BT-Drucksache 17/6416

Verhältnismäßigkeit der Funkzellenabfrage zum Zweck der Strafverfolgung

Vom 4. Juli 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/6416
17. Wahlperiode 04. 07. 2011

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Jerzy Montag, Wolfgang Wieland, Dr. Konstantin von Notz,
Volker Beck (Köln), Katrin Göring-Eckardt, Ingrid Hönlinger, Memet Kilic,
Sven-Christian Kindler, Stephan Kühn, Monika Lazar, Hans-Christian Ströbele,
Josef Philip Winkler und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Verhältnismäßigkeit der Funkzellenabfrage zum Zweck der Strafverfolgung

Bei Protesten gegen Neonazi-Aufmärsche am 19. Februar 2011 hat die Dresd-
ner Polizei offenbar bei Ermittlungen wegen eines besonders schweren Land-
friedensbruches (§ 125a des Strafgesetzbuchs) im Wege eine Funkzellenabfrage
die Verkehrsdaten von Demonstrierenden, Anwohnern, Journalisten, Anwälten
und auch von Politikerinnen und Politiker ausgespäht. Nach Auskünften der Po-
lizei und Presseberichten sind dabei ca. 138 000 Datensätze erfasst und bis zu
17 000 Personen von dieser Erfassung betroffen (vgl. taz vom 19. Juni 2011 und
die Äußerungen des Sächsischen Staatsministers der Justiz und für Europa bei
der Kabinettspressekonferenz am 21. Juni 2011). Bereits im Rahmen der Ermitt-
lungen des Brandanschlages auf die Dresdner Alberstadtkaserne vom 12. April
2009 soll es zu einer Funkzellenabfrage gekommen sein, bei der die Verkehrs-
daten und die daraus erlangten Informationen mit Tausenden von Rechnungs-
belegen der Baumarktkette OBI abgeglichen wurden (vgl. MDR-Bericht vom
22. Juni 2011).

Die Funkzellenabfrage (FZA) ist eine verdeckt erfolgende Ermittlungsmaß-
nahme zum Zweck der Strafverfolgung (§ 100g Absatz 2 Satz 2 der Strafpro-
zessordnung – StPO). Dabei fragen Behörden Telekommunikationsverbin-
dungsdaten ab, die in einem bestimmten räumlich abgrenzbaren Bereich (Funk-
zelle) über einen bestimmten Zeitraum hinweg anfallen. Ziel der Maßnahme
ist, die Identität von Tatverdächtigen zu klären oder weitere Anhaltspunkte zur
Aufklärung des Sachverhaltes zu erlangen.

Zulässig ist die Anordnung nur bei Straftaten von „auch im Einzelfall erheb-
licher Bedeutung“ – wie sie insbesondere in § 100a Absatz 2 StPO aufgeführt
sind – sowie bei Straftaten „mittels Telekommunikation“ (§ 100g Absatz 1
Nummer 1 bzw. 2 StPO). In der Regel ist eine richterliche Anordnung erforder-
lich und die Maßnahme auf maximal drei Monate zu befristen (§ 100g Absatz 2
Satz 1 StPO i. V. m. § 100b Absatz 1 Satz 1 und 4 StPO). Es müssen „be-
stimmte Tatsachen“ den Verdacht begründen, dass jemand als Täter oder Teil-
nehmer eine solche Straftat begangen hat. Die Maßnahme darf sich nur gegen
den Beschuldigten oder seinen Nachrichtenmittler richten (§ 100g Absatz 2
Satz 1 StPO i. V. m. § 100a Absatz 3 StPO). Je nach Funkzellenbereich ist aber
daneben eine erhebliche Zahl an der Straftat Unbeteiligter zwangsläufig betrof-
fen. Daher darf die Maßnahme bei Straften von erheblicher Bedeutung nur ein-
gesetzt werden, wenn die Erforschung des Sachverhaltes oder die Ermittlung
des Aufenthaltsortes des Beschuldigten „auf andere Weise aussichtslos oder
wesentlich erschwert“ ist (§ 100g Absatz 2 Satz 2, sog. Subsidiaritätsklausel).

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Die Funkzellenauswertung ähnelt der Rasterfahndung. Damit im späteren Ab-
gleich der Daten der Kreis der von der Maßnahme betroffenen unbeteiligten
Dritten so klein wie möglich ausfällt, sind die heranzuziehenden Verkehrsdaten
auch nach Empfehlungen von Polizeibehörden „auf ein Minimum zu beschrän-
ken“, d. h. nach Ort und Zeit so genau wie möglich einzugrenzen. Um den Ein-
griff in das Fernmeldegeheimnis wirksam zu begrenzen, muss zudem der von
der Maßnahme Betroffene sowie diejenige Telekommunikation, über die Aus-
kunft erteilt werden soll, in der Auskunftsanordnung genau bezeichnet werden
(vgl. www.kriminalpolizei.de, Ausgabe März 2010).

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie beurteilt die Bundesregierung mit Blick auf die betroffenen Grund-
rechte der Bürgerinnen und Bürger (Demonstrationsfreiheit, Fernmelde-
geheimnis etc.) und den rechtsstaatlichen Grundsatz der Verhältnismäßig-
keit die Tatsache, dass in einer Funkzelle unter Umständen (je nach Bereich
können Funkzellen von nur wenigen Metern bis zu mehr als 100 Kilo-
metern im Durchmesser groß sein) regelmäßig eine erhebliche Zahl an der
Straftat Unbeteiligter von der Maßnahme betroffen ist?

2. Was folgt aus dieser Einschätzung für die zuständigen Behörden bzw. die
Kontrolle der Subsidiaritätsklausel durch die Gerichte, insbesondere für
den sog. Richtervorbehalt?

3. Liegen der Bundesregierung Informationen darüber vor, in wie vielen Fäl-
len bundesweit (ggf. aufzuschlüssseln nach Bundesländern) die von den
zuständigen Behörden beantragte FZA durch die zuständige Richterin bzw.
den zuständigen Richter angeordnet bzw. abgelehnt wurde?

4. In wie vielen Fällen davon wurde die FZA aus Gründen der Verhältnis-
mäßigkeit abgelehnt?

5. Sieht die Bundesregierung vor diesem Hintergrund Änderungsbedarf hin-
sichtlich der bisherigen gesetzlichen Vorgaben für die gerichtliche Kon-
trolle?

6. Wie beurteilt die Bundesregierung im Falle der Proteste gegen die Neonazi-
Aufmärsche in Dresden im Februar 2011 die Tatsache, dass die Verkehrs-
daten von tausenden Demonstranten, Anwohnern, Journalisten, Anwälten
und Politikern ausgespäht wurden, insbesondere im Hinblick auf das ver-
fassungsrechtlich geschützte Recht auf Demonstrationsfreiheit?

7. Wie beurteilt die Bundesregierung die Tatsache, dass sich unter den erfass-
ten Verkehrsdaten auch diejenigen der Abgeordneten des Deutschen Bun-
destages befanden, beispielsweise von Volker Beck (Köln), Katrin Göring-
Eckardt, Uwe Kekeritz, Sven-Christian Kindler, Monika Lazar, Claudia Roth
(Augsburg) und Hans-Christian Ströbele von der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN, insbesondere im Hinblick auf die verfassungsrechtlich be-
sonders geschützte Immunität von Abgeordneten?

8. Wie beurteilt die Bundesregierung die Tatsache, dass in Dresden nach
Presseberichten über 4 000 Beamte im Einsatz waren und das Geschehen
gefilmt wurde, vor dem Hintergrund dass die FZA nur eine subsidiäre und
nachrangige Maßnahme zur Täterermittlung ist?

9. Liegen der Bundesregierung inzwischen Erkenntnisse darüber vor, ob die
FZA in Dresden im Nachhinein beantragt oder ob die Daten in Echtzeit
erfasst wurden?

10. Liegen der Bundesregierung inzwischen Erkenntnisse darüber vor, über
welchen Zeitraum sich die Überwachung durch die FZA in Dresden er-
streckt hat?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/6416

11. Liegen der Bundesregierung inzwischen Erkenntnisse darüber vor, wie
viele Menschen genau betroffen sind bzw. wie viele Namen zu Handy-
nummern ermittelt wurden?

12. Liegen der Bundesregierung inzwischen Erkenntnisse darüber vor, wie
lange diese Daten gespeichert werden bzw. wann diese zu löschen sind?

13. Wie beurteilt die Bundesregierung die Tatsache, dass die in Dresden erho-
benen Verbindungsdaten laut Presseberichten in mehreren Fällen auch in
Ermittlungen gegen Personen eingeflossen sein sollen, denen lediglich die
Störung der angemeldeten Nazi-Demonstration vorgeworfen wird (SZ-
Online vom 20. Juni 2011)?

14. Hält die Bundesregierung § 100g StPO, der neben der Funkzellenabfrage
auch andere Fälle der Datenauswertung regelt, in seiner gegenwärtigen
Fassung für geeignet, sowohl angesichts der erheblichen Streubreite der
Maßnahme als auch der nach Medienberichten (vgl. MDR-Bericht vom
22. Juni 2011) teilweise ausufernden Einsatzpraxis eine hinreichende Bin-
dung der Ermittlungsbehörden zu ermöglichen?

15. Sieht die Bundesregierung angesichts der genannten Vorfälle gesetzgebe-
rischen Änderungsbedarf, um zu erreichen, dass im Rahmen des § 100g
StPO nur diejenigen Verkehrsdaten erhoben werden dürfen, die sich auf die
Kommunikation mit dem oder den Beschuldigten beziehen?

16. Liegen der Bundesregierung Informationen darüber vor, in wie vielen Fäl-
len die beantragte FZA durch die zuständige Richterin bzw. den zuständi-
gen Richter über drei Monate hinaus angeordnet wurde?

17. Wie beurteilt die Bundesregierung vor dem Hintergrund der Entscheidung
des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG) zur Vorratsdatenspeicherung
(BVerfG, Urteil vom 2. März 2010, Az. 1 BvR 256/08, 1 BvR 263/08,
1 BvR 586/08) eine mögliche Verlängerung der FZA durch die Richterin
bzw. den Richter auf sechs Monate und darüber hinaus?

18. Wie beurteilt die Bundesregierung die Tatsache, dass über die Erhebung
von Verkehrsdaten jährlich eine Übersicht zu erstellen ist (§ 100g Absatz 4
StPO), jedoch nach Presseberichten (taz, a. a. O.) weder beim Bundes-
ministerium der Justiz noch bei den Diensteanbietern eine Statistik dazu
vorliegt, wie häufig FZA durchgeführt werden?

Berlin, den 1. Juli 2011

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

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