BT-Drucksache 17/1168

Keine Vorratsdatenspeicherungen über den Umweg Europa

Vom 24. März 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/1168
17. Wahlperiode 24. 03. 2010

Antrag
der Abgeordneten Dr. Konstantin von Notz, Wolfgang Wieland, Jerzy Montag,
Ingrid Hönlinger, Volker Beck (Köln), Marieluise Beck (Bremen), Alexander Bonde,
Ekin Deligöz, Kai Gehring, Priska Hinz (Herborn), Ulrike Höfken, Katja Keul, Memet
Kilic, Tom Koenigs, Agnes Krumwiede, Monika Lazar, Tabea Rößner, Claudia Roth
(Augsburg), Manuel Sarrazin, Dr. Frithjof Schmidt, Hans-Christian Ströbele,
Josef Philip Winkler und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Keine Vorratsdatenspeicherungen über den Umweg Europa

Der Bundestag wolle beschließen:

Der Deutsche Bundestag nimmt unter Hinweis auf Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes (GG) wie folgt Stellung:

1. Die Bundesregierung möge auf der europäischen Ebene Vorhaben, die Vor-
ratsdatenspeicherungen vorsehen, energisch und unter Hinweis auf die Ent-
scheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 2. März 2010 (1 BvR 586/08)
entgegentreten.

2. Die Bundesregierung möge auf europäischer Ebene auf eine vollständige
Aufhebung der Richtlinie 2006/24/EG (betreffend Vorratsdatenspeicherung
im Telekommunikationsbereich) hinwirken.

Berlin, den 23. März 2010

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

Begründung

Die anlasslose, massenhafte Speicherung individueller Daten ist ein tiefer Ein-
griff in die Privatsphäre aller Bürgerinnen und Bürger. Diese Vorratsdatenspei-
cherung stellt Bürgerinnen und Bürger unter einen unzulässigen Generalver-
dacht und birgt selbst Risiken des Datenmissbrauchs. Der Bundestag hatte
deswegen bereits im Jahr 2004 (vgl. Bundestagsdrucksache 15/4597, Nr. 8)

deutlich seine Ablehnung der Vorratsdatenspeicherung erklärt. Dennoch hat die
Bundesregierung aus CDU, CSU und SPD im März 2006 die europäische Richt-
linie zur Vorratsdatenspeicherung mitgetragen und im November 2007 das ent-
sprechende Umsetzungsgesetz mit der Mehrheit der großen Koalition im Bun-
destag verabschiedet.

Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung vom 2. März 2010
über Beschwerden gegen dieses Gesetz festgestellt:

Drucksache 17/1168 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

„Dass die Freiheitswahrnehmung der Bürger nicht total erfasst und registriert
werden darf, gehört zur verfassungsrechtlichen Identität der Bundesrepublik
Deutschland (vgl. zum grundgesetzlichen Identitätsvorbehalt BVerfG, Urteil
des Zweiten Senats vom 30. Juni 2009 – 2 BvE 2/08 u. a. –, juris, Rn. 240), für
deren Wahrung sich die Bundesrepublik in europäischen und internationalen
Zusammenhängen einsetzen muss. Durch eine vorsorgliche Speicherung der
Telekommunikationsverkehrsdaten wird der Spielraum für weitere anlasslose
Datensammlungen auch über den Weg der Europäischen Union erheblich ge-
ringer.“

Das Verfassungsgericht hat damit aufgezeigt, dass auch auf europäischer Ebene
nicht weiter eine Strategie verfolgt werden darf, die schrittweise „auf möglichst
flächendeckende vorsorgliche Speicherung aller für die Strafverfolgung oder
Gefahrprävention nützlichen Daten“ zielt. Genau diesen Weg aber droht die
Europäische Union zu beschreiten. Bereits jetzt werden weitere Vorratsdaten-
speicherungen diskutiert. So gibt es etwa Bestrebungen, Verpflichtungen zur
jahrelangen Speicherung von Fluggastdaten vorzusehen. Dass derartige Rege-
lungen die Grundlagen unserer freien Gesellschaft untergraben, hat das Bun-
desverfassungsgericht eindrücklich dargelegt. Die Speicherung sei geeignet,
„ein diffus bedrohliches Gefühl des Beobachtetseins hervorzurufen“, und
könne „eine unbefangene Wahrnehmung der Grundrechte in vielen Bereichen
beeinträchtigen“.

Bisher hat es keine gerichtliche Überprüfung der Richtlinie am Maßstab der
Grundrechte des Unionsrechts gegeben. Der Europäische Gerichtshof hat ledig-
lich die Wahl der Rechtsgrundlage überprüft (vgl. EuGH, Rs. C-301/06). Ver-
fassungsgerichte in Rumänien und Bulgarien hatten ebenfalls Umsetzungs-
gesetze der Richtlinie für verfassungswidrig erklärt. Zahlreiche europäische
Regierungen wie Irland, Österreich, Belgien, Schweden, Luxemburg und Grie-
chenland sehen die Richtlinie kritisch und weigern sich bislang, diese umzu-
setzen.

Die Bundesministerin der Justiz hat bereits deutlich gemacht, dass durch den
Verzicht auf die Vorratsdatenspeicherung keine Sicherheitslücke entsteht
(FOCUS Online, 3. März 2010). Sie hat aus dem Urteil auch die Pflicht der
Bundesregierung abgleitet, sich auch auf europäischer Ebene für die Freiheits-
rechte der Bürgerinnen und Bürger einzusetzen (Pressemitteilung des Bundes-
ministeriums der Justiz vom 2. März 2010). Dieser Pflicht genügt die Bundes-
regierung nur, wenn sie alle derartigen europäischen Vorhaben strikt ablehnt.
Dabei wird die Bundesregierung – für den Fall, dass sie überstimmt zu werden
droht – darauf hinzuweisen haben, dass derartige Rechtsakte für Deutschland
möglicherweise keine Bindungskraft entfalten könnten.

Darüber hinaus wäre die Aufhebung der Richtlinie 2006/24/EG die bürger-
rechtliche Konsequenz aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Einzig
die Aufhebung der Richtlinie sichert vollständig den Schutz der Grundrechte.
Dass nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts „ausnahmsweise“ eine
Vorratsdatenspeicherung unter engen gesetzlichen Vorgaben zulässig sein kann,
darf kein Grund sein, an ihr festzuhalten, da die negativen Folgen auch dann
unabsehbar sind. Das Gericht hat sie wie folgt beschrieben: „Allerdings handelt
es sich bei einer solchen Speicherung um einen besonders schweren Eingriff
mit einer Streubreite, wie sie die Rechtsordnung bisher nicht kennt: Erfasst
werden über den gesamten Zeitraum von sechs Monaten praktisch sämtliche
Telekommunikationsverkehrsdaten aller Bürger ohne Anknüpfung an ein zu-
rechenbar vorwerfbares Verhalten, eine – auch nur abstrakte – Gefährlichkeit
oder sonst eine qualifizierte Situation. Die Speicherung bezieht sich dabei auf
Alltagshandeln, das im täglichen Miteinander elementar und für die Teilnahme

am sozialen Leben in der modernen Welt nicht mehr verzichtbar ist […] Adres-
saten (deren Zugehörigkeit zu bestimmten Berufsgruppen, Institutionen oder

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/1168

Interessenverbänden oder die von ihnen angebotenen Leistungen), Daten, Uhr-
zeit und Ort von Telefongesprächen erlauben, wenn sie über einen längeren
Zeitraum beobachtet werden, in ihrer Kombination detaillierte Aussagen zu ge-
sellschaftlichen oder politischen Zugehörigkeiten sowie persönlichen Vorlie-
ben, Neigungen und Schwächen derjenigen, deren Verbindungsdaten ausge-
wertet werden. Einen Vertraulichkeitsschutz gibt es insoweit nicht.“

Der europäische Gesetzgeber sollte diese grundlegenden Erkenntnisse zum An-
lass nehmen, auf jegliche Erhebung von Vorratsdaten zu verzichten. Die Euro-
päische Kommission hat bereits angekündigt, die Richtlinie zu überprüfen. Es
ist nun Aufgabe der Bundesregierung, im Rahmen dieses Überprüfungsprozes-
ses auf eine Aufhebung der Richtlinie hinzuwirken.

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