BT-Drucksache 16/8810

Vergaberecht reformieren - Rechtssicherheit schaffen - Eckpunkte für die Reform des Vergaberechts

Vom 10. April 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/8810
16. Wahlperiode 10. 04. 2008

Antrag
der Abgeordneten Kerstin Andreae, Dr. Thea Dückert, Dr. Wolfgang
Strengmann-Kuhn, Markus Kurth, Brigitte Pothmer, Irmingard Schewe-Gerigk,
Cornelia Behm, Birgitt Bender, Alexander Bonde, Kai Gehring, Britta Haßelmann,
Bettina Herlitzius, Priska Hinz (Herborn), Thilo Hoppe, Fritz Kuhn, Nicole Maisch,
Jerzy Montag, Omid Nouripour, Christine Scheel, Dr. Gerhard Schick,
Silke Stokar von Neuforn, Jürgen Trittin, Josef Philip Winkler
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Vergaberecht reformieren – Rechtssicherheit schaffen – Eckpunkte für die Reform
des Vergaberechts

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Aufträge der öffentlichen Verwaltung an die private Wirtschaft machen in
Deutschland rund 13 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus, etwa 300 Mrd.
Euro pro Jahr. Dieses Geld muss verantwortungsbewusst investiert werden. Die
Bundesregierung thematisiert seit einiger Zeit die Handlungsbedarfe beim
Klimaschutz. Die tatsächlichen Umsetzungsvorschläge sind zögerlich. Zöger-
lichkeit können wir uns aber nicht leisten, der Handlungsdruck ist groß: beim
Klimaschutz müssen die öffentlichen Auftraggeber ihrer Verantwortung gerecht
werden.

Durch die öffentliche Auftragsvergabe sollen auch die sozial- und umwelt-
politischen Ziele gefördert werden, für die die Bundesrepublik Deutschland auf
nationaler und internationaler Ebene politisch eintritt. Themen wie internatio-
nale Gerechtigkeit, die Förderung der Gleichstellung von Frauen oder weitere
sozialpolitische Ziele wie die Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen
und die Schaffung von Ausbildungsplätzen werden täglich durch Vergabeent-
scheidungen von Bund, Ländern und Kommunen berührt. Hier kann der Staat
wichtige Impulse setzen.

Effiziente, transparente und unbürokratische Vergabeverfahren mit hoher Wett-
bewerbsintensität sind für die Wirtschaft und den Mittelstand ebenso wie für die
Konsolidierung einer nachhaltigen Bewirtschaftung öffentlicher Haushalte von
zentraler Bedeutung. Das deutsche Vergaberecht muss vereinfacht werden, da es
unübersichtlich ist und starke rechtliche Unsicherheiten in sich birgt. Insbeson-
dere die kleinen und mittleren Unternehmen leiden unter den Unschärfen im
Vergaberecht: Umständliche Verfahren, widersprüchliche Rechtsbegriffe und zu
viele Nachweispflichten zu Beginn eines Vergabeverfahrens erschweren die
Bewerbung für mittelständische Unternehmen.

Die EU-Vergaberechtslinie 2004/18/EG des Europäischen Parlaments und des
Rates, die 2006 in Kraft getreten ist, ist bis heute in Deutschland nicht vollstän-

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dig umgesetzt worden. Insbesondere über den Artikel 26, der die Regelungen zu
den sozialen und ökologischen Kriterien enthält, gibt es starke Auseinanderset-
zungen. Rechtssicherheit ist dringend notwendig: Die Landesvergabegesetze
beinhalten teilweise schon ökologische und soziale Kriterien, aber besonders die
Überprüfung ihrer Einhaltung und Wirksamkeit lässt zu wünschen übrig. Mehr
als 100 Städte und Kommunen haben in Eigeninitiative neue Kriterien in die
Vergabe aufgenommen, aber mangelnde Rechtsgrundlagen und die geringe
Kenntnis der Möglichkeiten behindern ihre rechtssichere Einführung.

Deswegen steht eine Reform des Vergaberechts an, die Rechtssicherheit und
Klarheit schafft und die Verfahren so ausgestaltet, dass sie auch von mittelstän-
dischen Unternehmen gut bewältigt werden können. Der aktuell vorliegende
Gesetzentwurf der Bundesregierung setzt diese Ziele nicht konsequent um, son-
dern ist mutlos und scheut vor der dringend notwendigen grundlegenden Reform
des Vergaberechts zurück.

II. Der Deutsche Bundestag beschließt die folgenden Eckpunkte für eine Reform
des Vergaberechts:

1. Rechtssicherheit schaffen

Durch eine bundeseinheitliche Regelung wird der Artikel 26 der EU-Vergabe-
rechtsrichtlinie, der die Anwendung von sozialen und ökologischen Kriterien
regelt, praxistauglich umsetzt. Die dabei verwandten Begriffe wie z. B. „Nach-
haltigkeit“ werden nachvollziehbar definiert. Eine Präzisierung des Wettbe-
werbsgrundsatzes ermöglicht eindeutig, dem auf lange Sicht wirtschaftlichsten
Angebot den Zuschlag zu geben. Dabei ist die ethische, soziale und ökologische
Verantwortung der öffentlichen Hand klarer Handlungsauftrag.

Die Bekämpfung von Korruption und Rechtsverstößen wird durch die Einfüh-
rung eines bundesweiten Korruptionsregisters erleichtert, das langfristig weitere
schwere Rechtsverstöße erfasst.

Widersprüche in den verschiedenen Rechtsbegriffen und bei den unterschied-
lichen Verfahrensweisen werden aufgelöst, die Inhouse-Vergabe wird klarer
reguliert.

2. Die Anwendung des Vergaberechts vereinfachen

Eine Präzisierung der Regelungen minimiert den Aufwand für die Teilnahme an
Ausschreibungen:

● Identische Regelungsbereiche in den Vergabe- und Verdingungsordnungen
VOL, VOB und VOF werden einheitlich gefasst.

● In Präqualifizierungsverfahren können sich Unternehmen unabhängig von
der konkreten Ausschreibung generell für ein Jahr als für öffentliche Aus-
schreibungen geeignet qualifizieren.

● Eignungsvoraussetzungen werden in einem zweistufigen Verfahren abge-
prüft, bei denen der Gesamtnachweis über alle geforderten Informationen am
Ende und nicht am Anfang steht. Die Unternehmen dokumentieren zudem
während der Auftragsausführung die Einhaltung der Vergabe-Kriterien.

● Die Bagatellgrenzen, unterhalb derer keine Ausschreibung notwendig ist und
die Schwellenwerte für freihändige und befristete Vergaben werden weit-
gehend vereinheitlicht.

● Die Modernisierung des Haushalts- und Rechnungswesens muss die Berück-
sichtigung der langfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen von Vergabe-
entscheidungen ermöglichen.

● Formalitäten werden möglichst reduziert und die Möglichkeit geschaffen,
Formfehler zu korrigieren.

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/8810

● Das Verfahren des wettbewerblichen Dialogs ermöglicht in Vergabever-
fahren auch unterhalb der EU-Schwellenwerte, Angebote nicht einfach zu
setzen, sondern im Verfahren weiter auszugestalten.

● Ausschreibungen werden grundsätzlich in Fach- und Teillose aufgegliedert.

Die Einrichtung überregionaler Kompetenzzentren hilft, Erfahrungen mit der
Vergabepraxis zu bündeln und besser zu nutzen.

3. Mehr Transparenz in den Vergabeverfahren

Beschränkte und freihändige Vergaben unterliegen zukünftig einer Veröffent-
lichungspflicht. Der gemeinsame Stufenplan der Wirtschaftsverbände zur Um-
setzung der flächendeckenden Einführung von E-Vergaben fließt in die Gesetz-
gebung ein. So werden einheitliche Standards für die elektronische Signatur
geschaffen und die Verfahren so ausgestaltet, dass sie auf eine elektronische Ver-
gabe passen. Die Schulungs- und Beratungsangebote für Vergabestellen wie
Unternehmen werden durch eine gemeinsame Initiative mit Ländern und Kom-
munen verbessert.

4. Die Auftragsvergabe von Förder- und Integrationsleistungen in der Arbeits-
markt- und Sozialpolitik neu ausrichten

Die besonderen Anforderungen an Dienstleistungen für Menschen im sozialen
Bereich, der Jugendhilfe und in der Arbeitsmarktpolitik werden im Vergaberecht
gesondert berücksichtigt, um die öffentliche Beschaffung besser auf die spezifi-
schen Rahmenbedingungen dieser Arbeit ausrichten zu können.

5. Die Anwendung von ökologischen und sozialen Kriterien erleichtern

Die Vorgaben der EU-Vergaberechtsrichtlinie zu sozialen und ökologischen
Kriterien werden vollständig umgesetzt. Die konkrete Ausgestaltung der jewei-
ligen Kriterien erfolgt durch die vergebende Stelle nach dem Subsidiaritäts-
prinzip, also auch durch Land oder Kommune vor Ort. Dabei helfen Definitions-
angebote für solche Kriterien im Vergaberecht. Der Bund erstellt darüber hinaus
einen nationalen Aktionsplan zur nachhaltigen Beschaffung und setzt ihn bei
den Beschaffungen des Bundes um.

Bei den ökologischen Kriterien gibt es durch bestehende Zertifikate und Labels
bereits Orientierungspunkte für eine gegenstandsbezogene ökologische Ver-
gabe. Zwar können jetzt schon ökologische Kriterien in den verschiedenen
Phasen der Vergabeverfahren auf unterschiedliche Weise berücksichtigt werden.
Es gibt aber Rechtsunsicherheiten, was die Verankerung ökologischer Kriterien
nach Artikel 26 der EU-Vergaberechtsrichtlinie im deutschen Recht betrifft.
Diese werden durch die vollständige Umsetzung des Artikels 26 ausgeräumt.

Eine stärkere Rechtsunsicherheit besteht bei den sozialen Kriterien. Soziale
Kriterien wie Einhaltung von Mindestlöhnen und allgemeinverbindlichen Tarif-
verträgen, Bereitstellung von Ausbildungsplätzen, Einhaltung der ILO-Kern-
arbeitsnormen, die Beschäftigung schwerbehinderter Menschen oder die Ableh-
nung ausbeuterischer Kinderarbeit können zukünftig gegenstandsbezogen zum
Vergabekriterium gemacht werden:

● Die Bundesregierung setzt sich für die Erstellung eines EU-Leitfadens zu
sozialen Vergabekriterien ein, um den Umgang hiermit zu erleichtern.

● Unternehmen, die die Kriterien noch nicht erfüllen, können Vereinbarungen
treffen, wie sie diese zukünftig umsetzen werden.

● Damit wird unter anderem die Bevorzugung von fair gehandelten Produkten
möglich. Als Nachweis für Produkte aus fairem Handel gelten unabhängige
Zertifizierungen wie z. B. das Fair-Trade-Siegel.

Die Förderung der Gleichstellung von Frauen und Männern als Vergabekrite-
rium wird im Bundesgleichstellungsgesetz festgeschrieben. Hier ist die nach

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§ 97 IV des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) erforderliche
gesetzliche Grundlage zu schaffen, dass der Bund ab einem Volumen von 50 000
Euro bevorzugt an Unternehmen vergibt, die aktive Maßnahmen zur Gleich-
stellung durchführen. Hierzu sind konkrete Kriterien durch den Bund zu ent-
wickeln. Die Kommunen sollen hierauf bei der Anwendung des Vergaberechts
Bezug nehmen.

6. Die Kontrolle der Einhaltung von Kriterien fördern

Zertifizierungsmaßnahmen werden gefördert, um die Überprüfbarkeit von
sozialen und ökologischen Kriterien entlang der Wertschöpfungskette zu
erleichtern. Ein „Fachausschuss Vergabekriterien“ unter Beteiligung von Nicht-
regierungsorganisationen hilft, sinnvolle Zertifikate zu finden, zu bewerten und
zu etablieren. Auch staatliche Anschubfinanzierungen entsprechender Labels
sind möglich. Neben solchen bei der Auftragsvergabe zu berücksichtigenden
Zertifikaten sind auch Kontrollmechanismen zu entwickeln und zu fördern, die
der Einhaltung der Kriterien im Laufe der Auftragsdurchführung dienen.

Berlin, den 10. April 2008

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

Begründung

Zu Nummer 1 (Rechtssicherheit schaffen)

Transparente Verfahren sind nicht pauschal mit weniger Regulierung gleichzu-
setzen. Damit Unternehmen und die öffentliche Hand rechtlich abgesichert sind,
muss es verlässliche Regelungen geben, auf die sie sich berufen können. Deswe-
gen muss das Vergaberecht den Umgang mit Vergabekriterien klar und präzise
fassen:

● Der Artikel 26 der EU-Vergaberechtsrichtlinie wird praxistauglich umge-
setzt. Eine solche Klarstellung sorgt dafür, dass z. B. in einem Vergabever-
fahren nicht jede einzelne Produkteigenschaft bis ins Detail definiert werden
muss, sondern auch Begriffe wie „nachhaltig“ oder „ökologisch“ als rechts-
sichere Anhaltspunkte genutzt werden können.

● Ein neuer Wirtschaftlichkeitsbegriff ermöglicht z. B. die Beachtung von Pro-
dukt-Lebenszyklen und von Energieeffizienz bei einer nachhaltigen Beschaf-
fung.

● Die Umsetzung der ethischen Verantwortung der öffentlichen Hand wird im
Vergaberecht auf handhabbare und überprüfbare Weise festgeschrieben.

● Die Bundesministerien, insbesondere das Bundesministerium für Wirtschaft
und Technologie, das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Re-
aktorsicherheit, das Bundesministerium für Arbeit und Soziales und das Bun-
desministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung sollten
bei der Umsetzung des Artikels 26 der EU-Vergaberechtsrichtlinie eng
zusammenarbeiten.

Die Reform des Vergaberechts erschwert Korruption

● Unternehmen, die der Bestechung überführt worden sind, werden in einem
bundesweiten Korruptionsregister erfasst. Dieses Register könnte beim Bun-
desamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle geführt werden. Um das frühere

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 5 – Drucksache 16/8810

Erkennen von Korruption zu erleichtern, sollte die Bundesregierung arbeits-
rechtliche und prozessuale Schutzregelungen für Beschäftigte (sogenannte
Whistleblower) entsprechend dem Zivilrechtsabkommen des Europarats ge-
gen Korruption vom 4. November 1999 schaffen, die Behörden einen Ver-
dacht auf Korruption mitteilen oder auf sonstige Verstöße gemäß den OECD-
Richtlinien für multinationale Unternehmen hinweisen.

● Bund, Länder und Kommunen schaffen gemeinsam ein transparentes System
über öffentliche Ausschreibungen im Internet.

● Notwendig zur Bekämpfung von Korruption ist die Einführung der Möglich-
keit für Bieter, gegen Vergabeentscheidungen zu klagen (Primärrechts-
schutz), wie dies heute schon im Bereich oberhalb der EU-Schwellenwerte
gewährleistet ist. Die bestehenden Rechtsschutzmöglichkeiten im Vergabe-
recht bleiben darüber hinaus bestehen.

● Durch eine Mindestbearbeitungszeit von 14 Tagen für die Erstellung von An-
geboten zwischen Bekanntmachung und Abgabefrist werden informelle Ab-
sprachen zwischen Bietern und Vergabestellen verhindert.

Der Gesetzentwurf minimiert Widersprüche in den Rechtsbegriffen und -ver-
fahren

● Das Vergaberecht krankt an seiner langen Entwicklung seit den 20er Jahren
des vorigen Jahrhunderts, die zu unterschiedlichen Begrifflichkeiten für glei-
che juristische Sachverhalte geführt haben.

● Die In-House-Vergabe muss klarer reguliert werden. Der Begriff „öffentliche
Auftraggeber“ wird rechtlich eindeutig definiert, um Unsicherheiten im Ver-
gabeverfahren zu minimieren.

● Durch Klarstellungen im Bundesrecht werden Detailregelungsbedarfe auf
Landesebene verringert.

Zu Nummer 2 (Die Anwendung des Vergaberechts vereinfachen)

Das deutsche Vergaberecht ist unübersichtlich. Häufig wird es fehlerhaft
angewandt oder ignoriert. Dadurch werden öffentliche Mittel vergeudet,
Innovationschancen vertan und Korruption ermöglicht. Die Teilnahme an Aus-
schreibungen erfordert einen hohen zeitlichen und personellen Aufwand. Durch
präzisere Regelungen kann dieser Aufwand minimiert werden:

● Wesentliche Einzelheiten des Vergaberechts sind in der Verdingungsordnung
für Leistungen (VOL), der Vergabe- und Vertragsordnung für Bauleistungen
(VOB) und der Verdingungsordnung für öffentliche freiberufliche Leistun-
gen (VOF) geregelt. Diese Regelwerke betreffen weitgehend identische
Sachverhalte. Eine weitgehend einheitliche Vergabeordnung könnte mehr
Transparenz schaffen.

● Für jedes Vergabeverfahren haben die Unternehmen Nachweise zur Doku-
mentation ihrer Fachkunde, Leistungsfähigkeit und Zuverlässigkeit vorzu-
legen. Präqualifizierungsverfahren, bei denen sich Unternehmen unabhängig
von der konkreten Ausschreibung generell für ein Jahr als für öffentliche
Ausschreibungen geeignet qualifizieren können, vereinfachen die Vergabe-
verfahren erheblich.

● Die Nachweispflichten der Unternehmen können nicht nur durch Präqualifi-
zierung, sondern auch durch die Abprüfung der Eignungsvoraussetzungen in
einem zweistufigen Verfahren verringert werden. Nachweise über die ge-
forderten Sachverhalte würden dann am Ende, nicht am Anfang des Vergabe-
verfahrens stehen und nur durch die Unternehmen erfolgen, die in der enge-
ren Auswahl stehen.

Drucksache 16/8810 – 6 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

● Außerdem sollte eine Bagatellgrenze eingeführt werden, unterhalb derer
keine Ausschreibung erforderlich ist. Wir schlagen die Grenze von
15 000 Euro für Dienstleistungen und Lieferaufträge und 30 000 Euro für
Bauleistungen vor.

● Für öffentlich finanzierte Forschungseinrichtungen sollte die Grenze für
Dienstleistungen und Lieferaufträge auf 30 000 Euro und für Bauleistungen
auf 50 000 Euro erhöht werden.

● Die Modernisierung des Haushalts- und Rechnungswesens soll die Berück-
sichtigung der langfristigen Kosten und der Qualität des Produktes ermög-
lichen.

● Formfehler sollten nicht zum endgültigen Verfahrensausschluss führen, son-
dern korrigierbar sein.

● Das Verfahren des wettbewerblichen Dialogs ermöglicht die gezielte Förde-
rung von Innovationen. Technische Lösungsmöglichkeiten zwischen verge-
benden Stellen und Bietern werden schrittweise konkretisiert. Das Verfahren
sollte auch unterhalb der EU-Schwellenwerte zugelassen werden.

● Die grundsätzliche Aufgliederung von Ausschreibungen in Fach- und
Teillose erleichtert wesentlich die Teilnahme für kleine und mittlere Unter-
nehmen an Vergabeverfahren. Sie ist ein zentraler Baustein für ein mittel-
standsorientiertes Vergaberecht.

Eine Einrichtung überregionaler, gebündelter Kompetenzzentren für mittlere
und größere Vergaben würde Synergien der unterschiedlichen Vergabestellen
erzeugen und nutzbar machen. Dabei sollen zunächst freiwillige Zusammen-
schlüsse von Gebietskörperschaften und Organisationseinheiten durch eine ge-
meinsame Initiative von Bund, Ländern und Kommunen gefördert werden.

Zu Nummer 3 (Mehr Transparenz in den Vergabeverfahren)

Die öffentliche Ausschreibung ist zwar im Gegensatz zur intransparenten frei-
händigen Vergabe aufwändiger für alle Beteiligten, bringt aber im Idealfall ein
Höchstmaß an Beteiligungschancen, Transparenz und effizienten Angeboten.
Die freihändig vergebenen Aufträge erzielen dagegen durchschnittlich Preise,
die den Marktpreis um das 2,3fache übersteigen. Ein Großteil der Aufträge wird
trotzdem so vergeben. Deswegen wollen wir die öffentliche Ausschreibung
stärken:

● Beschränkte und freihändige Vergaben sollten einer Veröffentlichungspflicht
unterliegen, um hier für mehr Transparenz zu sorgen. Hierdurch erhalten
mögliche Anbieter von Leistungen auch die Möglichkeit, sich initiativ für
entsprechende Verfahren zu bewerben. Durch die Einführung von Vergabe-
berichten durch die vergebenden Stellen wird transparent, wann, wofür, mit
wem und nach welchen Kriterien bestimmte Vergabeverfahren durchgeführt
wurden.

● Die Möglichkeit der elektronischen Vergabe (E-Vergabe) wird als Thema
stark vernachlässigt, obwohl sie zentral für die Unternehmen ist. Nach den
Vorgaben der EU hätte sie bereits bis Ende 2007 flächendeckend eingeführt
werden sollen. Im Zuge des Gesetzgebungsverfahrens soll die Bundesregie-
rung die Voraussetzungen für eine effektive E-Vergabe schaffen.

● Der gemeinsame Stufenplan der Wirtschaftsverbände zur Umsetzung der
flächendeckenden Einführung von E-Vergaben, der in enger Zusammen-
arbeit mit der Bundesregierung entstanden ist, wird durch die Bundesregie-
rung so schnell wie möglich umgesetzt. So sollten u. a. die unterschiedlichen
Portale über eine Zentralplattform (Satellitensystem) verlinkt und ein bun-
desweites Bekanntmachungsmedium analog zum Tenders Electronic Daily

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 7 – Drucksache 16/8810

der EU aufgebaut werden, in dem Links zu allen Ausschreibungen angezeigt
werden.

Die Kompetenzen in der Verwaltung und in den Unternehmen zur Bewältigung
der Vergabeverfahren werden erweitert und die Schulungs- und Beratungsange-
bote zu vergaberechtlichen Regelungen, zur Anwendung der Verfahren, zur
Durchführung von Ausschreibungen etc. ausgebaut, um mehr Beteiligung ge-
rade auch kleiner und mittlerer Unternehmen und transparentere Verfahren zu
ermöglichen.

Zu Nummer 4 (Die Auftragsvergabe von Förder- und Integrationsleistungen in
der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik neu ausrichten)

Bei der Vergabe von sozialen Dienstleistungen und Dienstleistungen am
Arbeitsmarkt, insbesondere durch die Bundesagentur für Arbeit, finden die
besonderen Anforderungen an anspruchsvolle und qualitativ hochwertige
Dienstleistungen am Menschen stärker Berücksichtigung. Die Vergabe dring-
licher Aufträge und von Nachbestellungen wird vereinfacht. Es ist notwendig,
Möglichkeiten für flexible und kurzfristige Vergaben zu schaffen. Langfristige
Investitionen in Einrichtungen und qualifiziertes Personal finden in den Ver-
gabeverfahren stärker Berücksichtigung als dies derzeit der Fall ist. Perspek-
tivisch ist die Schaffung einer eigenen Verdingungsordnung für soziale Dienst-
leistungen sinnvoll.

Zu Nummer 5 (Die Anwendung von ökologischen und sozialen Kriterien
erleichtern)

Wie ein Gutachten des Umweltbundesamtes von 2007 feststellt, ist es schon
heute in vielen Fällen möglich, ökologische Kriterien rechtlich unbedenklich
festzuschreiben, da sie oft als integraler Bestandteil des Auftragsgegenstandes
definiert werden können. Dieser Weg ist aufgrund der mangelnden Umsetzung
der entsprechenden EU-Vorgaben durch die Bundesregierung allerdings relativ
umständlich und kann stark vereinfacht werden. Dementsprechend muss der
Gesetzentwurf die EU-Vergaberechtslinie 2004/18/EG vollständig umsetzen.

Darüber hinaus soll der Bund, wie von der EU gefordert, einen ambitionierten
Nationalen Aktionsplan zur nachhaltigen Beschaffung erstellen und umsetzen.
Andere EU-Länder wie die Niederlande sind hier bereits mit gutem Beispiel
vorangegangen und können als Vorbild dienen. Das bestehende Vergaberecht
muss daraufhin geprüft werden, wo es ökologische Vergaberegeln behindert.

In Deutschland besteht erhebliche Rechtsunsicherheit darüber, inwieweit soziale
Kriterien Gegenstand von Vergabeentscheidungen sein können. Das liegt insbe-
sondere daran, dass die Bestimmungen des europäischen Rechts noch nicht um-
gesetzt worden sind. In vielen Kommunen sind Beschlüsse zur Berücksich-
tigung sozialer Ziele im Vergaberecht gefällt worden. Beispielsweise haben ein-
zelne Kreistage beantragt, ausbildende Betriebe bei der Vergabe zu bevorzugen,
und eine Vielzahl von Kommunen hat beschlossen, bei der Beschaffung von
Steinen, insbesondere aus indischen Steinbrüchen, den Ausschluss von Kinder-
arbeit in die Ausschreibungen aufzunehmen. Dies wurde ihnen aber zum Teil
von der Verwaltung mit Hinweis auf die fehlende bundesrechtliche Grundlage
verwehrt.

Das Vergaberecht sollte insgesamt so ausgestaltet sein, dass soziale Kriterien ge-
genstandsbezogen zum Vergabekriterium gemacht werden können:

● Solange die Arbeitnehmer in Deutschland nicht zuverlässig durch Mindest-
löhne vor Lohndumping geschützt sind, kommt dem Bund außerdem eine
besondere Verantwortung dafür zu, bei der Vergabe öffentlicher Aufträge des
Bundes nur solche Unternehmen zuzulassen, die ihre Arbeitnehmer bei der

Drucksache 16/8810 – 8 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Ausführung der Leistung mindestens nach den relevanten Lohn- und
Gehaltstarifen bezahlen und die tarifliche Arbeitszeit anwenden. Der Europä-
ische Gerichtshof (EuGH) hat in seinem Urteil vom 3. April 2008 die Tarif-
treueregelungen im niedersächsischen Vergaberecht verworfen, da dort auf
keinen allgemeinverbindlichen Tarifvertrag Bezug genommen worden war.
Tariftreueregelungen im Vergaberecht mit Bezugnahme auf allgemeinver-
bindlich erklärte Tarifverträge und Mindestlöhne sind nach dem Urteil des
EuGH dagegen nicht zu beanstanden. Es ist sicherzustellen, dass eine rechts-
konforme Ausgestaltung von Tariftreuebestimmungen im Vergaberecht ver-
ankert wird. Daneben müssen die Allgemeinverbindlichkeitserklärung von
Tarifverträgen und die Einführung von Mindestlöhnen erleichtert werden.

● Nach wie vor stellen Unternehmen zu wenig Ausbildungsplätze bereit, ob-
wohl allerorten der Fachkräftemangel beklagt wird. Hier sollte das Vergabe-
recht Anreize setzen können, indem Betriebe bevorzugt werden, die eine
Mindestquote oder eine überdurchschnittliche Zahl an Ausbildungsplätzen
vorweisen können.

● Klargestellt werden muss auch, dass Unternehmen vom Vergabeverfahren
ausgeschlossen werden können, wenn sie in der Zulieferkette gegen gelten-
des Recht oder international vereinbarte Grundprinzipien verstoßen. Damit
könnten z. B. Unternehmen, deren Zulieferer die ILO-Kernarbeitsnormen
(wie das Verbot der ausbeuterischen Kinder- und Zwangsarbeit oder die
Vereinigungsfreiheit) und andere rechtlich verbindliche internationale Kon-
ventionen nicht berücksichtigen, ausgeschlossen werden.

● Die Arbeitsmarktsituation von Menschen mit Behinderungen ist trotz einer
gesetzlichen Beschäftigungspflichtquote, nach der jedes Unternehmen ab
zwanzig Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern schwerbehinderte Menschen
beschäftigen muss, noch immer erheblich schlechter als im Durchschnitt der
arbeitsfähigen Bevölkerung. Eine Auftragsvergabe an Integrationsfirmen,
die dauerhaft auf einem großen Anteil ihrer Arbeitsplätze Menschen mit
Behinderungen beschäftigen, verbessert die Arbeitsmarktsituation dieser
Personengruppe.

● Auch für eine gerechtere Globalisierung können wichtige Impulse durch die
Gestaltung öffentlicher Aufträge gegeben werden. Beim Kauf von Waren und
Dienstleistungen soll durch die öffentlichen Auftraggeber auf die Herstel-
lungs- und Handelsbedingungen geachtet werden. Hierbei hilft die Zertifizie-
rung. So können handgeknüpfte Teppiche, die ohne ausbeuterische Kinder-
arbeit hergestellt wurden, beispielsweise mit dem Siegel „Rugmark“ oder
Grabsteine mit dem Siegel „XertifiX“ gekennzeichnet werden, wenn sie die-
ses Kriterium erfüllen. Fair gehandelte Produkte können mit dem internatio-
nalen Fair-Trade-Siegel gekennzeichnet werden. Es muss möglich sein, Pro-
dukte, die mit solchen Siegeln gekennzeichnet sind, auch bei der öffentlichen
Vergabe zu bevorzugen.

Die konkrete Ausgestaltung der jeweiligen Kriterien wird die Aufgabe der je-
weiligen vergebenden Gebietskörperschaft sein. Die Parlamente, Kreistage und
Räte haben zu entscheiden, welche Kriterien, die über das derzeit geltende Recht
hinausgehen, jeweils angewandt werden sollen. Definitionsangebote im Ver-
gaberecht für entsprechende Kriterien erleichtern deren Anwendung.

Die Bundesregierung ist aufgefordert, sich durch eine Initiative in der EU für die
Erstellung eines EU-Leitfadens zu sozialen Vergabekriterien analog zum beste-
henden für ökologische Kriterien einzusetzen. Im Vorgriff auf eine EU-weite
Regelung sollte dieser zunächst auf Bundesebene formuliert werden.

Notwendig ist es, die Förderung der Gleichstellung von Frauen und Männern bei
der Beschaffung durch den Bund zum Kriterium für Vergabeentscheidungen zu
machen. Im Bundesgleichstellungsgesetz ist die nach § 97 IV GWB erforder-

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 9 – Drucksache 16/8810

liche gesetzliche Grundlage dafür zu schaffen, dass der Bund Aufträge zur Be-
schaffung von Waren, Bau- und Dienstleistungen ab einem Volumen von
50 000 Euro bevorzugt an Unternehmen vergibt, die die Gewähr dafür bieten,
dass sie die Verbote zur Benachteiligung aufgrund des Geschlechts nach dem
Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz einhalten und Maßnahmen zur Gleich-
stellung durchführen. Wie diese Maßnahmen aussehen können, dafür sind kon-
krete Kriterien und Maßstäbe durch den Bund zu entwickeln. Die Kommunen
sollen bei der Anwendung des Vergaberechts auf die hier entwickelten Kriterien
und Maßstäbe Bezug nehmen.

Zu Nummer 6 (Die Kontrolle der Einhaltung von Kriterien durch die Förderung
von Zertifizierungsmaßnahmen gewährleisten)

Die Überprüfung ökologischer und sozialer Kriterien stellt ein erhebliches prak-
tisches Problem dar, wenn jede vergebende Stelle eigene Kriterien und Über-
prüfungswege finden muss. Ohne Prüfung bleiben die Regelungen wirkungslos.
Hierzu müssen auf Bundesebene einheitliche Definitionen, Maßstäbe und Zer-
tifikate entwickelt werden:

● Durch die Einrichtung eines „Fachausschuss Vergabekriterien“ aus Vertrete-
rinnen und Vertretern des Bundes, der Kommunen, der Länder und von
Nichtregierungsorganisationen werden die Grundlagen für sinnvolle Krite-
rien und Überprüfungswege erarbeitet, auf die sich dann die vergebenden
Stellen beziehen können.

● Der Fachausschuss soll aussagekräftige Zertifikate für soziale und ökologi-
sche Kriterien finden, bewerten und ggf. neu etablieren. Entsprechend dem
EU-Biosiegel oder dem Umweltzeichen werden z. B. Siegel zur Einhaltung
der ILO-Kernarbeitsnormen (u. a. Verbot von Sklavenarbeit, ausbeuterischer
Kinderarbeit; Recht auf gewerkschaftliche Organisation etc.) für die Produk-
tions- und Lieferkette entwickelt.

● Es ist zu prüfen, inwieweit bei der Einführung neuer Zertifikate eine finan-
zielle Förderung durch den Staat notwendig ist und wo diese zu verankern ist.

Dort wo eine Zertifizierung noch fehlt oder unzureichend ist, aber auch bei
bestehender Zertifizierung verschärft sich mit der stärkeren Berücksichtigung
ökologischer und sozialer Kriterien die Kontrollproblematik jenseits der Auf-
tragsvergabe auch während der Auftragsdurchführung. Oft haben nur wenige
Personen, zumeist Mitarbeiter beim Auftragnehmer oder seinen Subunterneh-
mern von derartigen Abweichungen überhaupt Kenntnis. Wirksame Kontrolle
setzt daher auch voraus, dass diese Mitarbeiter die Möglichkeit haben müssen,
ihre diesbezüglichen Bedenken an geeigneter Stelle zum Ausdruck bringen zu
können, ohne hierfür Repressalien befürchten zu müssen (Whistleblower-
schutz). Daneben soll die Einführung weiterer effektiver Kontrollmechanismen
geprüft und gefördert werden.

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