BT-Drucksache 17/1146

Kommunales Wahlrecht für Drittstaatenangehörige einführen

Vom 23. März 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/1146
17. Wahlperiode 23. 03. 2010

Antrag
der Abgeordneten Sevim Dag˘delen, Matthias W. Birkwald, Andrej Hunko,
Ulla Jelpke, Ulla Lötzer, Ingrid Remmers, Kathrin Vogler, Sahra Wagenknecht,
Katrin Kunert, Jan Korte, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, Karin Binder,
Heidrun Bluhm, Steffen Bockhahn, Roland Claus, Sabine Leidig, Thomas Lutze,
Kornelia Möller, Wolfgang Neskovic, Petra Pau, Jens Petermann, Dr. Ilja Seifert,
Raju Sharma, Kersten Steinke, Alexander Süßmair, Dr. Kirsten Tackmann,
Frank Tempel, Halina Wawzyniak und der Fraktion DIE LINKE.

Kommunales Wahlrecht für Drittstaatenangehörige einführen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Die aktive und passive Teilnahme an Wahlen und Abstimmungen stellt den
Kernbereich politischer Mitbestimmung dar. Der demokratische Gedanke er-
fordert dabei, grundsätzlich eine Kongruenz zwischen den Inhaberinnen und
Inhabern demokratischer politischer Rechte und den dauerhaft einer be-
stimmten Herrschaft Unterworfenen herzustellen. Dies gilt auch bei Kommu-
nalwahlen, die Grundlage demokratischer Selbstverwaltung und eigenver-
antwortlicher Selbsterfüllung aller Angelegenheiten der jeweiligen örtlichen
Selbstverwaltung sind.

2. In der Bundesrepublik Deutschland leben ca. 6,7 Millionen Menschen nicht-
deutscher Staatsangehörigkeit, von denen 4,3 Millionen nicht aus Ländern
der Europäischen Union stammen. Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer
dieser Drittstaatenangehörigen beträgt aktuell ca. 18 Jahre und ist im euro-
päischen Vergleich überdurchschnittlich hoch. Dem demokratischen Grund-
satz, dass die Betroffenheit von der Staatsgewalt der Anknüpfungspunkt für
die Wahlberechtigung ist, wird durch den Ausschluss der Drittstaatenange-
hörigen vom kommunalen Wahlrecht nicht Genüge getan. Diese fehlende
Möglichkeit einer Beteiligung an kommunalen Entscheidungsprozessen für
in Deutschland lebende Drittstaatenangehörige stellt ein erhebliches demo-
kratisches Defizit dar.

3. Im Vergleich zu EU-Bürgerinnen und -Bürgern, deren Teilnahme an Kom-
munalwahlen durch die Änderung des Grundgesetzes vom 21. Dezember
1992 ermöglicht wurde, stellt der Ausschluss von Menschen nichtdeutscher

Staatsangehörigkeit, die dauerhaft in der Bundesrepublik Deutschland leben
und aus nicht zur Europäischen Union gehörenden Staaten kommen, zudem
eine sachlich nicht gerechtfertigte und daher nicht zu akzeptierende Un-
gleichbehandlung dar.

Drucksache 17/1146 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

einen Gesetzentwurf vorzulegen, mit dem das Grundgesetz dahingehend geän-
dert wird, dass Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit, die ihren stän-
digen Wohnsitz in der Bundesrepublik Deutschland haben und aus nicht zur
Europäischen Union gehörenden Staaten kommen, nach Maßgabe von Landes-
recht bei Wahlen in Kreisen und Gemeinden das aktive und passive Wahlrecht
erhalten. Die Gewährung des aktiven und passiven Wahlrechtes beinhaltet auch
das Abstimmungsrecht auf kommunaler Ebene.

Berlin, den 23. März 2010

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Begründung

Eine erfolgreiche Integrationspolitik hängt entscheidend davon ab, in welchem
Maße Menschen nichtdeutscher Staatsangehörigkeit über Mitwirkungs- und
Entscheidungsrechte verfügen. Eine rechtliche Benachteiligung bestimmter Be-
völkerungsgruppen durch Ausschluss von demokratischen Grundrechten er-
schwert deren Integration. Das Wahlrecht bildet dabei das Kernstück der politi-
schen Beteiligung in einer Demokratie. In dieser Erkenntnis wurde EU-Bürge-
rinnen und -Bürgern das kommunale Wahlrecht durch eine Grundgesetzände-
rung bereits im Jahr 1992 zugestanden, um dem Integrationsprozess innerhalb
der Europäischen Union Rechnung zu tragen.

Die Mehrheit der europäischen Länder erkennt neben EU-Bürgerinnen und - Bür-
gern auch Drittstaatenangehörigen ein Wahlrecht auf lokaler Ebene zu. In 16 eu-
ropäischen Ländern wurde bisher unter sehr unterschiedlichen gesetzlichen Vo-
raussetzungen Drittstaatenangehörigen ein kommunales Wahlrecht eingeräumt.
Es ist an der Zeit, dass sich die Bundesrepublik Deutschland diesen Initiativen
anschließt und ebenfalls die Einführung eines kommunalen Wahlrechts für
Drittstaatenangehörige beschließt, um die sachlich nicht zu rechtfertigende und
verfassungsrechtlich fragwürdige Ungleichbehandlung derselben gegenüber
EU-Bürgerinnen und -Bürgern aufzuheben.

Dem stehen keine rechtlichen Bedenken entgegen: Das Bundesverfassungs-
gericht hat in seinen Urteilen vom 31. Oktober 1990 zum kommunalen Wahl-
recht (BVerfGE 83, 37 und 83, 60) festgestellt, dass dahingehende Änderungen
des Kommunalwahlrechts in Einklang mit Artikel 79 Absatz 3 des Grundgeset-
zes möglich sind. Demnach entspricht es der „demokratische[n] Idee“, „eine
Kongruenz zwischen den Inhabern demokratischer politischer Rechte und den
dauerhaft einer bestimmten staatlichen Herrschaft Unterworfenen herzustellen“.
Auf die infolge von Einwanderungsprozessen veränderte Zusammensetzung der
Bevölkerung müsse „nach geltendem Verfassungsrecht“ mit Erleichterungen
des Erwerbs der deutschen Staatsangehörigkeit für dauerhaft hier lebende nicht-
deutsche Staatsangehörige reagiert werden, so das Bundesverfassungsgericht.
Da Einbürgerungen jedoch gerade nicht wirksam erleichtert wurden, ist eine Än-
derung des Grundgesetzes zur Ermöglichung des kommunalen Ausländerwahl-
rechts erforderlich.

Vier von sieben bei der Anhörung des Innenausschusses des Deutschen Bundes-
tages am 22. September 2008 zu diesem Thema befragten Sachverständigen (vgl.
Ausschussprotokoll 16/74) befanden, dass nicht etwa die Ewigkeitsklausel nach

Artikel 79 Absatz 3 des Grundgesetzes einer solchen Verfassungsänderung ent-
gegenstünde, wie dies von Gegnern des kommunalen Ausländerwahlrechts re-

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/1146

gelmäßig vorgetragen wird. Ein Sachverständiger hielt diese Frage rechtlich für
offen, sie bedürfe einer politischen Entscheidung und verfassungsrichterlichen
Klärung. Der Sachverständige Dr. Felix Hanschmann bewertete die Entwicklung
seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wie folgt: „Kombiniert
man jedoch die Vorenthaltung des Wahlrechts mit einer restriktiven Einbürge-
rungspolitik, stellt man die Inkongruenz zwischen Wahlberechtigten und Herr-
schaftsunterworfenen auf Dauer.“ (vgl. Ausschussdrucksache 16(4)459, S. 23).

Der Deutsche Bundestag hat es am 28. Mai 2009 versäumt, die demokratische
Kultur in Deutschland mit der Einführung des kommunalen Wahlrechts für hier
lebende Drittstaatenangehörige zu fördern. An diesem Tag entschied in nament-
licher Abstimmung die Mehrheit der Fraktionen der SPD, CDU/CSU und FDP,
weiterhin über 4 Millionen Menschen vom Kernstück der Demokratie, dem
Wahlrecht, auszugrenzen.

Um die rechtlichen Hemmnisse für eine gleichberechtigte Partizipation von
Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit an politischen Entscheidungs-
und Willensbildungsprozessen grundlegend zu beseitigen, ist perspektivisch
auch das allgemeine aktive und passive Wahlrecht für EU-Bürgerinnen und - Bür-
ger sowie Drittstaatenangehörige, die dauerhaft in der Bundesrepublik Deutsch-
land leben, auf Landes- und Bundesebene einzuführen.

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