BT-Drucksache 17/5377

Lehren aus dem Dioxin-Skandal ziehen - Ursachen bekämpfen

Vom 6. April 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/5377
17. Wahlperiode 06. 04. 2011

Antrag
der Abgeordneten Karin Binder, Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar Bartsch,
Herbert Behrens, Heidrun Bluhm, Steffen Bockhahn, Dr. Martina Bunge,
Roland Claus, Katrin Kunert, Caren Lay, Sabine Leidig, Michael Leutert,
Dr. Gesine Lötzsch, Thomas Lutze, Kornelia Möller, Jens Petermann,
Ingrid Remmers, Dr. Ilja Seifert, Kathrin Senger-Schäfer, Kersten Steinke,
Sabine Stüber, Alexander Süßmair, Kathrin Vogler, Harald Weinberg
und der Fraktion DIE LINKE.

Lehren aus dem Dioxin-Skandal ziehen – Ursachen bekämpfen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Der Dioxin-Skandal hat Anfang 2011 die Lebensmittel- und Futtermittel-
branche erschüttert und Überwachungslücken offengelegt. Dioxin und dioxin-
ähnliche PCB (polychlorierte Biphenyle) sind Umweltgifte, die über belastete
Futtermittel durch Fleisch, Ei oder Fisch in die menschliche Nahrungskette ge-
langen können. Dioxine werden lange Zeit im Körperfett gespeichert und kön-
nen sich dort anreichern. Auf den Menschen wirken sie krebserregend und
schwächen das Immunsystem.

Der Dioxin-Skandal ist kein Einzelfall, wie die Erfahrungen der letzten Jahre
zeigen. Vielmehr offenbart er ein durchgängiges Versagen in dem hoch sensi-
blen Wirtschaftsbereich der Lebensmittel- und Futtermittelerzeugung. Allein
2010 erließen die EU-Länder über das europaweite Schnellwarnsystem RASFF
(Rapid Alert System for Food and Feed) 387 Futtermittelwarnungen und Folge-
informationen, darunter allein zehn Dioxin-Warnungen. Mehr als 5 000 War-
nungen gingen im selben Jahr zu gefährlichen Lebensmitteln ein. Die Tendenz
der Lebensmittelwarnungen ist steigend. 2009 meldeten die EU-Staaten 12 Pro-
zent mehr gefährliche Lebensmittel und Futtermittel an das RASFF als 2008.
Die Dunkelziffer der nicht entdeckten Lebens- und Futtermittelskandale ist
aber ungleich höher. Gemeldet wird nur, was die Behörden bei ihren Stich-
proben entdecken.

Der Dioxin-Skandal wäre vermeidbar gewesen. Belastetes Industriefett konnte
über Monate gezielt in Futtermittel eingemischt werden. Laborergebnisse mit
Grenzwertüberschreitungen wurden verschleiert. Die Eigenkontrollen der
Betriebe und das privatwirtschaftliche Prüfsystem der „QS Qualität und Sicher-

heit GmbH“ haben bei der Dioxin-Panscherei nicht gegriffen. Die zunehmende
Eigenkontrolle der Betriebe bei gleichzeitigem Rückgang der verfügbaren
behördlichen Überwachungskapazitäten erweist sich als Mangel im System der
Lebensmittelkontrolle. Daher gehört das gesamte Kontrollsystem auf den Prüf-
stand. Die Futtermittel- und Lebensmittelkontrolle muss einheitlich und schlag-
kräftig durchgeführt und den Anforderungen an eine grenzüberschreitende
Lebensmittelproduktion gerecht werden.

Drucksache 17/5377 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Eine Ursache von Lebens- und Futtermittelgefährdungen ist der ruinöse Preis-
wettbewerb ohne ausgewogene soziale oder ökologische Regeln auf einem
weitgehend unkontrollierten Weltmarkt. Regionale Erzeugung hat kaum eine
Chance. Oft können selbst die Lebensmittelproduzenten ihre Zulieferkette vom
Acker bis zum Produkt nicht mehr lückenlos nachvollziehen. Weite Transport-
wege sind der Alltag. Jährlich werden ca. 7 Millionen Tonnen Futtermittel nach
Deutschland importiert. Das entspricht einer Quote von ca. 25 Prozent des
gesamten Futteraufkommens. Die Futtermittel sind die Grundlage der auf Kos-
tenminimierung angelegten Nutztierhaltung. Massenerzeugung und Dumping-
preise treten in den Vordergrund, Qualität und Verbraucherschutz bleiben auf
der Strecke. Lebensmittel werden zum Sicherheitsrisiko, wenn Niedriglöhne
und global gehandelte Billigrohstoffe den Ton angeben.

Die Verbraucherinnen und Verbraucher wurden spät und unvollständig über den
Dioxin-Skandal informiert. Wichtige Befunde privater Prüflabore erreichten die
Behörden nicht. Fleisch und Eier mit Dioxin-Belastung gelangten so unentdeckt
in die Verkaufsregale. Die Information der Verbraucherinnen und Verbraucher
über die gesundheitlichen Gefahren, die von Dioxin ausgehen, ist weiterhin
ungenügend. Verbraucherinnen und Verbraucher haben ein Recht darauf zu er-
fahren, wer die Verantwortlichen für Lebens- und Futtermittelskandale sind und
auf welche Ursachen die Lebensmittelbelastung zurückgeführt werden kann.

Der Aktionsplan „Verbraucherschutz in der Futtermittelkette“ der Bundesregie-
rung vom 14. Januar 2011 ist eine verspätete Reaktion auf die seit Jahren sich
häufenden Lebensmittelskandale. Der Aktionsplan ist außerdem unzureichend.
Er enthält keine klare Zielsetzung, die der ständigen Überprüfung hinsichtlich
ihrer Wirksamkeit unterliegt. Anspruch und Wirklichkeit klaffen weit auseinan-
der. Die Bundesregierung bekämpft im Aktionsplan einige Symptome, anstatt
sich mit den strukturellen Problemen der Landwirtschaft und Lebensmittelpro-
duktion auseinanderzusetzen. Wichtige Bereiche wie Forschungsprogramme
über die Gefahren der Einschleppung von Umweltgiften in die Lebensmittel-
kette und zur Entwicklung sicherer und schnellerer Nachweismethoden fehlen
ebenso wie eine systematische Überprüfung der globalen, europäischen und
nationalen Kontrollsysteme in der Lebens- und Futtermittelerzeugung. Das
Dioxin-Monitoring darf nicht nur Datensammlungs- und Berichtstechnik sein,
sondern erfordert besondere wissenschaftliche Theorie- und Forschungsansätze.
Gute Lebensmittel zu bezahlbaren Preisen erfordern klare gesetzliche Vorgaben.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

unverzüglich einen Gesetzentwurf vorzulegen, der die strukturellen Defizite in
der Lebensmittel- und Futtermittelkette beseitigt und künftig wirksam vor Ein-
trägen von Umweltverunreinigungen und chemischen Giften schützt. Dabei
muss die Erzeugung des Essens „vom Acker bis zum Teller“ jederzeit nachvoll-
zogen werden können und nach einheitlichen und strengen Regeln überwacht
werden. Hierfür ist erforderlich, dass

1. die Lebensmittel- und Futtermittelkontrolle systematisch zusammen mit den
Bundesländern überprüft und Defizite abgebaut werden. Dazu sind die

a) Eigenkontrollen der Futter- und Lebensmittelbetriebe zu verbessern:

● Betriebliche Zertifizierungssysteme sind entlang der gesamten Erzeu-
gungskette nach strengen gesetzlichen Vorgaben zu regeln und zu
überwachen. Sie müssen Erzeugungsformen und betriebswirtschaft-
liche Risiken erfassen und eine durchgängige Dokumentationspflicht
beinhalten. Die Daten sind den zuständigen Behörden hindernisfrei
zugänglich zu machen.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/5377

● Für jede Futtermittelcharge muss vor der Verarbeitung zu Mischfutter
ein Untersuchungsnachweis die Unbedenklichkeit belegen. Die lücken-
lose Dokumentationspflicht für die Verarbeitungsschritte ist dabei
durch eine behördlich kontrollierte Datenbank sicherzustellen.

● Für private Labore der Lebensmittelanalyse und Zertifizierer ist eine
Meldepflicht von Verdachtsfällen und Grenzwertüberschreitungen bei
für den Handel bestimmten Lebens- und Futtermitteln gegenüber den
Behörden einzuführen. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die Behör-
den auf Missstände in Betrieben hinweisen, erhalten nach dem Vorbild
von Großbritannien und den USA als „Whistleblower“ gesetzlichen
Schutz.

● Zulassungs-, Zertifizierungs- und Untersuchungskosten sowie behörd-
liche Kosten, die aufgrund der stärkeren Überwachung der betrieb-
lichen Eigenkontrollen zusätzlich entstehen werden, sind auf die Bran-
che der Futtermittel- und Lebensmittelindustrie umzulegen;

b) staatlichen Kontrollen zu stärken:

● Die behördliche Lebensmittelüberwachung muss die Wirksamkeit
betrieblicher Zertifizierungssysteme überwachen sowie Risiken und
Lücken in der Branche frühzeitig erkennen und schließen können.

● Der Bund soll die Zusammenarbeit der Länder besser fördern. Der
jeweils beste Standard eines Bundeslandes im Bereich der Lebensmit-
tel- und Futtermittelüberwachung ist deutschlandweit als Maßstab zu
vereinbaren.

● Die Behörden müssen im Verdachtsfall ungehinderten Zugang auf alle
Betriebsdaten erhalten, die die Erzeugungskette betreffen;

2. systemische Mängel in der Lebensmittel- und Futtermittelerzeugung beho-
ben werden. Dazu sind

● eine verpflichtende Positivliste bei Futtermitteln für Roh- und Zuschlags-
stoffe auf EU-Ebene einzufordern;

● Betriebe durchgängig nach Lebensmittelerzeugung und technischer Pro-
duktion zu trennen. Die Standorttrennung ist durch eine Dokumentations-
pflicht für die Warenströme nachzuweisen;

● alle tierischen Fette, die zur industriellen Verarbeitung verwendet wer-
den, am Herstellungsort durch Einfärbung kenntlich zu machen;

● regionale Erzeugerkreisläufe und betriebseigene Erzeugung von Futter-
mitteln – insbesondere von Eiweißpflanzen – durch ein Förderprogramm
des Bundes gezielt zu fördern. Das verkürzt die Lebensmittelkette, min-
dert die Eintragsrisiken und erleichtert die Nachvollziehbarkeit der Er-
zeugungskette;

● international verpflichtende soziale und ökologische Standards in der Le-
bensmittel- und Futtermittelerzeugung erforderlich;

3. die Verbraucherinformation verbessert und Informationsrechte gestärkt wer-
den. Die Herkunft der Zutaten in den Lebensmitteln sowie die Verarbei-
tungsbetriebe müssen auch für die Verbraucherinnen und Verbraucher nach-
vollziehbar sein. Daten der Behörden und Betriebe, wie Untersuchungs-
ergebnisse und Kennzahlen der Zertifizierung, sind kein Betriebsgeheimnis,
sondern eine wichtige Verbraucherinformation. Deshalb muss das Verbrau-
cherinformationsgesetz (VIG) verbessert werden:

● Die zuständigen Behörden sind zur aktiven Information über Produkte

bzw. Erzeugnisse und Hersteller zu verpflichten, wenn von diesen ein

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Risiko für die Gesundheit ausgeht bzw. hinreichende Anhaltspunkte für
eine Gesundheitsgefährdung vorliegen.

● Verbraucherinnen und Verbraucher müssen gegenüber Unternehmen ein
direktes Auskunftsrecht erhalten, beispielsweise zur gesamten Herstel-
lungs- und Lieferkette sowie über die Einhaltung von Umwelt- und So-
zialstandards.

● Mess- und Laborergebnisse der Lebensmittel- und Futtermittelüberwa-
chung stellen keine Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse dar und sind da-
her umgehend zu veröffentlichen.

● Verbraucherinformationen über belastete Lebensmittel und ihre Herstel-
ler sowie Hintergründe und Ursachen, wie im Dioxin-Skandal, sind ohne
Rücksprachepflicht mit betroffenen Unternehmen unverzüglich auf einer
Internetseite, z. B. www.lebensmittelwarnung.de, zu veröffentlichen;

4. die Bundesregierung die materiell-finanziellen Voraussetzungen für eine
systemübergreifende Forschung schafft, in der toxikologisch-chemische,
biologische und sozial-ökologische Fachkenntnisse, Empirie und transdiszi-
plinäres Kontextwissen zusammenfließen, und ein Forschungsprogramm
aufsetzt, das sich mit folgenden Fragen beschäftigt:

● Entwicklung sicherer und schneller Nachweismethoden für Dioxin-Ein-
träge in Futter- und Lebensmittel und wirksamer Überwachungsmetho-
den.

● Minderung der Gefahr der Einschleppung von Umweltgiften in die Le-
bensmittelkette durch gezielte Risikoforschung. Dazu soll ein ständiges
Überwachungsprogramm zur Erkennung und Bewertung von Umweltgif-
ten eingerichtet werden. Eine Zusammenführung mit der Risikofor-
schung der Krankheitserreger bei Tieren in einem Zentrum zur Tierseu-
chenbekämpfung ist dabei sinnvoll.

● Entwicklung eines wirksamen weltweiten Kontrollsystems im Lebens-
mittel- und Futtermittelhandel;

5. die Verfolgung und Ahndung von Lebensmittelkriminalität verbessert wird,
indem die Strafvorschriften im Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch für
die Strafverfolgungsbehörden handhabbarer gestaltet werden. Außerdem
sollte der Strafrahmen bei Verstößen gegen das Lebensmittel- und Futtermit-
telrecht angemessen erhöht werden;

6. für die vom Dioxin-Skandal betroffenen Landwirtschaftsbetriebe, die keine
Möglichkeit hatten, sich der Krise zu entziehen, unverzüglich Entschädi-
gungsleistungen zum Beispiel über die landwirtschaftliche Rentenbank zu
ermöglichen. Per Gesetz sollte für zukünftige Schadensfälle ein Ausgleichs-
fonds geschaffen werden, der von der Futtermittelindustrie über Abgaben
aus dem Handel mit Futtermittelchargen finanziert wird.

Berlin, den 6. April 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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