BT-Drucksache 17/5528

Grundrechte von intersexuellen Menschen wahren

Vom 13. April 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/5528
17. Wahlperiode 13. 04. 2011

Antrag
der Abgeordneten Monika Lazar, Volker Beck (Köln), Kai Gehring, Kerstin Andreae,
Birgitt Bender, Katja Dörner, Ingrid Hönlinger, Memet Kilic, Sven-Christian Kindler,
Maria Klein-Schmeink, Tom Koenigs, Agnes Krumwiede, Jerzy Montag,
Dr. Konstantin von Notz, Tabea Rößner, Claudia Roth (Augsburg), Krista Sager,
Dr. Gerhard Schick, Wolfgang Wieland, Josef Philip Winkler und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Grundrechte von intersexuellen Menschen wahren

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Intersexuelle Menschen sollen als ein gleichberechtigter Teil unserer vielfälti-
gen Gesellschaft anerkannt und dürfen in ihren Menschen- und Bürgerrechten
nicht eingeschränkt werden. Als intersexuell werden Menschen bezeichnet, bei
denen Chromosomen und innere oder äußere Geschlechtsorgane nicht überein-
stimmend einem weiblichen oder männlichen Geschlecht zugeordnet werden
können oder die in sich uneindeutig sind. Wissenschaftlichen Studien zufolge
werden in Deutschland etwa 150 bis 340 Kinder pro Jahr geboren, die als inter-
sexuell klassifiziert werden können. Die Gesamtzahl der Betroffenen mit
schwerwiegenderen Abweichungen der Geschlechtsentwicklung liegt nach An-
gaben der Bundesregierung bei etwa 8 000 bis 10 000 (Bundestagsdrucksache
16/4786). Die Verbände der Intersexuellen sprechen allerdings von einer deut-
lich höheren Zahl der Betroffenen.

Trotz dieser wissenschaftlichen Erkenntnisse ignoriert die deutsche Rechtsord-
nung die Existenz intersexueller Menschen, die sowohl juristisch als auch ge-
sellschaftlich ausgegrenzt bleiben.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung daher dazu auf,

● die Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum Personenstandsgesetz so zu än-
dern, dass ein Geschlechtseintrag in der Geburtsurkunde auch der Existenz
von intersexuellen Menschen Rechnung tragen kann;

● einen Gesetzentwurf vorzulegen, wonach die gesetzlichen Grundlagen für of-
fizielle statistische Erhebung so geändert werden, dass bei der Angabe „Ge-
schlecht“ nicht nur zwei Antworten möglich sind;
● sicherzustellen, dass das prophylaktische Entfernen und Verändern von Ge-
nitalorganen auch bei intersexuellen Kindern unterbleiben soll;

● gemeinsam mit den Ländern ein unabhängiges Beratungs- und Betreuungs-
angebot für betroffene Kinder, deren Eltern, betroffene Heranwachsende und
Erwachsene, zu schaffen und dabei die Beratungs- und Selbsthilfeeinrichtun-
gen der Betroffenenverbände einzubeziehen;

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● gemeinsam mit den Ländern eine Beratungsstelle für die Angehörigen der
beteiligten Gesundheitsberufe (Ärztinnen und Ärzte, Psychotherapeutinnen
und Psychotherapeuten, Hebammen etc.) zur medizinischen, psychologi-
schen und gesellschaftlichen Aufklärung über das Thema Intersexualität ein-
zurichten;

● den Dialog mit den zuständigen Bundes- und Landeskammern der Ärzte und
Psychotherapeuten sowie der Hebammenverbände aufzunehmen mit dem
Ziel, dass Curricula in Ausbildungs- und Prüfungsordnungen um das Thema
Intersexualität, in den ebenso Perspektive der intersexuellen Menschen vor-
kommt, zu ergänzen und es verstärkt im Rahmen von Fort- und Weiterbil-
dungsangeboten zu berücksichtigen;

● bei den Ländern darauf hinzuwirken, dass das Thema Intersexualität ein fes-
ter Bestandteil des Schulunterrichts, beispielsweise in den Fächern Biologie,
Sozialkunde oder Ethik wird;

● bei den Ländern darauf hinzuwirken, dass die Fristen für die Aufbewahrung
der Krankenakten bei Operationen im Genitalbereich auf 30 Jahre ab Volljäh-
rigkeit verlängert werden;

● weitere wissenschaftliche interdisziplinäre Forschungen zum Thema Inter-
sexualität mit einem interdisziplinären Ansatz und auch unter Beteiligung
von Kultur-, Gesellschaftswissenschaften wie der Betroffenenverbände zu
fördern.

Berlin, den 12. April 2011

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

Begründung

Intersexuelle Menschen, d. h. Menschen, bei denen geschlechtsdeterminierende
und geschlechtsdifferenzierende Merkmale des Körpers (zum Beispiel die Chro-
mosomen, Gene, Hormonhaushalt, Keimdrüsen, innere und äußere Geschlechts-
organe) nicht übereinstimmend dem männlichen oder weiblichen Geschlecht
entsprechen oder einem Geschlecht klar zugeordnet werden können, sind ein
gleichberechtigter Teil unserer vielfältigen Gesellschaft. In Deutschland werden
etwa 150 bis 340 Kinder pro Jahr geboren (eine von 4 500 bis 2 000 Geburten),
die als intersexuell klassifiziert werden können (Woweries, Frühe Kindheit,
0310, S. 18). Die Verbände der intersexuellen Menschen sprechen allerdings
von einer deutlich höheren Zahl der Betroffenen.

Die Existenz intersexueller Menschen wird in der Wissenschaft seit Jahren aner-
kannt und untersucht. So zum Beispiel wird seit 2003 im Rahmen des Förder-
schwerpunkts „Netzwerke für seltene Erkrankungen“ ein nationales Forschungs-
netzwerk zu „Störungen der somatosexuellen Differenzierung und Intersexuali-
tät“ mit insgesamt 3,4 Mio. Euro vom Bundesministerium für Bildung und
Forschung gefördert. Auch der Deutsche Ethikrat befasste sich mit dem Thema
und veranstaltete am 23. Juni 2010 im Rahmen der Vortragsreihe im Forum
Bioethik ein Expertengespräch.

Ebenso wird das Phänomen auf der politischen internationalen Ebene diskutiert,
da immer öfter intersexuelle Menschen sich zu Wort melden und gegen bis-
herige Praktiken der Behandlung intersexueller Menschen im Kindesalter

protestieren. Auf der Ebene der Vereinten Nationen ist das 2008/2009 bei der
Berichterstattung zum „Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Dis-

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/5528

kriminierung der Frauen“ (CEDAW) ins Licht der Öffentlichkeit gekommen,
nachdem ein Schattenbericht vom Verein „Intersexuelle Menschen e. V.“ zum
offiziellen CEDAW-Bericht der Bundesregierung Menschenrechtsverletzungen
an Intersexuellen dargestellt hatte. Ebenso wurde vor Kurzem vom Verein „In-
tersexuelle Menschen e. V.“ und der Selbsthilfegruppe „XY-Frauen“ ein Schat-
tenbericht zum Fünften offiziellen Staatenbericht der Bundesregierung an den
„UN-Ausschuss über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (CESCR)“
erstellt.

Trotz der biologischen und medizinischen Erkenntnisse wird Intersexualität im
deutschen Recht nur im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz berücksichtigt,
wobei sie lediglich im Begründungsteil zum Begriff „sexuelle Identität“ erwähnt
wird. Allerdings sah schon das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staa-
ten vom 5. Februar 1794 die Existenz von „Zwitter“ (§§ 19 bis 23) vor. Ebenso
hat das Bundesverfassungsgericht 1978 in seinem Transsexuellenbeschluss die
Abgrenzung zwischen Trans- und Intersexualität deutlich gemacht (BVerfGE
49, 286, 304).

Demgegenüber ignoriert das Personenstandsrecht diese Variante biologischer
Vielfalt. Zwar regelt § 21 des Personenstandsgesetzes die Aufnahme des Ge-
schlechts des Kindes in das Geburtenregister (§ 59 in die Geburtsurkunde), ohne
diese Angabe zu präzisieren. Die Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum Perso-
nenstandsrecht schreibt jedoch in Nummer 21.4.3 klar vor (und geht insoweit
über die vorher geltende Allgemeine Dienstanweisung für die Standesbeamten
und ihre Aufsichtsbehörden – DA hinaus): „Das Geschlecht des Kindes ist mit
‚weiblich‘ oder ‚männlich‘ einzutragen“. Die Geschlechter werden jedoch nicht
definiert. Bisherige Versuche, einen intersexueller Geburtskonstitution entspre-
chenden Eintrag zu erreichen, wurden gerichtlich in zwei Instanzen abschlägig
beschieden (Amtsgericht München, FamRZ 2002, 955 bis 957 und Landgericht
München I, FamRZ 2004, 269 bis 271). Diese Gesetzeslücke führt im Ergebnis
dazu, dass Hebammen bzw. Ärztinnen und Ärzte zu kontrafaktischen Eintragun-
gen gezwungen werden (Plett, Konstanze: Intersex und Menschenrechte. In:
Lohrenscheit, Claudia (Hg.) Sexuelle Selbstbestimmung als Menschenrecht.
Deutsches Institut für Menschenrechte. Nomos, 2009). Die Verfassungswidrig-
keit dieser Regelung wurde kürzlich in einer juristischen Dissertation nachge-
wiesen (Angela Kolbe, Intersexualität, Zweigeschlechtlichkeit und Verfassungs-
recht, 2010).

Ebenfalls bestehen bei offiziellen statistischen Erhebungen in der Rubrik „Ge-
schlecht“ nur zwei Möglichkeiten. Damit missachten die geltenden Statistik-
gesetze die geschlechtliche Identität der Intersexuellen, die sich weder dem
männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuordnen können, und zwingen
sie, ordnungswidrig falsche Auskünfte zu erteilen.

Darüber hinaus berichten intersexuelle Menschen, die in der Regel mehrfachen
Operationen insbesondere im Säuglings- und Kindesalter unterzogen wurden,
dass sie sich als Opfer von Verstümmelungen sehen und ihre Gefühle, Wut und
Hass sowie traumatische Erlebnisse noch Jahrzehnte lang und sehr intensiv er-
leben (Woweries, Frühe Kindheit, 0310, S. 20).

Auch wissenschaftliche Nachuntersuchungen zeigen ein bedrückendes Bild
(Schweizer, Katinka und Richter-Appelt, Hertha: Leben mit Intersexualität. Be-
handlungserfahrungen, Geschlechtsidentität und Lebensqualität Psychotherapie
im Dialog, 10. 2009(1): 19 bis 24). Weit über die Hälfte der an der sog. Hambur-
ger Studie Teilnehmenden zeigte klinisch relevanten Leidensdruck; 47 Prozent
hatten Suizidgedanken; 13,5 Prozent berichteten über zurückliegenden Selbst-
verletzungen. Ein großer Teil gibt eine asexuelle Orientierung an, welche auf
traumatisierende Operations- und Behandlungserfahrungen zurückgeführt wird,

durch die sie jedes sexuelle Interesse und die Fähigkeit, sich zu verlieben, ver-

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loren haben. Ebenfalls ist die Eltern-Kind-Beziehung hohen Bindungsbelastun-
gen ausgesetzt.

Eine andere 2008 durchgeführte klinische Evaluationsstudie im Netzwerk Inter-
sexualität ergab ebenfalls eine sehr hohe Unzufriedenheit der Betroffenen mit
den operativen und hormonellen Eingriffen (www.netzwerk-dsd.uk-sh.de). Vor
allem Erwachsene waren mit den massiven psychischen und physischen Folgen
der genitalen Operationen sehr unzufrieden. Bei 25 Prozent aller operierten
Studienteilnehmenden kam es zu Komplikationen. 28 Prozent aller Erwachse-
nen beklagten, dass es für sie schwierig ist, eine spezialisierte Behandlung der
nachfolgenden Probleme zu finden. Bei den untersuchten Erwachsenen haben
45 Prozent in der psychischen Gesundheit deutlich schlechtere Werte als eine
Vergleichsgruppe. Und auch die teilnehmenden Kinder geben Einschränkungen
in der Lebensqualität in fast allen Bereichen an. Daher sollte das prophylak-
tische Entfernen und verändern von Genitalorganen auch bei intersexuellen Kin-
dern unterbleiben und nur bei einer anerkannten medizinischen Indikation
durchgeführt werden.

Ebenso ist es dringend notwendig, ein unabhängiges Beratungs- und Betreuungs-
angebot für betroffene Kinder, derer Eltern, betroffene Heranwachsende und Er-
wachsene, einschließlich Unterstützung ihrer Beratungs- und Selbsthilfeeinrich-
tungen, zu schaffen.

Ferner beklagen intersexuelle Menschen, dass ihnen der Zugang zu Kranken-
akten verwehrt bleibt. Oft erfahren sie über an ihnen im Säuglings- und Kindes-
alter durchgeführten Operationen erst im Erwachsenalter, wenn die ganze medi-
zinische Dokumentation nicht mehr existiert. Deshalb ist es notwendig, eine
Sonderregelung zu schaffen, nach der die Fristen für die Aufbewahrung von
Krankenakten bei Operationen im Genitalbereich auf 30 Jahre ab Volljährigkeit
verlängert werden (vgl. Ethische Grundsätze und Empfehlungen bei DSD. –
Arbeitsgruppe Ethik im Netzwerk Intersexualität: „Besonderheiten der Ge-
schlechtsentwicklung“. Monatsschrift für Kinderheilkunde, 2008 (156), S. 245).

Schließlich soll das bisher tabuisierte Thema Intersexualität in Fort- und Weiter-
bildungsangeboten für die Angehörigen der beteiligten Gesundheitsberufe inte-
griert werden. Ebenfalls soll das Thema ein fester Bestandteil des Schulunter-
richts, beispielsweise in den Fächern Biologie, Sozialkunde oder Ethik sein, da
schon in der Schule Vorurteile entstehen und Stigmatisierung intersexueller
Menschen beginnt. Darüber hinaus soll es weiter möglichst interdisziplinär un-
ter Beteiligung von Kultur-, Gesellschaftswissenschaften wie der Betroffenen-
verbände erforscht werden, da Intersexualität kein rein medizinisches Phäno-
men ist, sondern die gesamte Gesellschaft dazu auffordert, sich mit dieser Form
der Vielfalt auseinanderzusetzen, anstatt intersexuelle Menschen durch die
Medizin in ein System starrer Zweigeschlechtlichkeit einzupassen.

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