BT-Drucksache 17/258

Für eine solidarische und nachhaltige Finanzierung des Gesundheitswesens

Vom 16. Dezember 2009


Deutscher Bundestag Drucksache 17/258
17. Wahlperiode 16. 12. 2009

Antrag
der Abgeordneten Birgitt Bender, Maria Klein-Schmeink, Elisabeth Scharfenberg,
Dr. Harald Terpe, Kerstin Andreae, Volker Beck (Köln), Alexander Bonde, Katja
Dörner, Kai Gehring, Katrin Göring-Eckardt, Ingrid Hönlinger, Memet Kilic, Sven
Kindler, Markus Kurth, Jerzy Montag, Beate Müller-Gemmeke, Lisa Paus, Brigitte
Pothmer, Tabea Rößner, Krista Sager, Dr. Gerhard Schick, Josef Philip Winkler
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Für eine solidarische und nachhaltige Finanzierung des Gesundheitswesens

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die gesetzliche Krankenversicherung ist ein leistungsfähiges und in der Bevöl-
kerung breit akzeptiertes Sozialversicherungssystem. Ob bei Arbeitslosigkeit,
bei Familienarbeit, bei wechselhaften Berufskarrieren oder im Alter, die gesetz-
liche Krankenversicherung bietet Schutz in allen Lebenslagen. Sie bietet allen
Mitgliedern den gleichen Versicherungsschutz – unabhängig davon, wie viel
Beitrag sie eingezahlt haben. Der einkommensabhängige Solidarausgleich trifft
in der Bevölkerung auf hohe Zustimmung.

Die Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung erfolgt einseitig durch
Beiträge auf Löhne, Renten und Arbeitslosengeld. Dagegen bleiben Vermögens-
einkommen und Gewinne beitragsfrei. Das ist unsolidarisch, führt zu unnötig
hohen Beiträgen und gefährdet die Fähigkeit der Krankenversicherung, den
wachsenden Anforderungen durch den demografischen Wandel und den me-
dizinisch-technischen Fortschritt gewachsen zu sein.

Überdies können sich ausgerechnet die wirtschaftlich leistungsstärksten und im
Durchschnitt auch gesündesten Bevölkerungsgruppen dem Solidarausgleich
entziehen. Diese Zweiteilung des Krankenversicherungsmarktes in gesetzliche
und private Krankenvollversicherungen ist ungerecht.

Die Behebung von Gerechtigkeitslücken in der Krankenversicherung sollte
durch die Weiterentwicklung der gesetzlichen und der privaten Krankenversi-
cherung zu einer Bürgerversicherung erfolgen. Ziel ist es, Gerechtigkeit mit
nachhaltiger Finanzierung, Sozialstaatlichkeit mit Wettbewerb und Sicherheit
für alle mit mehr Wahlfreiheit zu verbinden.
II. Der Bundestag fordert daher die Bundesregierung auf,

noch vor der Sommerpause 2010 einen Gesetzentwurf zur schrittweisen Ein-
führung einer solidarischen und nachhaltigen Bürgerversicherung vorzulegen,
der sich an den folgenden Leitlinien orientiert:

1. Alle Bürgerinnen und Bürger – auch Beamtinnen und Beamte, Abgeordnete
und Selbstständige – werden Mitglieder der Bürgerversicherung. Die bisher

Drucksache 17/258 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

privat Versicherten werden ebenfalls in die Bürgerversicherung aufgenom-
men. Ihre zusätzlichen Leistungsansprüche, die sie über die private Kranken-
versicherung erworben haben, bleiben ihnen erhalten und werden über Zu-
satzversicherungen gewährleistet.

2. Die im Gesundheitsfonds verankerte politische Festlegung eines einheit-
lichen, nicht kostendeckenden Beitragsatzes durch die Bundesregierung wird
zurückgenommen. Die Erhebung von Zusatzbeiträgen, die insbesondere Per-
sonen mit geringen Einkommen überproportional belasten, entfällt. Den
Krankenkassen wird die Beitragssatzautonomie zurückgegeben. Die für den
Krankenversicherungsschutz notwendigen Ausgaben werden vollständig
über Beiträge, die sich über einen prozentualen Beitragssatz errechnen, getra-
gen. Der morbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich wird beibehalten. Die
willkürliche Begrenzung der zu berücksichtigenden Krankheiten wird auf-
gehoben, mögliche Fehlanreize auf die Prävention werden behoben und die
Gefahr von Manipulationen gesenkt.

3. Alle Einkunftsarten – auch Vermögenseinkommen, Gewinne und Mietein-
künfte – werden in die Finanzierung der Krankenversicherung einbezogen.
Damit durch die Heranziehung weiterer Einkommensarten nicht vor allem
kleine und mittlere Einkommensbezieherinnen und Einkommensbezieher be-
lastet werden, sind für die zusätzlichen Einkommensarten Freigrenzen einzu-
räumen und die Beitragsbemessungsgrenze anzuheben.

4. Die Beiträge auf Erwerbseinkommen aus abhängiger Beschäftigung werden
weiterhin paritätisch je zur Hälfte durch Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
mer sowie Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber finanziert.

5. Kinder werden kostenlos versichert. Ehegattinnen/Ehegatten bzw. Lebens-
partnerinnen/Lebenspartner, die nicht erwerbstätig sind, müssen keine Bei-
träge zahlen, wenn sie Kinder erziehen oder Pflegeleistungen erbringen. Für
alle anderen Ehepaare und eingetragenen Lebensgemeinschaften wird ein
Beitragssplitting eingeführt.

6. Die Bürgerversicherung deckt wie bisher die gesetzliche Krankenversiche-
rung die medizinisch notwendigen Leistungen ab. Qualität und Wirksam-
keit der Leistungen haben dabei dem allgemein anerkannten Stand der me-
dizinischen Erkenntnisse zu entsprechen und den medizinischen Fortschritt
zu berücksichtigen. Weitere Leistungen können über private Zusatzversi-
cherungen vereinbart werden.

7. Die Bürgerversicherung ist keine Einheitsversicherung. Versicherungen kon-
kurrieren innerhalb des gleichen Rechtsrahmens miteinander. Dies stärkt den
Wettbewerb für mehr Patientenorientierung, Qualität und Wirtschaftlichkeit.
Die Regeln, die für alle Krankenversicherungen gelten sollen, sind: Umlage-
finanzierung, einkommensbezogene Beiträge, Teilnahme am morbiditäts-
orientierten Risikostrukturausgleich, einheitlicher Leistungskatalog, Kontra-
hierungszwang, Diskriminierungsverbot, Sachleistungsprinzip. Die Bürger-
versicherung kann auch durch private Krankenversicherungsunternehmen
angeboten werden, die sich dabei dem Wettbewerb mit den gesetzlichen Kran-
kenkassen stellen müssen. Alle Bürgerinnen und Bürger können sich damit
frei zwischen allen gesetzlichen und privaten Kassen entscheiden.

Berlin, den 16. Dezember 2009

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/258

Begründung

Die vorgeschlagene Bürgerversicherung sorgt für mehr soziale Gerechtigkeit,
weil sie die Privilegierung der Beamtinnen und Beamten, von Selbstständigen
und Personen mit hohen Einkommen beendet und alle Bürgerinnen und Bürger
entsprechend ihrer finanziellen Leistungsfähigkeit einbezieht. Ziel ist eine
eigenständige, individuelle Absicherung aller Beitragspflichtigen.

Die vorgeschlagene Bürgerversicherung stärkt die Nachhaltigkeit der Finanzie-
rungsbasis der gesetzlichen Krankenversicherung, indem sie die Krankenversi-
cherung aus ihrer einseitigen Anbindung an die Einkommen aus abhängiger
Beschäftigung löst und mit Gewinn- und Vermögenseinkommen auch die Ein-
kommensarten heranzieht, deren Anteil am Sozialprodukt wächst.

Die vorgeschlagene Bürgerversicherung behält die paritätische Finanzierung
der Beiträge auf Erwerbseinkommen aus abhängiger Beschäftigung bei. Ein
Ausstieg aus der Mitverantwortung der Arbeitgeberseite wird abgelehnt. Somit
behalten Arbeitgeber ein eigenes Interesse an der Effizienz des Einsatzes der
Beitragsmittel. Die Parität hat außerdem eine starke gesellschaftliche Akzep-
tanz.

Die vorgeschlagene Bürgerversicherung ist familiengerecht, da sie die beitrags-
freie Mitversicherung von Kindern erhält und nicht erwerbstätige Ehegattinnen
und Ehegatten bzw. Lebenspartnerinnen und Lebenspartner, die Kinder erzie-
hen oder Pflegeleistungen erbringen, von Beiträgen freistellt.

Die vorgeschlagene Bürgerversicherung ist gegenüber den von Paaren gewählten
Arbeitsverteilungen neutral. Dies führt dazu, dass Paare mit gleichen Gesamt-
einkommen identische Beiträge zahlen und nicht wie bisher Paare mit einem Ge-
samteinkommen oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze und (sehr) ungleicher
Einkommensverteilung geringere Beiträge zahlen als Paare mit einer egalitären
Einkommensverteilung.

Die vorgeschlagene Bürgerversicherung sorgt für mehr Wettbewerb. Innerhalb
ihres solidarischen Rahmens konkurrieren alle Krankenversicherer – gesetz-
liche und private – unter einheitlichen Wettbewerbsbedingungen um die Ver-
sorgung aller Bürgerinnen und Bürger. Das ist gut für die Qualität, die Wirt-
schaftlichkeit und die Angebotsvielfalt in unserem Gesundheitswesen.

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