend
berücksichtigt. Auch die spezifischen Bedarfe von Familien, in denen Men-
schen mit Behinderungen leben, müssen stärker im Gesetz aufgegriffen werden.

Mit der UN-Behindertenrechtskonvention wird eine konsequent an den Men-
schenrechten ausgerichtete Politik für Menschen mit Behinderung gestärkt.
Deutschland hat sich mit ihrer Ratifikation zur Sicherstellung der in der Konven-
tion ausdifferenzierten Rechte behinderter Menschen verpflichtet. Das Selbst-
bestimmungsrecht nimmt dabei einen zentralen Stellenwert ein. Seine Stärkung
im SGB IX ist insbesondere vor dem Hintergrund der UN-Konvention geboten.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

ein Gesetz zur Weiterentwicklung des SGB IX vorzulegen, das folgende Anfor-
derungen erfüllt:

1. Im Sinne der Rechtsgrundsätze des SGB IX und der UN-Behindertenrechts-
konvention ist klarzustellen, dass die Vorschriften des SGB IX für die zu-
ständigen Rehabilitationsträger gelten, soweit nicht in den für sie geltenden
Leistungsgesetzen darüber hinausgehende Leistungen vorgesehen sind. Die
Zuständigkeit und die Voraussetzungen für die Leistungen zur Teilhabe rich-
ten sich nach den für den jeweiligen Rehabilitationsträger geltenden Leis-
tungsgesetzen. Das Wunsch- und Wahlrecht nach § 9 SGB IX sieht vor, dass
den berechtigten Wünschen von Leistungsberechtigten entsprochen wird.
Damit sind die berechtigten Gestaltungswünsche für erforderliche Bedarfe
von den Rehabilitationsträgern unabhängig von den Kosten zu berücksichti-
gen. Es ist klarzustellen, dass die Regelungen der anderen Sozialgesetz-
bücher sowie untergesetzliche Vorschriften den Zielsetzungen des SGB IX
– insbesondere dem Ziel der Teilhabe und dem Wunsch- und Wahlrecht –
folgen müssen und diese weder ganz noch teilweise aufheben.

2. Im SGB IX geregelte Ausnahmen für die Träger der Sozial- und Jugendhilfe
werden aufgehoben.

3. Es werden Regelungen zur wirkungsvollen Umsetzung des Prinzips „Reha-
bilitation vor Pflege“ getroffen.

4. Der Beratungsanspruch der Betroffenen gegenüber den Leistungsträgern
muss gestärkt werden. Vorhandene Beratungsstrukturen müssen analog zum
Verbund der Unabhängigen Patientenberatung Deutschland (UPD) nach
§ 65b SGB V zu einer neutralen, trägerunabhängigen Beratungsinstanz wei-
terentwickelt werden.

5. Die Kompetenzen der gemeinsamen Servicestellen müssen erweitert wer-
den. Sie werden dazu befugt, im Auftrag der beteiligten Rehabilitationsträ-
ger eigenständig Bedarfe festzustellen, Bescheide zu erstellen und Wider-
sprüche zu bearbeiten. Sie erstellen gemeinsam mit den Betroffenen indivi-
duelle Teilhabepläne, in denen sowohl für die Rehabilitationsträger als auch
für die Leistungserbringer und -empfänger verbindliche Regelungen festge-
halten werden.

6. Zur Bedarfserhebung muss ein für alle Träger verbindliches Verfahren ent-
wickelt werden, dass sich an der von der Weltgesundheitsorganisation heraus-
gegebenen Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinde-
rung und Gesundheit (ICF) orientiert. Dieses muss sicherstellen, dass Men-
schen mit gleichen Bedarfen die gleichen Leistungen erhalten. Soweit im

Einzelfall erforderlich müssen Bedarfsermittlung und Hilfeplanung leis-
tungsträgerübergreifend erfolgen.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/7951

7. Es werden Vorgaben für regelmäßig von den Rehabilitationsträgern durch-
zuführende Schulungsprogramme für ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbei-
tern gemacht.

8. Die gesetzlichen Hindernisse zur Inanspruchnahme des trägerübergreifen-
den Persönlichen Budgets sind zu beseitigen. Dies betrifft zum einen die
Begrenzung der Budgethöhe auf den Gegenwert der vorher in Anspruch
genommenen Sachleistung. Darüber hinaus muss die Budgetassistenz als
zusätzliche Leistung gewährleistet und finanziert werden, um den Grund-
satz des § 17 SGB IX zum Persönlichen Budget nach einer individuellen
Bedarfsdeckung und der „erforderlichen Beratung und Unterstützung“
auch in der Leistungsgewährung zu realisieren. Die Verordnung zur Durch-
führung des § 17 Absatz 2 bis 4 SGB IX, die so genannte Budgetverord-
nung, muss dementsprechend erweitert werden.

9. Das Budget für Arbeit wird als Instrument zur Eingliederung von Men-
schen mit Behinderung in den ersten Arbeitsmarkt verankert und zwar auch
ohne notwendige Anbindung an Werkstätten für behinderte Menschen. Im
Rahmen der Eingliederungshilfereform muss darauf hingewirkt werden,
dass das Budget für Arbeit als trägerübergreifende Leistung aus Mitteln der
Eingliederungshilfe und der Agentur für Arbeit bezogen werden kann.

10. Das Recht auf Elternassistenz, unterstützte Elternschaft und andere Hilfen
zur Wahrnehmung der elterlichen Rechte und Pflichten wird durch spezielle
Vorschriften geregelt.

11. Es werden Regelungen getroffen, um die spezifischen Bedarfe behinderter
Frauen und Mädchen tatsächlich zu decken. Dazu gehören insbesondere
die Förderung der Teilhabe am Arbeitsmarkt und verbesserte Leistungen
der Rehabilitation.

Berlin, den 29. November 2011

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

Begründung

Zu Nummer 1

Das SGB IX zielt auf Kooperation und Koordinierung zwischen den Rehabili-
tationsträgern und damit auf eine Konvergenz des Leistungsrechts in den Berei-
chen Rehabilitation und Teilhabe. Der § 7 SGB IX räumt abweichenden Rege-
lungen in den für die einzelnen Rehabilitationsträger geltenden Leistungsgeset-
zen Vorrang ein. Damit trägt der Gesetzgeber den spezifischen Systemzusam-
menhängen, in die die verschiedenen Sozialleistungsträger eingebunden sind,
Rechnung. Institutionelle Vorgaben wie die Qualitäts- und Mengensteuerung,
sofern sie nicht das Wunsch- und Wahlrecht bei berechtigten Wünschen für
erforderliche Bedarfe einschränken, in der gesetzlichen Krankenversicherung
oder die Besonderheiten in der gesetzlichen Unfallversicherung, die auf dem
Schadenersatzprinzip gründen, sollen weiterhin vorrangig gegenüber den Rege-
lungen des SGB IX bleiben. Die Vorschriften des SGB IX, insbesondere das
Wunsch- und Wahlrecht, sollen mit dem SGB IX nicht nur grundsätzlich gere-
gelt werden, sondern von den Leistungsträgern in ihrer Ermessensausübung
unmittelbar angewendet werden.
Die Erfahrung hat nach zehn Jahren SGB IX gezeigt, dass immer wieder Raum
für zahlreiche Uneinigkeiten zwischen den Rehabilitationsträgern bleibt. Diese

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sind mitunter der Auffassung, die Grundsätze des SGB IX – insbesondere das
Ziel der Teilhabe und das Wunsch- und Wahlrecht – seien von ihnen nicht zu
berücksichtigen. Nicht selten müssen Gerichtsurteile festlegen, welcher Träger
eine bestimmte Leistung finanzieren muss. Beispiele für derartige Streitigkei-
ten gibt es in vielen Bereichen: Immer wieder weisen Krankenkassen die Gel-
tung des SGB IX für die im SGB V verankerte Versorgung mit Heil- und Hilfs-
mitteln sowie für die Gewährung von Rehabilitationsmaßnahmen („Kuren“)
gänzlich zurück und sehen deshalb keine Veranlassung, sich an die im SGB IX
normierten Vorgaben zum Wunsch- und Wahlrecht, zu Fristen oder zur Weiter-
leitung von Anträgen zu halten. Die bisher mangelhafte Umsetzung der Kom-
plexleistung Frühförderung ist ebenfalls vor diesem Hintergrund zu sehen.

Weiterhin führt der im SGB XII normierte Mehrkostenvorbehalt (§ 9 Absatz 2
Satz 3 und § 13 Absatz 1 Satz 4 SGB XII) häufig zu negativen Effekten für die
Leistungsberechtigten. So kann unter Verweis auf diesen Vorbehalt beispiels-
weise eine Person, die aufgrund ihrer Behinderung auf Assistenz angewiesen ist,
auch dann von Sozialhilfeträgern zum Umzug in eine stationäre Wohnein-
richtung verpflichtet werden, wenn ihr bei stationärer Unterbringung erhebliche
gesundheitliche Gefahren drohen. Diese Regelung steht im Widerspruch zu
Artikel 19 der UN-Behindertenrechtskonvention, in dem klar formuliert wird,
dass Menschen mit Behinderung gleichberechtigt die Möglichkeit zur Wahl
ihres Aufenthaltsortes haben und nicht verpflichtet sind, in besonderen Wohn-
formen zu leben.

Um derartige Konflikte zwischen den Gesetzen zu beseitigen, sind Klarstellun-
gen in den übrigen Sozialgesetzbüchern notwendig, die eine Ausführung der
Leistungen zur Rehabilitation und Teilhabe im Sinne des SGB IX gewährleis-
ten. Berechtigte Wünsche der Leistungsberechtigten sind ohne Kostenvorbehalt
zu berücksichtigen. Das Prinzip der Teilhabe von Menschen mit Behinderung
sowie das Wunsch- und Wahlrecht gelten uneingeschränkt. In dieser Hinsicht
gehen spezielle Regelungen in den Sozialgesetzbüchern den Grundsätzen des
SGB IX nicht vor, sondern sind diesen untergeordnet.

Zu Nummer 2

Verschiedene Vorschriften des SGB IX enthalten explizite Ausnahmeregelun-
gen für die Träger der Sozial- und Jugendhilfe. Das betrifft zum Beispiel den
Ausschluss der Möglichkeit zur vorläufigen Beschaffung der Hilfen durch An-
tragstellerinnen bzw. Antragsteller bei überlanger Bearbeitungsdauer (§ 15
SGB IX). Im SGB IX sind die Fristen, innerhalb derer sich die Rehabilitations-
träger über die Gewährung von Leistungen einig werden müssen, klar geregelt.
Teilen sie dem Antragsteller nicht rechtzeitig mit, aus welchem Grund eine Ent-
scheidung nicht innerhalb der Frist getroffen werden kann, hat er die Möglich-
keit, den Rehabilitationsträgern eine angemessene Frist zu setzen und sich die
Leistung nach Ablauf der Frist selbst zu beschaffen. Der Rehabilitationsträger
ist zur Kostenerstattung verpflichtet, wenn die antragstellende Person leistungs-
berechtigt war. Die Sozial- und Jugendhilfe sind von dieser Regelung ausge-
nommen. Ein Anspruch auf nachträgliche Leistungen besteht bei diesen Trä-
gern nicht.

Eine weitere Ausnahmeregelung findet sich in § 13 SGB IX, der die Rehabilita-
tionsträger zur Erstellung gemeinsamer Empfehlungen verpflichtet. Auch hier
sind die Träger der öffentlichen Jugendhilfe und die Träger der Sozialhilfe aus-
genommen. Mit der Vereinbarung dieser Empfehlungen verbindet sich eines
der wichtigsten Ziele des SGB IX, die Kooperation der Leistungsträger und die
Koordination der Leistungen sicherzustellen. Über die Regelung zur Beteili-
gung anderer öffentlicher Stellen (§ 13 Absatz 5 SGB IX) müssen die Träger

der Sozial- und Jugendhilfe zwar über die Bundesvereinigung der kommunalen
Spitzenverbände, die Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Sozialhilfe-

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/7951

träger, die Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter und die bundes-
weite Arbeitsgemeinschaft der Integrationsämter beteiligt werden. Die Ent-
scheidung über einen Beitritt liegt allerdings im Ermessen der Träger. Bisher
treten die Sozial- und Jugendhilfeträger den Empfehlung gar nicht oder nur
sehr zögerlich bei, obwohl sie sich an ihrer Erarbeitung häufig beteiligt haben.

Durch derartige Ausnahmeregelungen besteht auch die Gefahr, dass das
Wunsch- und Wahlrecht unterminiert wird.

Zu Nummer 3

Träger der pflegevermeidenden Rehabilitation ist gegenwärtig die Krankenver-
sicherung. Diese erfüllt – trotz des in § 11 Absatz 2 SGB V verankerten Rechts-
anspruchs auf Rehabilitation zur Vermeidung von Pflegebedürftigkeit – diesen
Anspruch kaum. Ursächlich dafür sind systematische Fehlanreize, da für die
medizinische Rehabilitation nicht derjenige Träger zuständig ist, der das Risiko
des Scheiterns trägt. Weiterhin erschwert die mangelhafte Umsetzung des § 40
Absatz 3 SGB V, wonach die Krankenversicherung bei unterlassener Reha-
bilitationsleistung Strafzahlungen an die Pflegeversicherung leisten muss, die
pflegevermeidende Rehabilitation. Die Pflegeversicherung selbst kann nur bei
den anderen Rehabilitationsträgern darauf hinwirken, dass frühzeitig alle geeig-
neten Leistungen der Prävention und Rehabilitation eingeleitet werden.

Die bestehende gesetzliche Regelung führt in der Praxis zu Schwierigkeiten bei
der Verwirklichung der selbstbestimmten Teilhabe von Menschen mit Behinde-
rung und bei der Gewährung von rehabilitativen Leistungen für von Pflegebe-
dürftigkeit betroffene Menschen. Weil die Pflegeversicherung keine Rehabilita-
tionsleistungen verantwortet, lehnen beispielsweise ein Teil der Kranken- und
Pflegekassen Anträge auf Hilfsmittel mit dem Verweis auf die Zuständigkeit
des jeweils anderen Trägers ab. Eine Zusammenarbeit im Sinne einer guten
Versorgung des Versicherten wird dadurch verzögert oder gar verhindert.

Zur wirksamen Umsetzung des Prinzips Rehabilitation vor Pflege sind ver-
schiedene Wege denkbar. Dabei ist zu prüfen, wie die Schnittstellenproblemati-
ken verringert oder gelöst werden können. Zum einen könnte die Pflegever-
sicherung in den Kreis der Rehabilitationsträger aufgenommen werden. Als
Rehabilitationsträger entwickelt sie somit ein eigenes Interesse an medizi-
nischer Rehabilitation zur Vermeidung von Pflegebedürftigkeit und kann dies
besser durchsetzen. Als weitere Option wird auch die Möglichkeit von Aus-
gleichszahlungen der Sozialen Pflegeversicherung an die Gesetzliche Kranken-
versicherung diskutiert. So könnten die Anreize für die Krankenkassen, ihrer
Aufgabe der pflegerischen Rehabilitation nachzukommen, deutlich erhöht wer-
den.

Schließlich sind auch die Leistungen zur Teilhabe trotz Pflegebedarf im norma-
tiven Verhältnis zwischen SGB IX und SGB XI in den Blick zu nehmen. Diese
werden von Krankenkassen und Sozialhilfeträgern vielfach nicht erbracht.

Zu Nummer 4

Die Qualität der Beratung in den Gemeinsamen Servicestellen der Rehabilita-
tionsträger nach Kapitel 3 SGB IX ist bisher uneinheitlich und häufig nicht zu-
friedenstellend. Von vielen Betroffenen wird den Servicestellen nicht zugetraut,
unparteiisch beziehungsweise in ihrem Sinne zu beraten, da sie immer in Ver-
bindung mit dem jeweiligen Rehabilitationsträger gesehen werden. Die Bera-
tungsqualität ließe sich steigern, würde an Stelle trägerabhängiger Strukturen
verstärkt in neutrales und unabhängiges Case Management (Fall- bzw. Assis-
tenzmanagement) investiert. Eine solch unabhängige Beratung wird grundsätz-

lich vom Verbund der Unabhängigen Patientenberatung Deutschland (UPD)

Drucksache 17/7951 – 6 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

nach § 65b SGB V angeboten, wenngleich es bislang an einer zufriedenstellen-
den Verstetigung eines leitliniengestützten und qualitätsgesicherten Regelange-
botes mangelt. Zudem sollte die Beratung zunehmend nach dem sogenannten
Peer-Prinzip, das heißt Beratung durch ausgebildete Betroffene mit einem ver-
gleichbaren Erfahrungshintergrund, stattfinden.

Die Finanzierung des Systems der trägerunabhängigen Beratung wird durch
eine Umlageverfahren der Rehabilitationsträger ermöglicht.

Zu Nummer 5

Die gemeinsamen Servicestellen, die als einheitliche Anlauf- und Beratungs-
stellen die komplexe Landschaft der Leistungsträger und -erbringer überschau-
bar machen sollten, wurden von den Rehabilitationsträgern nicht mit der not-
wendigen Systematik aufgebaut. Häufig fehlt im Internetangebot und in den
Geschäftsstellen der Rehabilitationsträger, die eine gemeinsame Servicestelle
betreiben, jeglicher Hinweis auf deren Existenz. Besonders stark betroffen von
der schlecht ausgebauten Beratungsstruktur sind Menschen, die neben ihrer Be-
einträchtigung geringe Kenntnisse der deutschen Schriftsprache haben. Zugang
zu Information und Beratung als Voraussetzung für die Inanspruchnahme von
Leistungen wird durch fehlende muttersprachliche Angebote erschwert.

Die regelmäßig aktualisierten Rahmenvereinbarungen der Bundesarbeitsge-
meinschaft für Rehabilitation (BAR) konnten die Situation nicht wesentlich
verbessern. In ihrem Dritten Bericht über die Gemeinsamen Servicestellen vom
16. Februar 2011, in den Beiträge der Rehabilitationsträger und Verbände ein-
gingen, stellt die BAR fest, dass Beratungsbedarf vorhanden, die Zahl der Ge-
meinsamen Servicestellen jedoch weiterhin gering ist. Die Bunderegierung
stellt in ihrem Nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behinderten-
rechtskonvention (NAP) aus diesem Jahr ebenfalls Umsetzungsdefizite bei den
Gemeinsamen Servicestellen fest (Ausschussdrucksache 17(11)553 des Aus-
schusses für Arbeit und Soziales des Deutschen Bundestages).

Vor diesem Hintergrund gilt es, die Aufgaben der Gemeinsamen Servicestellen
zu überdenken und anzupassen. Es bietet sich an, die Beratungsaufgaben auf
eine unabhängige Struktur zu übertragen (siehe Nummer 4). Dass ein höheres
Maß an Verantwortung und Entscheidungsbefugnis zu einem höheren Maß an
Qualität der Servicestellen sowie zu ihrer stärkeren Beachtung durch die Reha-
bilitationsträger führen würde, formulierte bereits die damalige Bundesregie-
rung in ihrem Bericht zur Lage behinderter Menschen und der Entwicklung
ihrer Teilhabe in der 15. Wahlperiode (Bundestagsdrucksache 15/4575). Um
die Relevanz der Servicestellen zu erhöhen sind ihre Kompetenzen weiterzu-
entwickeln. Sie müssen unter Beteiligung aller Rehabilitationsträger ausgebaut
und mit Entscheidungsbefugnis ausgestattet werden. So sollen sie auch die Ein-
gliederungshilfe nach dem SGB XII leisten, um Hilfe aus einer Hand (Rehabili-
tation und Eingliederung) zu ermöglichen. Es muss eine gemeinsame Be-
darfsermittlung, Zielformulierung und Hilfeplanung erfolgen. Die Entschei-
dungen der gemeinsamen Servicestellen erfolgen im Auftrag der zuständigen
Rehabilitationsträger, einschließlich der Träger der Sozial- und Jugendhilfe und
der Integrationsämter. Als Beauftragte entscheiden sie endgültig über die ge-
stellten Anträge und über die Widersprüche.

Zu Nummer 6

Häufig bestimmen nicht die Ziele und der Unterstützungsbedarf der Menschen
mit Behinderung die Planung der Unterstützung, sondern die vorhandenen
Strukturen und Formen der existierenden Hilfesysteme. Derzeit ist es keine Sel-

tenheit, dass verschiedene Träger zwei Menschen mit vergleichbarem Bedarf
oder demselben Menschen nach einem Umzug verschiedene Leistungen bewil-

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7 – Drucksache 17/7951

ligen, weil unterschiedliche Verfahren zur Bedarfserhebung zur Anwendung
kommen. Die BAR arbeitet daher bereits an einer Vereinheitlichung der Verfah-
ren zur Bedarfsfeststellung. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales
(BMAS) begleitet diesen Prozess.

Die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Ge-
sundheit (ICF) der Weltgesundheitsorganisation bietet die Möglichkeit, den
funktionalen Gesundheitszustand und die Behinderung einer Person unter Be-
rücksichtigung der sozialen Kontextfaktoren länder- und fachübergreifend zu
beschreiben. Behinderung wird in der ICF nicht mehr als kausale Folge einer
Krankheit oder Schädigung angesehen, sondern als Ergebnis der Interaktion
einer Vielzahl von Komponenten. Sie berücksichtigt Körperfunktionen und
-strukturen, Aktivität, Teilhabe, Umweltfaktoren und personenbezogene Fak-
ten und verfolgt den Anspruch, ein bio-psycho-soziales Modell von Behinde-
rung zu formulieren. Ein ICF-basiertes Verfahren hat das Potential, Ressourcen
offenzulegen und erhöht die Autonomie der Person.

Vorläuferfassungen der ICF haben die Gestaltung des SGB IX wesentlich beein-
flusst. Sie wird im Bereich der medizinischen und beruflichen Rehabilitation
teilweise bereits genutzt. Um den Gedanken der Selbstbestimmung und Perso-
nenzentrierung gerecht zu werden, muss der Behinderungsbegriff in § 2 Absatz 1
SGB IX und im BGG im Sinne der ICF und der Behindertenrechtskonvention
weiterentwickelt und mit dem Einstufungsinstrumentarium der ICF unterlegt
werden. Die §§ 2 und 14 SGB IX müssen dementsprechend ergänzt werden. Auf
diese Weise ist zu garantieren, dass die Anwendungen dieses Verfahrens bundes-
einheitlich stattfindet und allen Rehabilitationsentscheidungen einheitlich zu-
grunde liegt. Im Prozess der Implementierung sind Menschen mit Behinderung
und ihre Verbände von Beginn an einzubeziehen und an der Umsetzung der Vor-
gaben zu beteiligen. Angewendet wird das neue Verfahren von den gemeinsamen
Servicestellen auf Grundlage ihrer erweiterten Kompetenzen.

Zu Nummer 7

Die Rehabilitation steht seit einigen Jahren vor neuen Herausforderungen. Es
gilt die in der UN-Behindertenrechtskonvention spezifizierten Menschenrechte
von Menschen mit Behinderung in der Praxis der Leistungserbringung zu
gewährleisten. Zudem ist angesichts des demographischen Wandels eine
wachsende Zahl von Leistungsberechtigten zu erwarten. Um dem Stellenwert
der Rehabilitation gerecht zu werden und eine effiziente, personenzentrierte
und am Selbstbestimmungsrecht der Betroffenen orientierte Leistungserbrin-
gung zu gewährleisten, müssen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Reha-
bilitationsträger und -dienste die Möglichkeit zur regelmäßigen Weiterbildung
haben. Dies betrifft insbesondere die trägerübergreifende Zusammenarbeit und
die Leistungsfeststellung mit Bezug auf die ICF.

Trotz regelmäßiger Schulungen sowohl durch die Rehabilitationsträger selbst
als auch durch das Angebot der durch das BMAS geförderten Reha-Akademie,
machen viele Leistungsberechtigte gegenwärtig schlechte Erfahrungen im Pro-
zess der Leistungsfeststellung, Bedarfsplanung und Leistungsbewilligung. Die
geringe Zahl der bisher bewilligten trägerübergreifenden Persönlichen Budgets
ist nur ein Hinweis darauf, wie stark die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in
ihrer Perspektive noch an einzelne Träger gebunden sind. Das Problem ist nicht
neu. Bereits in der 16. Wahlperiode formulierte die damalige Bundesregierung
in ihrem Bericht über die Lage behinderter Menschen und die Entwicklung ihrer
Teilhabe, es bestehe offensichtlich ein Bedarf an Qualifizierung der Beschäftig-
ten der Servicestellen für die trägerübergreifende Beratung (Bundestagsdruck-
sache 16/13829). Im Dritten Bericht über die Gemeinsamen Servicestellen der

BAR vom 16. Februar 2011 fordern einzelne Rehabilitationsträger selbst ge-
meinsame regionale Weiterbildungsveranstaltungen. Auch der bio-psycho-

Drucksache 17/7951 – 8 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

soziale Ansatz der ICF mit seinem Fokus auf Teilhabe wird neue Herausforde-
rungen in der Leistungsfeststellung und Teilhabeplanung für Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter der Rehabilitationsträger darstellen.

Zu Nummer 8

Mit dem Inkrafttreten des Persönlichen Budgets zum 1. Juli 2004 wurde ein be-
deutender Schritt zu mehr Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit
Behinderung getan. Diese haben nun ein Wahlrecht auf die gebündelte Aus-
zahlung der ihnen zustehenden Sozialleistungen. Mit dem Budget können sie
eigenverantwortlich ihre notwendigen Dienstleistungen einkaufen.

Das trägerübergreifende Persönliche Budget wird bisher nur von wenigen Leis-
tungsberechtigten in Anspruch genommen. Die Rehabilitationsträger verhalten
sich in der trägerübergreifenden Zusammenarbeit bisher eher zurückhaltend.
Sie werden damit den Ansprüchen des SGB IX nicht gerecht.

Bis Ende 2008 wurden knapp 7 000 Budgets bewilligt, davon über 3 300 im Jahr
2008. Die Verteilung über die Bundesländer ist sehr unterschiedlich. Die weitaus
größte Zahl der Budgets wurde in Rheinland-Pfalz bewilligt (Bundestagsdruck-
sache 17/406). Die Zahl der trägerübergreifenden Persönlichen Budgets liegt
deutlich darunter. Zurzeit liegen dem BMAS keine exakten Erkenntnisse über
Bewilligungen oder Ablehnungen Persönlicher Budgets vor. Die Leistungsträ-
ger melden die Zahlen zur Inanspruchnahme nur unvollständig oder gar nicht.

Klare gesetzliche Bestimmungen zur Zusammenarbeit der Rehabilitationsträger
werden systematisch nicht eingehalten. In einem wegweisenden Urteil des
Bundessozialgerichts zum Persönlichen Budget im Mai 2011 nannte der vorsit-
zende Richter, Dr. Josef Berchtold, das Verhalten der Rehabilitationsträger einen
„Krieg einer gegen den anderen innerhalb des Staatswesens“. Die BAR stellt in
ihrem Dritten Bericht über die Gemeinsamen Servicestellen fest, dass sich von
493 existierenden Servicestellen 170 aktiv zum Persönlichen Budget bekannt
haben. Angesichts ihrer gesetzlichen Verpflichtung ist diese Zahl sehr gering.
Viele Menschen mit Behinderung, die an dieser Leistungsform grundsätzlich in-
teressiert sind, werden durch Fehlinformation oder gezielte Beratung durch
Leistungsträger von der Beantragung abgehalten. Das trägerübergreifende Per-
sönliche Budget wurde einerseits mit dem Ziel eingeführt, das Selbstbestim-
mungsrecht der Leistungsberechtigten zu stärken. Zum anderen knüpfte sich an
die neue Leistungsform die Erwartung, im Allgemeinen eine wirtschaftlichere
Leistungserbringung zu erreichen. In § 17 Absatz 3 Satz 3 SGB IX ist geregelt,
dass die Höhe des Persönlichen Budgets die Kosten aller bisher individuell fest-
gestellten, ohne das Budget zu erbringenden Leistungen nicht überschreiten
darf. Diese Vorgabe verhindert, dass Menschen mit hohem Unterstützungs-
bedarf, die in einer stationären Einrichtung leben, aus dieser ausziehen können.
Aufgrund der Mischkalkulationen vieler stationärer Einrichtungen fallen die
Kosten der stationären Unterbringung in diesen Fällen teilweise deutlich niedri-
ger aus als die zur Deckung des Unterstützungsbedarfs außerhalb einer Einrich-
tung.

Unklare Vorgaben zur Übernahme der Kosten einer Budgetassistenz und ein
unzureichendes Angebot an unabhängig vom Budget finanzierter Budgetbera-
tung verstärken die geringe Inanspruchnahme des Persönlichen Budgets. Be-
antragung und Verwaltung eines trägerübergreifenden Budgets stellen auch die
Leistungsberechtigten vor anspruchsvolle Herausforderungen. Es müssen mit-
unter sozialversicherungsrechtliche, steuerliche und arbeitsrechtliche Vorgaben
beachtet werden. Die große Aufgabenvielfalt kann auch eine Überforderung
der Budgetnehmer darstellen. Dies trifft insbesondere Menschen mit geistiger
Behinderung bzw. seelischer Erkrankung, die bei der Selbstverwaltung des Per-

sönlichen Budgets häufig überfordert sind. Eine unabhängige Budgetassistenz

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 9 – Drucksache 17/7951

stellt für diesen Personenkreis vielfach eine notwendige Voraussetzung zur
Inanspruchnahme der Leistungsform Persönliches Budget dar.

Nach Ergebnissen der Begleitforschung zur Erprobung trägerübergreifender
Persönlicher Budgets aus dem Jahr 2007 wird die individuelle, alltagsnahe Be-
ratung und die Unterstützung bei der Verwaltung des Budgets nicht ausreichend
durch soziale Dienste und Einrichtungen oder unabhängige Stellen der Budget-
beratung abgedeckt. Nur in wenigen Fällen werden die Kosten für eine solche
Unterstützung als Bestandteil des Budgets vom Leistungsträger finanziert. Eine
detaillierte rechtliche Klärung der Frage, ob und wie dabei ggf. entstehende
Kosten in der Budgetbemessung berücksichtigt werden können, wird ange-
mahnt.

Zu Nummer 9

Nach dem Wortlaut und dem Geist des SGB IX sind auch Leistungen für Be-
schäftigte in Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) grundsätzlich bud-
getfähig. Weiterbildungsmodule und Arbeitsassistenz können auch nach beste-
hender Rechtslage jenseits von Werkstätten finanziert werden. In der Praxis
verweigern die Rehabilitationsträger allerdings häufig die Bewilligung von
Leistungen ohne Anbindung an die Werkstatt. Die Bundesregierung erklärt im
Nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention
(NAP), in der Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Weiterentwicklung der Eingliede-
rungshilfe“ werde diskutiert, ob eine Möglichkeit geschaffen werden kann, be-
stimmte Leistungen auch bei Anbietern jenseits der Werkstatt in Anspruch zu
nehmen. Um dem allseits begrüßten und geforderten Grundsatz der Personen-
zentrierung gerecht zu werden, ist eine Abkehr von der Bindung des Bezugs
von Leistungen an die Institution „Werkstatt für behinderte Menschen“ nötig.
Die positiven Erfahrungen, die in Niedersachsen und Rheinland-Pfalz mit dem
Budget für Arbeit gemacht werden, müssen zu dessen bundesweiter Einführung
führen.

Zu Nummer 10

Mütter und Väter mit Behinderung erhalten die benötigte Elternassistenz, Leis-
tungen zur unterstützten Elternschaft sowie die zu Wahrnehmung der elter-
lichen Rechte und Pflichten benötigten Hilfsmittel in der Regel nur nach langen
Streitverfahren. Gleiches gilt für Familien mit behinderten Kindern, die auf-
grund der Beeinträchtigung der Kinder besondere Hilfen benötigen, um ge-
meinsam am Leben in der Gesellschaft teilhaben zu können. Bei den zuständi-
gen Stellen herrscht offenbar ein Bild von Behinderung vor, das noch immer
stark von einer Fürsorge-Perspektive geprägt ist. Menschen mit Behinderung
werden als passive Empfänger von Hilfen betrachtet und nicht als selbstbe-
stimmte Bürgerinnen und Bürger, die als Eltern mit Behinderung Unterstützung
benötigen. Wenn der Unterstützungsbedarf der Eltern oder des Kindes das Maß
des Üblichen weit übersteigt, wird in der Praxis häufig die Herausnahme des
Kindes aus der Familie als bessere Lösung verstanden. Ein derart extremer Ein-
griff in die Elternrechte ist nicht zu rechtfertigen.

Zu Nummer 11

Sowohl das SGB IX als auch die UN-Behindertenrechtskonvention formulieren
den expliziten Auftrag, den spezifischen Bedarfen von Frauen und Mädchen
mit Behinderungen gerecht zu werden und ihre Diskriminierung abzubauen.
Dieses Ziel wird bislang verfehlt. Frauen erhalten im Gegensatz zu Männern
beispielsweise deutlich unterproportional Leistungen zur Rehabilitation. In

einigen Bereichen der beruflichen Rehabilitation liegt ihr Anteil nur bei einem
Drittel. So weist die Verteilung der Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben

Drucksache 17/7951 – 10 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

der Deutschen Rentenversicherung zwischen den Geschlechtern deutliche Un-
gleichheiten auf. 2009 waren von den 132 259 Personen, die Leistungen zur
Teilhabe am Arbeitsleben erhalten haben, knapp 50 000 Frauen und über
82 000 Männer. Bei den Leistungen zur beruflichen Bildung ist die Zahl der
Männer fast doppelt so hoch wie die der Frauen. Frauen mit Behinderung sind
deutlich seltener erwerbstätig und häufiger arbeitslos. Das gesetzlich geforderte
Sonderprogramm zur Förderung der Teilhabe behinderter Frauen am Arbeits-
markt gemäß § 104 Absatz 3 SGB IX wurde nie in Angriff genommen. Die
Bundesagentur für Arbeit weist bis heute in ihren Statistiken Frauen und Mäd-
chen mit Behinderungen nicht gesondert aus.

Ergebnisse einer Studie der Universität Bielefeld weisen aktuell auf das hohe
Maß an Gewalt hin, dem Frauen mit Beeinträchtigungen ausgesetzt sind. Arti-
kel 16 der UN-Konvention verpflichtet die Vertragsstaaten alle geeigneten
Maßnahmen zu treffen, um jede Form von Ausbeutung, Gewalt und Miss-
brauch zu verhindern. Auch in diesem Bereich besteht Handlungsbedarf. Übun-
gen zur Stärkung des Selbstbewusstseins sind eine sinnvolle Maßnahme der
Prävention. Der Rechtsanspruch von behinderten und von Behinderung bedroh-
ten Frauen und Mädchen auf Übungen zur Stärkung des Selbstbewusstseins im
Rahmen des Rehabilitationssports (§ 44 SGB IX) kann nicht verwirklicht wer-
den, weil es auch nach zehn Jahren kaum geeignete Übungsleiterinnen gibt.
Lediglich in Nordrhein-Westfalen wurden vor drei Jahren 10 bis 15 Übungslei-
terinnen ausgebildet. Für die Anerkennung der Reha-Sportgruppen sowie die
Ausbildung der Trainerinnen und Trainer ist grundsätzlich der Deutsche Behin-
dertensportverband zuständig. Von Seiten des Gesetzgebers muss stärker auf
den Gemeinsamen Bundesausschuss eingewirkt werden, die Maßnahmen zur
Selbstbehauptung in den Leistungskatalog der Krankenkassen aufzunehmen.

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