BT-Drucksache 17/12377

Einstieg in gute öffentlich geförderte Beschäftigung beginnen

Vom 19. Februar 2013


Deutscher Bundestag Drucksache 17/12377
17. Wahlperiode 19. 02. 2013

Antrag
der Abgeordneten Sabine Zimmermann, Jutta Krellmann, Dr. Axel Troost,
Diana Golze, Matthias W. Birkwald, Dr. Martina Bunge, Werner Dreibus,
Klaus Ernst, Katja Kipping, Cornelia Möhring, Kornelia Möller, Yvonne Ploetz,
Dr. Ilja Seifert, Kathrin Senger-Schäfer, Kathrin Vogler, Harald Weinberg,
Katrin Werner, Jörn Wunderlich und der Fraktion DIE LINKE.

Einstieg in gute öffentlich geförderte Beschäftigung beginnen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Noch immer kämpft Deutschland mit einer hohen Langzeiterwerbslosigkeit.
Ende 2012 gab es über eine Million Menschen, die länger als ein Jahr
arbeitslos waren. Ihre Zahl hat gegenüber dem Vorjahr um lediglich 12 000
oder 1 Prozent abgenommen. Auch die Organisation für wirtschaftliche Zu-
sammenarbeit und Entwicklung (OECD) kritisiert den ungewöhnlich hohen
Anteil von Langzeiterwerbslosen in Deutschland. Zehn Jahre nach der An-
kündigung der Agenda 2010 muss festgestellt werden: Es ist kaum gelungen,
Langzeiterwerbslose nachhaltig in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren.
Vom Grundsatz des „Förderns und Forderns“ ist fast nur das Fordern übrig
geblieben. Zumutbarkeitskriterien und Sanktionen wurden massiv ver-
schärft. Hochwertige arbeitsmarktpolitische Maßnahmen, die den Langzeit-
erwerbslosen neue berufliche Perspektiven eröffnen, wurden zusammenge-
strichen. Stattdessen wurde auf eine schnelle Vermittlung in Arbeit um fast
jeden Preis gesetzt.

2. Die Politik der derzeitigen Bundesregierung verschärft diese Entwicklung –
zuletzt durch die Einsparungen in der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungs-
förderung sowie durch die so genannte Reform der arbeitsmarktpolitischen
Instrumente. Etliche Angebote für Eingliederungs- und Qualifizierungsmaß-
nahmen wurden gestrichen und sind gegenwärtig weder quantitativ noch qua-
litativ ausreichend. Die Chancen von Langzeiterwerbslosen, einen existenz-
sichernden Arbeitsplatz zu besetzen, werden immer geringer.

3. Dies hängt nicht allein mit den geringen Qualifikationen zusammen. Es feh-
len ausreichend Arbeitsplätze auf dem ersten Arbeitsmarkt. Daran haben
weder Fachkräftemangel noch Subventionierungen der Wirtschaft durch
Lohnkostenzuschüsse etwas geändert. Darüber hinaus haben die Betroffenen

mit sehr unterschiedlichen individuellen Problemen zu kämpfen, die lapidar
als Vermittlungshemmnisse bezeichnet werden. Dies führt zu Diskriminie-
rungen am Arbeitsmarkt von denen z. B. Menschen mit Behinderung, ältere
Erwerbslose, alleinerziehende Frauen und Männer und Menschen mit Migra-
tionshintergrund betroffen sind.

Die Verfestigung der Langzeiterwerbslosigkeit bedeutet für die Betroffenen
und ihre Familien eine Verschärfung ihrer sozialen Lage. Langzeiterwerbs-

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lose haben in Deutschland unter allen Gruppen und im internationalen Ver-
gleich die höchste Armutsrisikoquote. Ihre Möglichkeiten zu gesellschaft-
licher Teilhabe sind massiv eingeschränkt. Altersarmut ist – besonders nach
der kompletten Streichung der Rentenbeiträge für Arbeitslosengeld-II-Be-
ziehende durch die schwarz-gelbe Bundesregierung – vorprogrammiert.

4. Um diese Entwicklung zu stoppen, ist ein Paradigmenwechsel in der Arbeits-
markt- und Beschäftigungspolitik nötig. Statt kurzfristiger, oftmals sinnloser
und ineffektiver Maßnahmen ist eine aktive und nachhaltige Beschäftigungs-
politik nötig. Es ist ein Mythos, dass Langzeiterwerbslose, deren großer Teil
in Hartz IV gefangen ist, nicht in der Lage seien, in regulären Jobs zu arbei-
ten. Erst kürzlich präsentierte die Bundesagentur für Arbeit Ergebnisse einer
Arbeitgeberumfrage, wonach neu eingestellte, vormalige Hartz-IV-Empfän-
ger mehrheitlich als pünktlich, teamfähig, flexibel, zuverlässig, motiviert
und auch qualifiziert eingeschätzt werden. Es fehlt schlicht an Arbeitsplät-
zen. Um diesem immensen Problem zu begegnen, ist ein breites Bündel von
Maßnahmen notwendig, das sowohl die Schaffung guter regulärer Arbeits-
plätze in Wirtschaft und im öffentlichen Dienst umfasst als auch den Einstieg
in gute öffentlich geförderte Beschäftigung.

5. Durch den öffentlich geförderten Beschäftigungssektor (ÖBS) können zu-
sätzliche Arbeitsplätze entstehen, die Erwerbslosen eine berufliche Perspek-
tive eröffnen. Gleichzeitig kann damit die Zivilgesellschaft gestärkt und ge-
sellschaftlich sinnvolle Arbeit organisiert werden – wie es zum Beispiel in
Berlin bei Stadtteilzentren, Vereinen, Initiativen und Netzwerken sozialer,
kultureller, ökologischer und partizipativer Projekte erprobt wurde. Dieser
Sektor braucht eine dauerhafte und zuverlässige Finanzierung.

6. Notwendig ist eine neue Qualität bei der öffentlich geförderten Beschäfti-
gung. Die Entlohnung in der öffentlich geförderten Beschäftigung sollte auf
tariflicher Basis erfolgen und darf einen Stundenlohn von 10 Euro nicht
unterschreiten. Im Rahmen von öffentlich geförderter Beschäftigung sind
nur existenzsichernde Arbeitsverhältnisse mit einem Arbeitnehmer-Brutto-
gehalt von mindestens 1 500 Euro pro Beschäftigten pro Monat zu finanzie-
ren (entspricht einer 35-Stunden-Woche bei 10 Euro Stundenlohn). Der Ab-
bau von regulären Arbeitsplätzen ist auszuschließen. Letzteres wird darüber
gewährleistet, dass regionale Beiräte, in denen auch die Tarifparteien vertre-
ten sind, entscheiden, ob die Arbeitsplätze zusätzlich sind und im öffent-
lichen Interesse liegen.

7. Unter den gesellschaftlichen Akteuren wie Sozialverbänden und Gewerk-
schaften besteht weitgehend Übereinstimmung, öffentlich geförderte Be-
schäftigung grundsätzlich über einen sogenannten Aktiv-Passiv-Transfer zu
finanzieren. Das bedeutet, dass es möglich werden muss, die Mittel, die bis-
her zur Finanzierung von Erwerbslosigkeit genutzt wurden, zu bündeln.
Dazu zählen das Arbeitslosengeld II, die Kosten der Unterkunft sowie die
entsprechenden Sozialversicherungsbeiträge. Diese Gelder der so genannten
passiven Arbeitsmarktpolitik müssen in Mittel für aktive Arbeitsmarktmaß-
nahmen umgewandelt werden können. Diese derzeit bundesweit durch-
schnittlich monatlich ca. 800 Euro müssen mit weiteren Mitteln aus Titeln
der aktiven Arbeitsmarktpolitik auf 1 200 Euro ÖBS-Zuschuss pro Monat
und ÖBS-Beschäftigten aufgestockt werden. Damit ist die Grundfinanzie-
rung gegeben. Um existenzsichernde Arbeitsplätze zu schaffen, bedarf es
jedoch weiterer Mittel. Länder und Kommunen, die von den neuen Arbeits-
plätzen profitieren, sollen sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten genauso be-
teiligen wie gemeinnützige Unternehmen, die als Träger öffentlich geförder-
ter Beschäftigung aktiv sind. Finanzierungen durch Mittel des Europäischen

Sozialfonds müssen auf Landesebene möglich sein. Statt Arbeitslosigkeit
kann so dauerhaft Arbeit finanziert werden.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/12377

8. Erfahrungen bei der Umsetzung eines funktionierenden öffentlich geförder-
ten Beschäftigungssektors liegen in den Ländern Mecklenburg-Vorpommern
und Berlin vor. Die wissenschaftlichen Evaluierungen sind bekannt und
können bei der Vorbereitung gesetzlicher Bestimmungen für dauerhaft
öffentlich geförderte Beschäftigung sofort genutzt werden, sodass sich Pilot-
projekte erübrigen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

ein Konzept, gesetzliche Grundlagen und einen langfristigen Finanzierungsplan
für die Einführung eines dauerhaften öffentlich finanzierten Beschäftigungs-
sektors vorzubereiten, damit dieser ab dem 1. Juli 2013 in allen Bundesländern
aufgebaut werden kann.

• Beim ÖBS müssen die Arbeitsverhältnisse zusätzlich sein und im öffent-
lichen Interesse liegen. Darüber hinaus müssen sie voll sozialversicherungs-
pflichtig sein und entsprechend den geltenden Tarifverträgen entlohnt wer-
den. Ein Stundenlohn von weniger als 10 Euro brutto ist für unzulässig zu
erklären. Es darf durch den ÖBS zu keinen Arbeitsplatzreduzierungen kom-
men.

• Bei dem Konzept der Finanzierung sind die zuvor in den Nummern 6 und 7
dargestellten Anforderungen zugrunde zu legen.

• Die wissenschaftliche Evaluierung der bis zum Jahr 2014 erreichten Ergeb-
nisse und Erfahrungen dauerhaft öffentlich finanzierter Beschäftigung mit
Schlussfolgerungen ist für die kommenden Jahre in Auftrag zu geben.

Darüber hinaus sind die folgenden Aspekte zu berücksichtigen:

• Öffentlich geförderte Beschäftigung muss sich am konkreten Einzelfall der
Erwerbslosen sowie an den regionalen Gegebenheiten orientieren. Die Ein-
gliederung beruht auf dem Prinzip der Freiwilligkeit.

• Die Organisation öffentlich geförderter Beschäftigung erfolgt in Zusammen-
arbeit der Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende mit den örtlichen
Arbeitsmarktakteuren. Dazu werden regionale Beiräte für öffentlich geför-
derte Beschäftigung gebildet, in denen auch die zuständigen Gewerkschaf-
ten, Erwerbsloseninitiativen, Behindertenbeauftragten sowie Verbände und
Kammern der Unternehmen mitwirken. Die regionalen Beiräte entscheiden
mit über Größenordnung und Einsatzfelder der öffentlich geförderten Be-
schäftigung. Die Bundesagentur für Arbeit unterstützt die regionalen Beiräte,
in denen ihre Vertreter mitarbeiten, durch die Analyse und Verallgemeine-
rung von Erfahrungen und Beispielen. Zur Organisation öffentlich geförder-
ter Beschäftigung sind klare und eindeutige gesetzliche Regelungen zu er-
arbeiten, die die Erfahrungen bei der Herstellung von Öffentlichkeit,
Transparenz und demokratischer Mitwirkung bei Organisation, Koordinie-
rung sowie Kontrolle in bisher durchgeführten Modellprojekten zu öffentlich
geförderter Beschäftigung berücksichtigen. Um eine funktionierende Arbeit
der regionalen Beiräte zu gewährleisten, ist eine ausreichende Finanzierung
ihrer Arbeit sicherzustellen.

• Die konkreten Einsatzfelder des ÖBS werden im Zusammenwirken der
Arbeitsagenturen und kommunalen Trägern bzw. ihren Jobcenter mit den
regionalen Beiräten bestimmt.

• Die Bewilligung der Beschäftigungsverhältnisse erfolgt zeitlich begrenzt für
drei bis fünf Jahre, um auf Veränderungen des Arbeitsmarktes reagieren zu
können. Sie soll bei älteren Personen den nahtlosen Übergang in die Rente
sichern.

Drucksache 17/12377 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
• Notwendige ggf. begleitende Qualifizierungsmaßnahmen sollen dazu beitra-
gen, die Übereinstimmung zwischen Arbeitsplatzanforderungen und persön-
lichen Arbeitsplatzvoraussetzungen herzustellen bzw. beständig aufrechtzu-
erhalten sowie Perspektiven für einen Wechsel in den ersten Arbeitsmarkt zu
eröffnen. Wo nötig, soll auch passgenaue individuelle, familiäre und psycho-
soziale Unterstützung zur Bewältigung sozialer Problemlagen gewährt wer-
den.

• Träger öffentlich geförderter Beschäftigung können die klassischen Träger
von arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen, Vereine, Stadtteilzentren als auch
gemeinnützige Unternehmen, die geeignet sind, die Fördervoraussetzungen
der Zusätzlichkeit und des öffentlichen Interesses der Tätigkeiten sicherzu-
stellen, sein. Private Gewinnaneignung im Rahmen öffentlich geförderter
Beschäftigung muss ausgeschlossen werden.

Berlin, den 19. Februar 2013

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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