BT-Drucksache 16/9766

Zur Lage der politischen Bildung in Deutschland

Vom 25. Juni 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/9766
16. Wahlperiode 25. 06. 2008

Antrag
der Abgeordneten Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen), Kristina Köhler (Wiesbaden),
Günter Baumann, Clemens Binninger, Helmut Brandt, Gitta Connemann, Ingrid
Fischbach, Ralf Göbel, Reinhard Grindel, Hans-Werner Kammer, Alois Karl,
Hartmut Koschyk, Stephan Mayer (Altötting), Beatrix Philipp, Klaus Riegert,
Dr. Norbert Röttgen, Dr. Hans-Peter Uhl, Ingo Wellenreuther, Volker Kauder,
Dr. Peter Ramsauer und der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Gabriele Fograscher, Dieter Grasedieck, Dr. Hans-Peter
Bartels, Klaus Uwe Benneter, Dr. Michael Bürsch, Sebastian Edathy, Siegmund
Ehrmann, Wolfgang Gunkel, Michael Hartmann (Wackernheim), Frank Hofmann
(Volkach), Ute Kumpf, Lothar Mark, Thomas Oppermann, Maik Reichel, Gerold
Reichenbach, Michael Roth (Heringen), Rüdiger Veit, Dr. Dieter Wiefelspütz,
Dr. Peter Struck und der Fraktion der SPD

Zur Lage der politischen Bildung in Deutschland

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Demokratie ist so stark, wie die Bürgerinnen und Bürger demokratisch sind.
Eine Demokratie, die sich nicht um die Förderung der demokratischen Kennt-
nisse und Fähigkeiten kümmert, wird aufhören, Demokratie zu sein. Wir halten
es deshalb für dringend erforderlich, die Anstrengungen der politischen Bildung
in unserem Land zu unterstützen und zu verstärken. Politische Bildung hat nach
dem 2. Weltkrieg und der Wiedervereinigung Deutschlands einen erheblichen
Beitrag beim Aufbau und der Festigung der Demokratie in der Bundesrepublik
Deutschland geleistet. In der Geschichte der Bundesrepublik ist politische Bil-
dung und die Diskussion über politische Bildung ein wesentlicher Teil der poli-
tischen Kultur. Die deutsche politische Bildung ist im internationalen Vergleich
einzigartig und bewundert. Ihre Methoden- und Trägervielfalt kann auch heute
wichtige Beiträge leisten, um die aktuellen Veränderungsprozesse zu erklären,
zu aktiver politischer Teilhabe zu ermutigen und damit zur Gestaltung des Ge-
meinwesens beizutragen.

Ziel der politischen Bildung muss sein, die aktive Wahrnehmung der bürgerli-
chen Rechte in unserem demokratischen Rechtsstaat zu fördern. Die Informa-

tion über Entscheidungs- und Verantwortungsstrukturen auf den verschiedenen
Ebenen, auf denen demokratische Willensbildung stattfindet, sowie über Mit-
wirkungs- und Teilhabechancen, die jedem Bürger mit gleicher Stimme zuste-
hen, ist die Voraussetzung dafür, dass die Akzeptanz der Demokratie steigt, das
zunehmende Gefühl eigener Machtlosigkeit überwunden und eine höhere Betei-
ligung an Wahlen und politischer Willensbildung möglich wird.

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Um die Identifizierung mit der parlamentarischen Demokratie und die Akzep-
tanz der freiheitlich demokratischen Grundordnung zu stärken, fordern wir die
Bundesregierung auf – entsprechend der Koalitionsvereinbarung – verstärkte
Aktivitäten auf dem Feld der politischen Bildung zu entfalten. Politische Bil-
dung kann wachsende Kenntnisse und eine handlungsorientiert aktivierende
Wirkung entfalten – wie wissenschaftliche Untersuchungen der letzten Jahre
immer wieder gezeigt haben – und damit einen wesentlichen Beitrag gegen den
allgemeinen Politikverdruss und die Neigung zu autoritären Lösungen leisten.
Der Bundeszentrale für politische Bildung kommt bei all diesen Aufgaben eine
zentrale Bedeutung zu.

II. Im Einzelnen fordert der Deutsche Bundestag die Bundesregierung auf,

1. die politische Bildung und demokratische Werteerziehung bereits in der früh-
kindlichen Erziehung bzw. Bildung und der Grundschule, aber auch der schu-
lischen und der Erwachsenenbildung stärker zu verankern. Hierzu zählt auch
die Befähigung zu interkultureller Kompetenz. Die Bundeszentrale für poli-
tische Bildung wird gebeten, entsprechende Bemühungen der Länder sowie
engagierter Eltern, Erzieherinnen und Erzieher sowie der Lehrkräfte im
Grundschulbereich durch Arbeitsmaterialien und weitere Angebote zu unter-
stützen;

2. die Anstrengungen beim Kampf gegen Extremismus und Fremdenfeindlich-
keit auf dem Feld der politischen Bildung zu verstärken. Die Auseinander-
setzung mit Extremismus jeglicher Provenienz, insbesondere die Ausei-
nandersetzung mit Rechtsextremismus, Linksextremismus und religiösem
Extremismus, gehört zu den dauernden Aufgaben der politischen Bildung.
Die Erfahrungen und die Potentiale politischer Bildung sollen dabei stärker
mit den anderen vielfältigen präventiven und repressiven Maßnahmen ver-
zahnt werden. Aufgabe der politischen Bildung ist es auch, das bürgerschaft-
liche Engagement in diesem Bereich zu fördern und zu stärken;

3. politische Bildung für, aber auch von Migrantinnen und Migranten zu ent-
wickeln, zu verstärken und zu fördern. Der alte Befund des überragenden
Einflusses von so genannten Peer Groups auf den Bildungsprozess sowie auf
den Meinungsbildungsprozess von jungen Menschen gilt selbstverständlich
auch für junge Migrantinnen und Migranten sowie ihre Eltern. Über Jahr-
zehnte hinweg haben sich die Strukturen der politischen Bildung aus nach-
vollziehbaren Gründen auf die deutsche Bevölkerung konzentriert. Gerade
Zugewanderten sind aber die Grundzüge unserer freiheitlich demokratischen
Grundordnung zu vermitteln, um Integration auch politisch in demokra-
tischem Sinne gelingen zu lassen;

4. weitere, zeitgemäße Formate politischer Bildung für politik- und bildungs-
ferne Zielgruppen zu entwickeln, um die klassischen multiplikatorischen
Strategien der politischen Bildung, die nach wie vor eine zentrale Aufgabe
sind, durch niedrigschwellige Formate und Ansätze zu ergänzen. Wir wollen
keiner Bevölkerungsgruppe politische Bildung vorenthalten. Gerade politik-
und bildungsferne Gruppen sind es, die aktuellen politischen Entscheidungen
besonders skeptisch gegenübertreten und sich oft durch die Politik nicht mehr
repräsentiert fühlen. Zukunftsängste, Vorurteile und Misstrauen waren schon
immer schlechte politische Ratgeber;

5. neue Methoden bei der Vermittlung von Zeitgeschichte zu entwickeln. Dabei
sollen sowohl die Kenntnis und als auch das Verständnis der eigenen jünge-
ren deutschen Geschichte und die Auseinandersetzung mit der NS-Terror-
herrschaft und der SED-Diktatur ein zentraler Bestandteil politischer Bildung
sein. Hier sollten fachwissenschaftlich anerkannte Kenntnisse und Informa-

tionen unter Berücksichtigung der neueren Methodenvielfalt vermittelt wer-

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den. Die öffentlichen, mit Steuern oder Gebühren finanzierten Archive müs-
sen deshalb Bildungszwecken stärker geöffnet und für diese genutzt werden.
Die schulische politische Bildung und die außerschulische Jugend- und Er-
wachsenenbildung müssen diese Herausforderungen für ihre Curricula und
eine methodisch und didaktisch adäquate zeitgeschichtliche Vermittlung be-
greifen. Es ist daher zwingend erforderlich, ein zwischen Bund und Ländern
unter Einbeziehung der bestehenden Träger politischer Bildung abgestimm-
tes Gesamtkonzept der politischen Bildung zur Vermittlung von Zeitge-
schichte zu erarbeiten;

6. die politische Bildung stärker für das große Zukunftsprojekt Europa zu akti-
vieren. Neben der klassischen Informationspolitik sollte gerade auch gegen-
über den europäischen Institutionen angeregt werden, Europa stärker als
Bildungsprojekt zu verstehen. Neben einer großen Formatvielfalt und infra-
strukturell wichtigen Angeboten regen wir die Erleichterung von euro-
päischen Begegnungen und die Vernetzung guter Praxis der politischen Bil-
dung an. Zentrales Fundament einer europapolitischen Bildung ist und bleibt
der demokratische Grundkonsensus eines Kontinents, der Jahrhunderte lang
Kriege gegeneinander geführt hat und mit der gemeinsamen Demokratie und
seinen gemeinsamen Institutionen in eine lang andauernde Phase von Frieden
und wirtschaftliche Prosperität eingetreten ist;

7. die ökonomische und soziale Bildung als Teil der politischen Bildung stärker
als bisher in den Vordergrund zu rücken. Die wirtschaftlichen Veränderungen
im Kontext des Globalisierungsprozesses einschließlich der sozialen Auswir-
kungen berühren das politische Selbstverständnis der Menschen immer stär-
ker. Globalisierung erfordert, auch die politische Bildung aus einer globalen
Perspektive zu denken. Dem Auseinanderdriften ökonomischer, sozialer und
politischer Bildung ist durch ein stärkeres Aufgreifen der Thematik in der
schulischen und außerschulischen Bildung entgegenzuwirken. Es gilt, politi-
sche Bildung zu fördern, die sich insbesondere mit ethisch bzw. moralisch be-
gründeten Bedenken gegen Globalisierung und Marktwirtschaft auseinander
setzt. Diesbezüglich sollten Fragen nach den positiven wie negativen Aus-
wirkungen der Globalisierung auf Staat und Gesellschaft, insbesondere be-
züglich des veränderten wirtschaftspolitischen Handlungsspielraums und der
Veränderung des Sozialstaats, im Vordergrund stehen. Notwendig ist deshalb
politische Bildung im Sinne einer Aufklärung auch über die normativen
Zusammenhänge in einer globalisierten Welt. Auch sollten verschiedene
Ansätze mulilateralen Handelns aufgezeigt werden. Hierzu zählt der Ansatz
Global Governance, bei dem es darum geht, den Prozess der Globalisierung
politisch zu gestalten. Auch Nichtregierungsorganisationen, Bürgerbewe-
gungen, multinationale Konzerne und der globale Finanzmarkt haben Ein-
fluss auf globales Handeln. Globalisierung sei hier verstanden als die Inte-
gration von Märkten sowie internationale Arbeitsteilung. Die ökonomische
Bildung als Teil der politischen Bildung hat zur Aufgabe, unterschiedliche
politik-ökonomische Zugänge bzw. wirtschaftspolitische Theorien aufzuzei-
gen. Sie ist ebenso Grundlage für eine fundierte Auseinandersetzung mit dem
Thema Globalisierung wie das Wissen über Ziele und Funktionsweisen der
sozialen Marktwirtschaft;

8. zu prüfen, inwiefern die Förderrichtlinien der Bundeszentrale für politische
Bildung einer sich verändernden Praxis bei den Trägern politischer Bildung
durch mehr Flexibilisierung und Modifizierung Rechnung tragen können.
Politische Bildung muss sich heute in einem konkurrierenden Bildungsmarkt
behaupten und sollte dabei durch Förderungsinstrumente unterstützt werden,
die es erlauben, zielgruppenspezifisch und mit großer Methodenvielfalt zu
arbeiten;

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9. die wissenschaftlichen Grundlagen der politischen Bildung und hier insbe-
sondere die Forschung über Voraussetzungen, Methoden und Wirksamkeit
politischen Lernens zu stärken.

III. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung des Weiteren auf,

auch in der Zukunft an der Aufgabe der politischen Bildung festzuhalten und sie
weiterzuentwickeln. Neben den den Parteien im Deutschen Bundestag nahe-
stehenden politischen Stiftungen ist das Augenmerk dabei gerade auch der über-
parteilich und für die Zivilgesellschaft arbeitenden sowie über 340 Träger der
politischen Bildung fördernden Bundeszentrale für politische Bildung zu wid-
men. Den genannten Herausforderungen ist im Rahmen der geltenden Finanz-
planung Rechnung zu tragen. Der Deutsche Bundestag begrüßt vor diesem Hin-
tergrund die in der Koalitionsvereinbarung niedergelegte Absicht, die politische
Bildung zu stärken.

Berlin, den 25. Juni 2008

Volker Kauder, Dr. Peter Ramsauer und Fraktion
Dr. Peter Struck und Fraktion

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