BT-Drucksache 17/12859

Grundrechte von intersexuellen Menschen wahren

Vom 20. März 2013


Deutscher Bundestag Drucksache 17/12859
17. Wahlperiode 20. 03. 2013

Antrag
der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Diana Golze, Jan Korte, Matthias W. Birkwald,
Dr. Martina Bunge, Heidrun Dittrich, Klaus Ernst, Nicole Gohlke, Dr. Rosemarie
Hein, Ulla Jelpke, Jutta Krellmann, Cornelia Möhring, Jens Petermann, Yvonne
Ploetz, Dr. Ilja Seifert, Kathrin Senger-Schäfer, Raju Sharma, Dr. Petra Sitte, Frank
Tempel, Kathrin Vogler, Halina Wawzyniak, Harald Weinberg, Katrin Werner, Jörn
Wunderlich, Sabine Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

Grundrechte von intersexuellen Menschen wahren

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Intersexuelle Menschen sollen als ein gleichberechtigter Teil unserer vielfälti-
gen Gesellschaft anerkannt und dürfen in ihren Menschen- und Bürgerrechten
nicht länger eingeschränkt werden. Als intersexuell werden Menschen bezeich-
net, bei denen Chromosomen und innere oder äußere Geschlechtsorgane nicht
übereinstimmend einem weiblichen oder männlichen Geschlecht zugeordnet
werden können oder die in sich uneindeutig sind. Wissenschaftlichen Studien
zufolge werden in Deutschland etwa 150 bis 340 Kinder pro Jahr geboren, de-
ren biologisches Geschlecht nicht eindeutig ist. Die Gesamtzahl der Menschen
mit „Varianten der Geschlechtsentwicklung“ (Schweizer Ethikrat, Stellung-
nahme der Nationalen Ethikkommission Humanmedizin 20/2012) liegt nach
Angaben der Bundesregierung bei etwa 8 000 bis 10 000 (Bundestagsdruck-
sache 16/4786). Die Verbände der Intersexuellen sprechen allerdings von einer
deutlich höheren Personenzahl.

Trotz dieser wissenschaftlichen Erkenntnisse bleiben intersexuelle Menschen
gesellschaftlich ausgegrenzt. Viele haben physisches und psychisches Leid
erfahren und erleben es noch heute. Im Besonderen wurden und werden inter-
sexuelle Menschen in ihrem Recht auf körperliche Unversehrtheit, auf Selbst-
bestimmung und Nichtdiskriminierung verletzt, weshalb sie in diesen Rechten
und ihrem Anspruch auf Anerkennung unterstützt und bestärkt werden müssen.

Im Jahr 2011 übergaben Interessenverbände intersexueller Menschen dem UN-
Ausschuss zur Überwachung des „Internationalen Überkommens zur Beseiti-
gung jeder Form von Diskriminierung von Frauen“ (CEDAW) einen „Schatten-
bericht“ zur Situation intersexueller Menschen in Deutschland. In der Folge
forderte das UN-Gremium die Bundesregierung auf, Maßnahmen zu ergreifen,

die den Schutz der Menschenrechte von intersexuellen Menschen in Deutsch-
land gewährleisten. Dies nahm die Bundesregierung zum Anlass, den Deut-
schen Ethikrat eine Stellungnahme erarbeiten zu lassen. In der umfassenden
Stellungnahme des Deutschen Ethikrates wird die Menschenrechtsverletzung
an intersexuellen Menschen deutlich benannt. Hierin heißt es unter anderem:
„Etliche Betroffene sind aufgrund der früher erfolgten medizinischen Eingriffe
so geschädigt, dass sie nicht in der Lage sind, einer normalen Erwerbstätigkeit

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nachzugehen, oder sie sind infolge der Eingriffe schwer behindert.“ (2012,
S. 165).

Der Deutsche Bundestag sieht und erkennt erlittenes Unrecht und Leid, das
intersexuellen Menschen widerfahren ist, an und bedauert dies zutiefst.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung daher dazu auf,

• sicherzustellen, dass geschlechtszuweisende und -anpassende Operationen an
minderjährigen intersexuellen Menschen vor deren Einwilligungsfähigkeit
grundsätzlich verboten werden. Dabei muss gewährleistet sein, dass eine
alleinige stellvertretende Einwilligung der Eltern in irreversible geschlechts-
zuweisende Operationen ihres minderjährigen Kindes – außer in lebens-
bedrohlichen Notfällen oder bei Vorliegen einer medizinischen Indikation –
nicht zulässig ist. Letztere muss von einem qualifizierten interdisziplinären
Kompetenzzentrum zur Diagnostik und Behandlung bestätigt werden;

• gemeinsam mit den Ländern, Kommunen sowie der Ärzteschaft sicherzustel-
len, dass intersexuelle Menschen stets in ein qualifiziertes interdisziplinäres
Kompetenzzentrum zur Diagnostik und Behandlung vermittelt werden;

• sicherzustellen, dass dem ausdrücklichen Wunsch intersexueller minderjäh-
riger Jugendlicher nach geschlechtszuweisenden und -anpassenden Opera-
tionen Rechnung getragen wird, unter der Voraussetzung der Einwilligungs-
fähigkeit. Im Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Ange-
legenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG) ist klarzustellen, dass
immer die Bestellung eines geeigneten Verfahrensbeistandes erforderlich ist,
auch wenn eine Übereinstimmung zwischen dem intersexuellen minderjäh-
rigen Kind und seinen gesetzlichen Vertretern hinsichtlich des Wunsches des
Kindes nach einer geschlechtszuweisenden Operation besteht. Darüber hin-
aus ist zu prüfen, welche weiteren bestehenden straf- und zivilrechtlichen
Regelungen entsprechend zu verändern sind, um den erklärten Willen des
intersexuellen Minderjährigen umzusetzen;

• dafür Sorge zu tragen, dass insbesondere bei jenen intersexuellen Menschen,
die in ihrer Kindheit ohne ihre Einwilligung operiert worden sind, die Kosten
für die daraus resultierende Hormonbehandlung sowie psychotherapeutische
Unterstützung von den Krankenkassen erstattet werden;

• einen Entschädigungsfonds einzurichten, der die in der Vergangenheit von
geschlechtsangleichenden Operationen Betroffenen finanziell unterstützt.
Dieser Fonds soll insbesondere jene Intersexuelle unterstützen, die keiner
normalen Erwerbstätigkeit nachgehen können, sowie jene, bei denen
Rechtsansprüche verjährt sind;

• gemeinsam mit den Ländern, den Kommunen, der Ärzteschaft und den Anti-
diskriminierungsstellen des Bundes und der Länder ein unabhängiges Bera-
tungs- und Betreuungsangebot für betroffene Kinder, deren Eltern, betroffene
Heranwachsende und Erwachsene zu schaffen und dabei die Beratungs- und
Selbsthilfeeinrichtungen der Betroffenenverbände einzubeziehen;

• einen Gesetzentwurf vorzulegen, der das Personenstandgesetz dahingehend
novelliert, dass sowohl Eltern von intersexuell geborenen Kindern als auch
intersexuelle Erwachsene durch die Schaffung einer weiteren Geschlechts-
kategorie die Möglichkeit erhalten, im Geburtenregister mit Wirkung für
alle Folgedokumente und mit Wirkung einer rechtlichen Gleichbehandlung,
dauerhaft weder eine Zuordnung zum männlichen noch zum weiblichen
Geschlecht vornehmen müssen. Diese neue Geschlechtskategorie ist ge-
meinsam mit den Betroffenenverbänden zu entwickeln;

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/12859

• dafür Sorge zu tragen, dass erwachsene intersexuelle Menschen eine verein-
fachte Änderungsmöglichkeit der Vornamen sowie der ursprünglich durch
ihre Eltern vorgenommenen Geschlechtskategorisierung erhalten, wenn
diese nicht mehr mit der eigenen Geschlechtsidentität übereinstimmt; dabei
muss ein effektives Offenbarungsverbot gewährleistet werden;

• im Zusammenspiel mit den Ländern die Standesämter entsprechend dem
Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 5. Dezember 2008 (1 BvR 576/07)
anzuweisen, dass auch geschlechtsneutrale Vornamen zu akzeptieren sind;

• sich für einheitliche ärztliche Leitlinien zur Intersexualität auf aktuellem
medizinisch wissenschaftlichem Erkenntnisstand einzusetzen, die sich auch
an den „Ethischen Empfehlungen und Grundsätzen bei DSD“ (Arbeitsgruppe
Ethik im Netzwerk Intersexualität „Besonderheiten der Geschlechtsentwick-
lung“ veröffentlicht in: Monatszeitschrift Kinderheilkunde, März 2008) ori-
entieren;

• gemeinsam mit den Ländern eine Beratungsstelle für die Angehörigen der
beteiligten Gesundheitsberufe (Ärztinnen und Ärzte, Psychotherapeutinnen
und Psychotherapeuten, Hebammen etc.) zur medizinischen, psychologi-
schen und gesellschaftlichen Aufklärung über das Thema Intersexualität ein-
zurichten;

• den Dialog mit den zuständigen Bundes- und Landeskammern, den Ärzten und
Psychotherapeuten sowie den Hebammenverbänden aufzunehmen, mit dem
Ziel, das Curricula in Ausbildungs- und Prüfungsordnungen um das Thema
Intersexualität, in dem auch die Perspektive der intersexuellen Menschen vor-
kommt, zu ergänzen und es verstärkt im Rahmen von Fort- und Weiterbil-
dungsangeboten zu berücksichtigen;

• bei den Ländern darauf hinzuwirken, dass das Thema Intersexualität ein
fester Bestandteil sowohl der Aus- und Weiterbildung von Erzieherinnen
und Erziehern in Kitas als auch von Lehrerinnen und Lehrern wird und so-
mit im Schulunterricht, beispielsweise in den Fächern Biologie, Sozialkunde
oder Ethik bzw. bereits während der frühkindlichen Bildung in Kindertages-
stätten ein angemessener Umgang mit Intersexualität und geschlechtlicher
Vielfalt vermittelt wird;

• im Zusammenspiel mit den Ländern, Kommunen und freien Trägern die
Fachkräfte in den Bereichen Verwaltung, Sport, Polizei und Justiz für die
Belange intersexueller Menschen stärker zu sensibilisieren;

• bei den Ländern darauf hinzuwirken, dass die Fristen für die Aufbewahrung
der Krankenakten bei Operationen im Genitalbereich auf mindestens 40 Jahre
ab Volljährigkeit verlängert werden und intersexuellen Menschen ein unge-
hinderter Zugang zu ihren Krankenakten gewährleistet wird;

• die Selbsthilfe von intersexuellen Menschen zu stärken;

• eine Forschungsstudie in Auftrag zu geben, die das an intersexuellen Men-
schen begangene Unrecht dokumentiert und dem Bundestag einen Bericht
bis zum 31. Dezember 2015 vorzulegen;

• weitere wissenschaftliche interdisziplinäre Forschungen zum Thema Inter-
sexualität mit einem interdisziplinären Ansatz unter Beteiligung von Kultur-
und Gesellschaftswissenschaften zu berücksichtigen sowie der Betroffenen-
verbände zu fördern.

Berlin, den 20. März 2013
Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Drucksache 17/12859 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Begründung

Intersexuelle Menschen, d. h. Menschen, bei denen geschlechtsdeterminierende
und geschlechtsdifferenzierende Merkmale des Körpers (zum Beispiel die
Chromosomen, Gene, Hormonhaushalt, Keimdrüsen, innere und äußere
Geschlechtsorgane) nicht übereinstimmend dem männlichen oder weiblichen
Geschlecht entsprechen oder einem Geschlecht klar zugeordnet werden können,
sind ein gleichberechtigter Teil unserer vielfältigen Gesellschaft. In Deutsch-
land werden etwa 150 bis 340 Kinder pro Jahr geboren (eine von 4 500 bis
2 000 Geburten), die als intersexuell klassifiziert werden können (Woweries,
Frühe Kindheit, 0310, S. 18). Die Verbände der intersexuellen Menschen
sprechen allerdings von einer deutlich höheren Zahl.

Intersexuelle Menschen, die in der Regel mehrfachen Operationen insbesondere
im Säuglings- und Kindesalter unterzogen wurden, berichten, dass sie sich als
Opfer von Verstümmelungen sehen und ihre Gefühle, Wut und Hass, sowie trau-
matische Erlebnisse noch Jahrzehnte lang und sehr intensiv erleben (Woweries,
Frühe Kindheit, 0310, S. 20).

Auch wissenschaftliche Nachuntersuchungen zeigen ein bedrückendes Bild
(Schweizer, Katinka und Richter-Appelt, Hertha: Leben mit Intersexualität. Be-
handlungserfahrungen, Geschlechtsidentität und Lebensqualität Psychotherapie
im Dialog, 10. 2009(1): 19 bis 24). Weit über die Hälfte der an der sog. Ham-
burger Studie Teilnehmenden zeigte klinisch relevanten Leidensdruck; 47 Pro-
zent hatte Suizidgedanken; 13,5 Prozent berichteten über zurückliegende
Selbstverletzungen. Ein großer Teil gibt eine asexuelle Orientierung an, welche
auf traumatisierende Operations- und Behandlungserfahrungen zurückgeführt
wird, durch die sie jedes sexuelle Interesse und die Fähigkeit, sich zu verlieben,
verloren haben. Ebenfalls ist die Eltern-Kind-Beziehung hohen Bindungs-
belastungen ausgesetzt.

Eine andere 2008 durchgeführte klinische Evaluationsstudie im Netzwerk
Intersexualität ergab ebenfalls eine sehr hohe Unzufriedenheit intersexueller
Menschen mit denen an ihnen vorgenommenen operativen und hormonellen
Eingriffen (www.netzwerk-dsd.uk-sh.de). Vor allem Erwachsene waren mit den
massiven psychischen und physischen Folgen der genitalen Operationen sehr
unzufrieden. Bei 25 Prozent aller operierten Studienteilnehmenden kam es zu
Komplikationen. 28 Prozent aller Erwachsenen beklagten, dass es für sie
schwierig ist, eine spezialisierte Behandlung der nachfolgenden Probleme zu
finden. Bei den untersuchten Erwachsenen haben 45 Prozent in der psychischen
Gesundheit deutlich schlechtere Werte als eine Vergleichsgruppe. Und auch die
teilnehmenden Kinder geben Einschränkungen in der Lebensqualität in fast
allen Bereichen an. Daher muss das prophylaktische Entfernen und Verändern
von Genitalorganen auch bei intersexuellen Kindern unterbleiben und darf nur
bei einer anerkannten medizinischen Indikation durchgeführt werden.

Die medizinisch notwendigen Maßnahmen zur Abwendung einer konkreten
schwerwiegenden Gefahr für die physische Gesundheit oder das Leben einer
intersexuellen Person sollen nur in einem qualifizierten interdisziplinären
Kompetenzzentrum vorgenommen werden. Alle intersexuellen Menschen sollen
in ein qualifiziertes interdisziplinäres Kompetenzzentrum zur Diagnostik und
Behandlung vermittelt werden.

Die Möglichkeit der Bestellung eines Verfahrensbeistands für Kinder und
Jugendliche soll auch für die Fälle geschaffen werden, in denen eine Überein-
stimmung zwischen dem ausdrücklichen Willen der Eltern und dem des/der
intersexuellen Minderjährigen über die Frage der Einwilligung in geschlechts-
zuweisende Operationen besteht, damit die Rechte von intersexuellen Kindern
und Jugendlichen gewahrt werden.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/12859

Darüber hinaus soll intersexuellen Menschen, die an Folgen der geschlechtszu-
weisenden Operationen leiden, die Kosten für die daraus resultierende
Hormonbehandlung sowie psychotherapeutische Unterstützung von den Kran-
kenkassen erstattet werden. Schließlich handelt es sich um Folgekosten eines
Eingriffes, der die Grundrechte der Betroffenen verletzt hat.

Ebenso ist es dringend notwendig, ein unabhängiges Beratungs- und Betreuungs-
angebot für betroffene Kinder, deren Eltern, betroffene Heranwachsende und
Erwachsene, einschließlich Unterstützung ihrer Beratungs- und Selbsthilfeein-
richtungen, zu schaffen.

Die Existenz intersexueller Menschen wird in der Wissenschaft seit Jahren an-
erkannt und untersucht. So wird zum Beispiel seit 2003 im Rahmen des Förder-
schwerpunkts „Netzwerke für seltene Erkrankungen“ ein nationales Forschungs-
netzwerk zu „Störungen der somatosexuellen Differenzierung und Intersexualität“
mit insgesamt 3,4 Mio. Euro vom Bundesministerium für Bildung und For-
schung gefördert.

Ebenso wird das Phänomen auf der politischen internationalen Ebene disku-
tiert, da immer öfter intersexuelle Menschen sich zu Wort melden und gegen
bisherige Praktiken der Behandlung intersexueller Menschen im Kindesalter
protestieren. Auf der Ebene der Vereinten Nationen ist das 2008/2009 bei der
Berichterstattung zum „Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Dis-
kriminierung der Frauen“ (CEDAW) ins Licht der Öffentlichkeit gekommen,
nachdem ein Schattenbericht vom Verein „Intersexuelle Menschen e. V.“ zum
offiziellen CEDAW-Bericht der Bundesregierung Menschenrechtsverletzungen
an Intersexuellen dargestellt hatte. Ebenso wurden vom Verein „Intersexuelle
Menschen e. V.“ und der Selbsthilfegruppe „XY-Frauen“ Schattenberichte beim
UN-Ausschuss über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (CESCR)
und beim UN-Antifolterausschuss (CAT) erstellt.

Schließlich hat sich der Deutsche Ethikrat im Auftrag der Bundesregierung mit
dem Thema befasst und am 23. Februar 2012 eine Stellungnahme zur Situation
intersexueller Menschen vorgestellt. Er ist der Auffassung, dass intersexuelle
Menschen als Teil gesellschaftlicher Vielfalt Respekt und Unterstützung der
Gesellschaft erfahren und vor medizinischen Fehlentwicklungen und Diskrimi-
nierung in der Gesellschaft geschützt werden müssen. Darüber hinaus hat er
18 Empfehlungen zur medizinischen Behandlung und vier zum Personen-
standsrecht formuliert. Die Letzteren wurden vom Bundesrat übernommen und
in einem Beschluss vom 6. Juni 2012 zum Personenstandsrecht-Änderungsge-
setz an die Bundesregierung zur Prüfung weitergeleitet (Bundesratsdrucksache
304/12).

Auch der Deutsche Bundestag beschäftigte sich mit dem Thema. Im Ausschuss
für Familien, Senioren, Frauen und Jugend fand am 25. Juni 2012 eine öffentliche
Anhörung statt, in der alle Sachverständigen die Menschenrechtsverletzungen an
intersexuellen Menschen thematisiert und das Parlament zum Handeln aufge-
fordert haben.

Mit dem vom Deutschen Bundestag am 31. Januar 2013 in zweiter und dritter
Lesung verabschiedeten Personenstandsrechts-Änderungsgesetz (Bundestags-
drucksache 17/10489) wurde im Rahmen eines Änderungsantrags der Koaliti-
onsfraktionen der CDU/CSU und FDP in § 22 neu geregelt, dass der Personen-
stand eines Kindes, das weder dem weiblichen noch dem männlichen Ge-
schlecht zugeordnet werden kann, ohne eine solche Angabe in das Geburtenre-
gister eingetragen werden kann. Dies stellt eine Verbesserung gegenüber dem
bisher geltenden Personenstandsrecht dar, das diese Variante biologischer Viel-
falt bisher ignorierte. Somit eröffnet die Gesetzesnovelle nun die Möglichkeit,
einen der intersexuellen Geburtskonstitution entsprechenden Eintrag vorzuneh-

men.

Drucksache 17/12859 – 6 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Ungeachtet dessen führt diese gesetzliche Regelung zu einer Fülle von noch
ungeklärten Folgewirkungen auf andere Rechtsgebiete, da die konkreten und
umfassenden Handlungsempfehlungen und Lösungsansätze des Deutschen
Ethikrates (Bundestagsdrucksache 17/9088) damit nur unzureichend umgesetzt
wurden. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung daher auf, die
getroffene Gesetzesänderung dahingehend zu präzisieren, um Rechtsicherheit
für intersexuelle Menschen zu gewährleisten.

Ferner beklagen intersexuelle Menschen, dass ihnen der Zugang zu ihren
Krankenakten verwehrt bleibt. Oft erfahren sie über die an ihnen im Säuglings-
und Kindesalter durchgeführten Operationen erst im Erwachsenalter, wenn die
ganze medizinische Dokumentation nicht mehr existiert. Deshalb ist es notwen-
dig, eine Sonderregelung zu schaffen, nach der die Fristen für die Aufbewahrung
von Krankenakten bei Operationen im Genitalbereich auf mindestens 40 Jahre
ab Volljährigkeit verlängert werden und ein ungehinderter Zugang zu ihren
Krankenakten gewährleistet wird (vgl. Ethische Grundsätze und Empfehlungen
bei DSD – Arbeitsgruppe Ethik im Netzwerk Intersexualität: „Besonderheiten
der Geschlechtsentwicklung“, in Monatsschrift für Kinderheilkunde, 2008
(156), S. 245).

Schließlich soll das bisher tabuisierte Thema Intersexualität in Fort- und Weiter-
bildungsangeboten für die Angehörigen der beteiligten Gesundheitsberufe inte-
griert werden. Ebenfalls soll das Thema ein fester Bestandteil des Schulunter-
richts, beispielsweise in den Fächern Biologie, Sozialkunde oder Ethik, als auch
bereits der frühkindlichen Bildung sein, da schon in der Kita Vorurteile entstehen
und Stigmatisierung intersexueller Menschen entgegengewirkt werden sollte.
Darüber hinaus soll es weiter möglichst interdisziplinär unter Beteiligung von
Kultur-, Gesellschaftswissenschaften wie der Betroffenenverbände erforscht
werden. Intersexualität ist kein rein medizinisches Phänomen, sondern fordert die
gesamte Gesellschaft dazu auf, geschlechtlicher Vielfalt als eine Variante mensch-
licher Geschlechtsentwicklung anzuerkennen, anstatt intersexuelle Menschen
durch die Medizin in ein System starrer Zweigeschlechtlichkeit einzupassen.

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