BT-Drucksache 17/3542

Erkenntnisse des Weltagrarberichtes zur Grundlage deutscher, europäischer und internationaler Agrar- und Entwicklungspolitik machen

Vom 27. Oktober 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/3542
17. Wahlperiode 27. 10. 2010

Antrag
der Abgeordneten Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar Bartsch, Jan van Aken,
Herbert Behrens, Karin Binder, Heidrun Bluhm, Steffen Bockhahn,
Christine Buchholz, Roland Claus, Wolfgang Gehrcke, Annette Groth, Harald Koch,
Katrin Kunert, Caren Lay, Sabine Leidig, Michael Leutert, Stefan Liebich,
Dr. Gesine Lötzsch, Thomas Lutze, Kornelia Möller, Thomas Nord, Jens Petermann,
Ingrid Remmers, Paul Schäfer (Köln), Dr. Ilja Seifert, Kersten Steinke, Sabine
Stüber, Alexander Süßmair, Katrin Werner und der Fraktion DIE LINKE.

Erkenntnisse des Weltagrarberichtes zur Grundlage deutscher, europäischer
und internationaler Agrar- und Entwicklungspolitik machen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Der Weltagrarbericht stellt umfassend die Auswirkungen von agrikulturellem
Wissen inklusive Wissenschaften und Technologien dar. Durch den Bericht wird
ein klares Signal gegeben: Ein einfaches „Weiter so“ ist keine Option. Der Welt-
agrarbericht fordert, den Hunger in den Ländern des Südens nicht mit Nahrungs-
mittellieferungen, sondern direkt vor Ort durch bessere Lebens- und Arbeits-
bedingungen für Kleinbäuerinnen und Kleinbauern zu bekämpfen. Die Klein-
bäuerinnen und Kleinbauern werden als das Rückgrat der Welternährung
gesehen – nicht die großen Betriebe des Nordens, deren Wirtschaften durch einen
hohen Verbrauch endlicher Ressourcen (Öl, Wasser, Boden, Dünger) geprägt ist.
Dabei geht es nicht allein um die Erträge, welche durch die Landwirtschaft pro-
duziert werden, sondern gleichrangig um die Verbesserung der Lebensbedin-
gungen der Bäuerinnen und Bauern. Sie müssen von ihrer Arbeit leben können.

Besonders bemerkenswert ist, dass bei der Erarbeitung des Weltagrarberichtes
nicht nur auf Agrarkultur und -wissenschaft zurückgegriffen, sondern auch tra-
diertes – nicht wissenschaftliches – Wissen berücksichtigt wurde. Alle Perspek-
tiven sollten einbezogen werden: aus armen und reichen Ländern, von Männern
und Frauen, von Theoretikerinnen und Theoretikern sowie Praktikerinnen und
Praktikern. Durch diese Vielfalt aus aller Welt und vieler Denkschulen ist im Er-
gebnis ein solider und ernst zu nehmender Bericht entstanden, welcher sich klar
von anderen Berichten, die sich oftmals nur auf die Aussagen weniger industrie-
naher Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler stützen, unterscheidet. Diese
Synergien vieler unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen ermöglichten

die Erarbeitung eines regionalen und zugleich globalen Prozesses.

Der Weltagrarbericht ist für die nationale und internationale Agrar- und Ent-
wicklungspolitik von großer Bedeutung. Er bietet vielfältige Handlungsmög-
lichkeiten für zukünftige Entwicklungen und zur Bekämpfung von Hunger und
Unterernährung. Herausgehoben wird die Bedeutung von Frauen in den länd-
lichen Räumen sowie von Kleinbäuerinnen und Kleinbauern zur Sicherung der
Ernährungssouveränität in den Ländern des Südens. Dazu ist der Zugang zu

Drucksache 17/3542 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Land, Wasser und Saatgut eine entscheidende Voraussetzung. Zur Steigerung
der Produktion sind sozial und ökologisch angepasste traditionelle Anbau-
methoden weiterzuentwickeln, anstatt auf Agrogentechnik und Plantagenwirt-
schaft zu setzen.

Der Weltagrarbericht wurde bisher von 58 Ländern unterschrieben; darunter be-
finden sich auch einige EU-Mitgliedstaaten. Drei Staaten (Australien, Kanada
und die USA) unterstützen große Teile des Berichtes und betonen dessen Wich-
tigkeit, können sich allerdings nicht mit den sehr kritischen Passagen zur Agro-
gentechnik identifizieren oder bevorzugen deutlich positivere Aussagen zu
liberalen Agrarmärkten. Die Bundesrepublik Deutschland hat den Weltagrar-
bericht bisher nicht unterschrieben.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

– den Weltagrarbericht schnellstmöglich zu unterschreiben und das agrar-
politische Leitbild daran sowohl im Inland als auch in allen entwicklungs-
politischen Projekten und Investitionen ausrichten,

– sich an der Fortführung des Weltagrarberichtes und der Finanzierung dieses
Prozesses zu beteiligen,

– die Ergebnisse des Weltagrarberichtes in die Debatte um die Zukunft der Ge-
meinsamen Europäischen Agrarpolitik (GAP) nach 2013 einzubeziehen und

– die Ausgestaltung der Gemeinschaftsaufgabe Agrarstruktur und Küsten-
schutz (GAK) und der staatlichen Entwicklungszusammenarbeit im Hinblick
auf die Ergebnisse des Weltagrarberichtes zu überprüfen.

Berlin, den 27. Oktober 2010

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Begründung

Das als Weltagrarbericht bezeichnete International Assessment of Agricultural
Knowledge, Science and Technology for Development (IAASTD) wurde im
Jahr 2002 von der Weltbank und der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisa-
tion der Vereinten Nationen (FAO) ins Leben gerufen. In einem weltweiten Pro-
zess wurden von 2004 bis 2008 über 500 Expertinnen und Experten in die Er-
arbeitung des Weltagrarberichtes einbezogen. Alle Disziplinen und Branchen
der Bereiche Landwirtschaft und Ernährung waren involviert. Neben den Agrar-
wissenschaften gab es somit Zuarbeiten aus der Soziologie, aus der (Agrar-)In-
dustrie, von Nichtregierungsorganisationen (NGOs), Verbraucherorganisationen
und Expertinnen und Experten des traditionellen Wissens. Letztendlich wurden
ein globaler und fünf regionale Berichte erarbeitet. Die regionalen Berichte um-
fassen die Regionen Ost- und Südasien und Pazifik (ESAP), Lateinamerika und
Karibik (LAC), Afrika südlich der Sahara (SSA), Zentral- und Westasien und
Nordafrika (CWANA) sowie Nordamerika und Europa (NAE). Finanziert
wurde die Erarbeitung des Weltagrarberichtes von der Global Environmental
Facility (GEF), der Weltbank, sowie einigen Regierungen. Frankreich und Groß-
britannien beteiligten sich im Gegensatz zur Bundesrepublik Deutschland an der
Finanzierung.

Der Weltklimabericht (Intergovernmental Panel on Climate Change IPCC) hat
bereits zum dritten Mal auf die Folgen eines völlig verfehlten Wirtschaftens und

dessen klimatisch verheerende Auswirkungen hingewiesen. Ähnlich wie sein

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/3542

berühmter klimapolitischer Vorgänger soll auch der Weltagrarbericht zu einer
neuen globalen Instanz für globale Ernährungsfragen werden.

Noch nie haben so viele Menschen auf der Welt gehungert wie heute. Etwa alle
3,5 Sekunden stirbt ein Mensch an den Folgen von Hunger und Unterernäh-
rung – das sind rund 25 000 Menschen am Tag, etwa zehn Millionen Menschen
pro Jahr. Gleichzeitig produziert die Landwirtschaft weltweit mehr Lebensmittel
pro Kopf als je zuvor. Nach Schätzungen der Welternährungsorganisation leiden
mehr als eine Milliarde Menschen an Hunger. Weitere zwei Milliarden Men-
schen sind fehlernährt – teils aus Mangel, teils durch ein Übermaß an Nahrung –
Tendenz steigend. 80 Prozent der hungernden Menschen leben auf dem Land.

In Europa gehören Hunger und Unterernährung für die meisten Menschen seit
langem der Vergangenheit an. Hierzulande ist die Frage der Welternährung in
den vergangenen Jahrzehnten zunehmend ins Hintertreffen geraten und erst
durch die Verknüpfung mit der Energiefrage wieder auf die politische Agenda
gerückt. Etliche Jahre wurde weder die Agrarforschung noch die nachhaltige
Entwicklung der ländlichen Regionen bedarfsgerecht finanziert. Landwirtschaft
wurde vordergründig als Wirtschaft und nur nachrangig als Lebensgrundlage
bewertet. Die Orientierung auf ressourcenintensive Landwirtschaft, welche von
Rohstoffzufuhren aus dem Süden abhängig ist und ihre Überschüsse in den
Süden exportiert, kann kaum Antworten auf die Fragen der Zukunft liefern.

Eine Übersicht über den Ist-Zustand von globaler Ernährung, ländlichen Räu-
men und Agrarwirtschaft bzw. -forschung ist seit langem überfällig. Nur so kann
den Herausforderungen der Zukunft – Hunger, Wassermangel, Verlust der Bio-
diversität, Klimawandel, Desertifikation, Bevölkerungswachstum – begegnet
und dem Menschenrecht auf Nahrung entsprochen werden. Gleichzeitig ist die
Frage zu beantworten, ob die industrialisierte Landwirtschaft der Länder des
Nordens eine zeitlos gültige Antwort auf die globale Ernährungsfrage und ver-
änderte Umweltbedingungen sein kann. Angesichts von nahezu einer Milliarde
Menschen, die unter Hunger und Unterernährung leiden, ist die Antwort auf sol-
che Fragen im wahrsten Sinne des Wortes lebenswichtig.

Der Grundzusammenhang menschlich-gesellschaftlichen Lebens ist im Laufe
der Industrialisierung der vergangenen 200 Jahre vielfach verloren gegangen.
Der Überfluss von endlichen Rohstoffen bei gleichzeitiger Ausblendung ihrer
Endlichkeit hat dazu geführt, dass jahrtausendealtes Wissen und Erfahrungen
verloren gingen. Die Erwartung, menschliche Ingenieurkunst und der technische
Fortschritt würden die Probleme der Zukunft auf jeden Fall lösen, war zu lange
eine angenehme Illusion. Seit einigen Jahren wird zunehmend klar, dass dieser
Weg viele Fragen aufwirft. Die Illusion scheint in eine düstere Sackgasse zu
führen. Um Licht ins Dunkel zu bringen, ist eine Bestandsanalyse notwendig.
Diese wurde nun in Form des Weltagrarberichtes vorgelegt.

Die Bundesrepublik Deutschland hat den Weltagrarbericht bisher nicht unter-
schrieben. Sie sieht im Weltagrarbericht zwar einen Beitrag zur Diskussion der
globalen Ernährungssicherung (Antwort der Bundesregierung auf die Schrift-
liche Frage 22 auf Bundestagsdrucksache 16/14081 des Abgeordneten Thilo
Hoppe im Jahr 2009) macht jedoch deutlich, dass sie den Bericht nicht unter-
zeichnen möchte, da es unterschiedliche Auffassungen über den Status des Be-
richtes gebe (Antwort der Bundesregierung auf die Schriftliche Frage 104 auf
Bundestagsdrucksache 16/12549 der Abgeordneten Dr. Kirsten Tackmann im
Jahr 2009). In der Fragestunde der Bundesregierung am 21. Februar 2009 wurde
die Unterzeichnung des Berichtes durch den Staatssekretär in der Beantwortung
einer Mündliche Frage der Abgeordneten Dr. Kirsten Tackmann (Bundestags-
drucksache 16/11612, Frage 3) sogar als „entbehrlich“ bezeichnet.

Die Bundesregierung scheint die Bedeutung des Weltagrarberichtes für ihre in-

ternationale Agrarpolitik und Entwicklungszusammenarbeit herunterzuspielen

Drucksache 17/3542 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
und seine Bedeutung für ihre nationale und europäische Agrarpolitik von sich zu
weisen. Die zentrale Botschaft des Weltagrarberichtes, dass ein einfaches „Wei-
ter so“ nicht möglich ist, muss jedoch zu einer Wende in der deutschen und
europäischen Agrar- und Entwicklungspolitik führen.

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