BT-Drucksache 17/12776

Aufarbeitung der Verbrechen in der Colonia Dignidad

Vom 13. März 2013


Deutscher Bundestag Drucksache 17/12776
17. Wahlperiode 13. 03. 2013

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Hans-Christian Ströbele, Tom Koenigs, Ingrid Hönlinger,
Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck (Köln), Agnes Brugger,
Viola von Cramon-Taubadel, Thilo Hoppe, Uwe Kekeritz, Katja Keul, Memet Kilic,
Ute Koczy, Monika Lazar, Kerstin Müller (Köln), Dr. Konstantin von Notz,
Omid Nouripour, Lisa Paus, Claudia Roth (Augsburg), Manuel Sarrazin, Dr. Frithjof
Schmidt, Josef Philip Winkler und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Aufarbeitung der Verbrechen in der Colonia Dignidad

Am 25. Januar 2013 verurteilte der Oberste Gerichtshof von Chile sechs Füh-
rungsmitglieder der ehemaligen deutschen Sektensiedlung Colonia Dignidad in
Südchile zu langjährigen Haftstrafen wegen des jahrzehntelangen systematischen
Missbrauchs von Kindern in der Siedlung. Unter den Verurteilten befindet sich
auch der ehemalige Arzt der Colonia Dignidad, Hartmut Hopp, gegen den in
Abwesenheit eine Freiheitsstrafe von fünf Jahren verhängt wurde. Hartmut Hopp
ist bereits im Jahr 2011 vor den chilenischen Behörden nach Deutschland geflo-
hen. Seit August 2011 läuft gegen ihn ein Ermittlungsverfahren bei der Staats-
anwaltschaft Krefeld (www.wz-newsline.de/lokales/krefeld/sektenarzt-in-chile-
rechtskraeftig-verurteilt-1.1220115; www.rp-online.de/niederrhein-sued/krefeld/
nachrichten/krefeld-chile-fordert-auslieferung-von-sektenarzt-hopp-1.2519380).

Die Sektenkolonie Colonia Dignidad wurde 1961 von dem deutschen Laien-
prediger Paul Schäfer, der im Jahr 2010 im chilenischen Gefängnis verstorben ist,
und einer Gruppe deutscher Familien, die ihm folgten, gegründet. Paul Schäfer
entzog sich damals mit seiner Auswanderung nach Chile einem Haftbefehl der
Staatsanwaltschaft Bonn gegen ihn wegen sexuellen Missbrauchs von Minder-
jährigen. In der Colonia Dignidad missbrauchte Paul Schäfer mit der Hilfe ande-
rer Führungsmitglieder der Sektenkolonie jahrzehntelang sowohl die Kinder von
Koloniebewohnern als auch Kinder chilenischer Familien aus der Umgebung.
Die rund 350 Bewohner der Colonia Dignidad waren schwersten Menschen-
rechtsverletzungen ausgesetzt. Außerdem kooperierte die Führungsriege der
Sekte während der chilenischen Militärdiktatur (1973 bis 1990) mit dem chileni-
schen Militär und dem chilenischen Geheimdienst DINA und war an der Folte-
rung und Ermordung von Regimegegnern sowie Waffengeschäften beteiligt
(www.taz.de/Sektensiedlung-Colognia-Dignidad/!109966/).

Obwohl das große Leid, das den Opfern der Colonia Dignidad widerfahren ist,

auch von der Bundesregierung anerkannt wurde, haben viele der Opfer bis heute
keine angemessene Entschädigungszahlungen erhalten. Ein im Jahr 2001 von
den Fraktionen SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP im Deutschen
Bundestag geforderter Entschädigungsfonds wurde bis heute nicht eingerichtet
(Bundestagsdrucksache 14/7444).

Das Auswärtige Amt finanziert auf dem ehemaligen Gelände der Colonia Digni-
dad, das sich heute Villa Baviera nennt, seit 2008 mit 150 000 bis 250 000 Euro

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pro Jahr psychiatrische, psychotherapeutische und seelsorgerische Maßnahmen
für die verbliebenen Bewohner der ehemaligen Sektensiedlung sowie ein Schul-
und Kindergartenprojekt. Der Großteil der Gelder wird jedoch für Beratungs-
und Infrastrukturprojekte aufgewendet, die der wirtschaftlichen Konsolidierung
der Villa Baviera dienen sollen. Vielen der deutschen Opfer der Colonia Digni-
dad, die das Gelände der heutigen Villa Baviera verlassen haben und häufig
unter prekären sozialen Bedingungen leben, ist bis heute keine Entschädigung
zugekommen. Auch die chilenischen Opfer der Colonia Dignidad warten bis
heute auf Entschädigungszahlungen. Darüber hinaus gibt es in der Villa Baviera,
die heute unter anderem Tourismus betreibt und sich den Anstrich einer
„bayerischen Idylle“ gibt, an keiner Stelle einen Hinweis auf das Schicksal der
Opfer der Colonia Dignidad, etwa in Form einer Gedenkstätte oder eines Mahn-
mals (www.dw.de/von-der-kolonie-würde-zum-bayerischen-dorf/a-15277076).

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Erkennt die Bundesregierung das Leid der deutschen und chilenischen Opfer
der Colonia Dignidad an?

2. Welchen Beitrag leistet die Bundesregierung zur Aufarbeitung der in der Co-
lonia Dignidad von Deutschen an Deutschen und Chilenen begangenen
schweren Menschenrechtsverletzungen, und welchen Beitrag plant sie in Zu-
kunft zu leisten?

3. Hat die Bundesregierung das Schreiben von Opfern, Angehörigenorganisa-
tionen und Gedenkstätten vom 4. Februar 2013 beantwortet, beziehungsweise
plant sie, dies zu tun?
Wenn nein, warum nicht?

4. Welche Schlussfolgerungen und Konsequenzen zieht die Bundesregierung
aus der in diesem Schreiben vorgebrachten Forderung nach einem Einge-
ständnis der Bundesregierung, dass sie trotz weitreichender Kenntnisse über
schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen in der Colonia Dignidad
keine ausreichenden Maßnahmen ergriffen hat, um diese zu verhindern?

5. Welche Schlussfolgerungen und Konsequenzen zieht die Bundesregierung
aus der in diesem Schreiben geforderte Unterstützung bei der Umsetzung von
Gedenk- und Erinnerungsmaßnahmen für die Opfer der Colonia Dignidad,
und plant sie, hierfür finanzielle Mittel zur Verfügung zu stellen?
Wenn ja, in welchem Umfang?

6. Wie bewertet die Bundesregierung die finanzielle Unterstützung der Firmen
der ehemaligen Colonia Dignidad durch Mittel des Auswärtigen Amts
(Bericht aus dem Auswärtigen Amt zum Haushaltsplan 2011, Einzelplan 05,
Kapitel 05 02, Titel 687 43 Villa Baviera), insbesondere in Anbetracht der
Tatsache, dass mehrere Mitglieder der Firmenleitungen – unter anderem
Günther Schaffrik und Wolfgang Müller Altevogt – am 25. Januar 2013 vom
Obersten Gerichtshof von Chile rechtskräftig verurteilt wurden?

7. Welche Schlussfolgerungen und Konsequenzen zieht die Bundesregierung
aus dem Vorschlag, die für die Firmen der ehemaligen Colonia Dignidad ein-
gesetzten Bundesmittel zugunsten von Erinnerungs- und Gedenkmaßnahmen
umzuwidmen?

8. Teilt die Bundesregierung die Auffassung der Fragesteller, dass die derzei-
tigen Maßnahmen des Auswärtigen Amts keine ausreichende Entschädigung
für die Opfer der Colonia Dignidad darstellen?

9. Können nach Ansicht der Bundesregierung aufgefundene Vermögenswerte

der Colonia Dignidad in Zukunft zur Entschädigung der Opfer der Sekte bei-
tragen?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/12776

10. Gab es seit der Flucht von Hartmut Hopp nach Deutschland im Mai 2011
Kontakte zwischen deutschen und chilenischen Stellen zum Thema Colonia
Dignidad?
Wenn ja, welche und mit welchem Inhalt?

11. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über den derzeitigen Stand
der Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Krefeld?

12. Hat die Bundesregierung Erkenntnisse darüber, ob der mit dem Verfahren
betraute Oberstaatsanwalt ausschließlich mit diesem Verfahren befasst ist?

13. Hat die Bundesregierung Erkenntnisse darüber, über wie viel Personal der
leitende Oberstaatsanwalt für die Bearbeitung des Verfahrens verfügt?
Wenn ja, wie viele Mitarbeiter sind mit dem Fall befasst
a) bei der Staatsanwaltschaft und
b) bei den Polizeibehörden?

14. Hat die Bundesregierung Erkenntnisse darüber, ob der Staatsanwaltschaft
Krefeld die Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft Bonn zur Verfügung
stehen?
Wenn ja, wurden diese nach Krefeld übersandt oder in Bonn gesichtet?

15. Sieht die Bundesregierung die Möglichkeit, das Urteil des chilenischen
Obersten Gerichtshofs gemäß des Gesetzes über die internationale Rechts-
hilfe in Strafsachen (IRG) vom 25. Januar 2013 gegen Hartmut Hopp in
Deutschland zu vollstrecken (bitte begründen)?

16. Welche Konsequenzen hat ein solches Vollstreckungsverfahren eines aus-
ländischen Urteils nach Kenntnis der Bundesregierung für die Fortführung
laufender Ermittlungsverfahren in Deutschland?

17. Ist der Bundesregierung bekannt, ob die vor einigen Jahren beschlossene
Ausweisungsverfügung der chilenischen Regierung für verurteilte Straf-
täter aus der Colonia Dignidad nach Deutschland heute noch Gültigkeit hat?
Wenn ja,
a) welche verurteilten Straftäter aus der Colonia Dignidad sind betroffen,
b) wann ist mit ihrer Ausweisung zu rechnen und
c) gilt diese Ausweisungsverfügung auch für die zu Bewährungsstrafen

verurteilten deutschen Staatsangehörigen?

18. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über die Entwicklung der Er-
mittlungen der Staatsanwaltschaft Bonn gegen verschiedene Führungsmit-
glieder der Colonia Dignidad, die 2010 nach 25 Jahren eingestellt wurden
(www.taz.de vom 29. Januar 2013 „Unterlassene Hilfeleistung“)?

19. Ist der Bundesregierung bekannt, mit welchen Begründungen die Verfahren
– neben dem Verweis auf § 170 Absatz 2 Strafprozessordnung – eingestellt
wurden?

20. Gab es nach Kenntnisstand der Bundesregierung Kontakte zwischen Bonner
Ermittlungsbehörden und dem Bundesnachrichtendienst im Zusammen-
hang mit diesen Verfahren?
Wenn ja, was war der Anlass, der Inhalt und die Zielsetzung dieser Kon-
takte?

21. Ist der Bundesregierung bekannt, ob in diesem Verfahren Mitarbeiter des
Bundesnachrichtendienstes als Zeugen angehört oder Quellen des Bundes-
nachrichtendienstes verwendet wurden?

Drucksache 17/12776 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
22. Ist der Bundesregierung bekannt, ob deutsche Justiz- und Sozialbehörden
die Vermögensverhältnisse von Hartmut Hopp und seiner Ehefrau ein-
gehend geprüft haben, und ob deutsche Behörden zu diesem Zweck auch
Anfragen an Behörden anderer Länder gerichtet haben?
Wenn ja, zu welchem Ergebnis kam die Überprüfung?

23. Ist nach den Erkenntnissen der Bundesregierung der Bezug von Sozialleis-
tungen durch Hartmut Hopp und seine Ehefrau (www.welt.de vom 22. Au-
gust 2011 „Flüchtiger Colonia-Dignidad-Arzt lebt nun in Krefeld“) gerecht-
fertigt?

24. Ist der Bundesregierung bekannt, ob Hartmut Hopp derzeit in Deutschland
als Arzt praktiziert?

25. Ist der Bundesregierung bekannt, ob angesichts der rechtskräftigen Ver-
urteilung von Hartmut Hopp in Chile seitens deutscher Behörden Schritte
unternommen wurden, um Hartmut Hopp die 1985 vom Bayerischen
Staatsministerium des Inneren erteilte Approbation als Arzt zu entziehen?

26. Ist der Bundesregierung bekannt, ob Hartmut Hopp einen Doktortitel führt?
Wenn ja,
a) an welcher Universität wurde der Doktortitel erworben und
b) was ist der Titel der Dissertationsschrift?

27. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über persönliche und finan-
zielle Verbindungen zwischen ehemaligen Mitgliedern der Colonia Digni-
dad und der „Freien Volksmission Krefeld“ beziehungsweise dessen Leiter
Ewald Frank?

28. Wie oft hat der Bundesnachrichtendienst der Bundesregierung über die Ver-
brechen in der Colonia Dignidad berichtet?

29. Hat die Bundesregierung Erkenntnisse darüber, wann der Bundesnachrich-
tendienst zum ersten Mal von Verbrechen in der Colonia Dignidad erfahren
hat, und wenn ja, welche?

30. Hat die Bundesregierung Erkenntnisse darüber, ob und wie oft Gerhard
Mertins dem Bundesnachrichtendienst über die Colonia Dignidad berichtet
hat?

31. Hat die Bundesregierung Erkenntnisse darüber, ob der im April 1990 in
der Colonia Dignidad festgenommene deutsche Staatsangehörige S. H. (El
Mercurio vom 30. April 1990, S. C 8, sowie Ercilla vom 9. März 1998,
S. 48 f.) ein Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes oder anderer deut-
scher Dienste war oder in ihrem Auftrag unterwegs war?

32. Hat die Bundesregierung Erkenntnisse darüber, wie viele laufende Meter
die Aktenbestände des Bundesnachrichtendienstes zur Colonia Dignidad
umfassen, und wann diese Forschern zur Einsicht freigegeben werden?

Berlin, den 13. März 2013

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

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