BT-Drucksache 16/8417

zu der Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Dr. Dagmar Enkelmann, Ulrich Maurer, Hüseyin-Kenan Aydin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. - 16/3581 - Zum Stand der Deutschen Einheit und der perspektivischen Entwicklung bis zum Jahr 2020

Vom 5. März 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/8417
16. Wahlperiode 05. 03. 2008

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Dr. Dagmar Enkelmann, Ulrich Maurer, Roland Claus,
Dr. Gesine Lötzsch, Monika Knoche, Petra Pau, Dr. Petra Sitte, Dr. Dietmar Bartsch,
Karin Binder, Dr. Lothar Bisky, Heidrun Bluhm, Eva Bulling-Schröter, Dr. Martina
Bunge, Diana Golze, Lutz Heilmann, Hans-Kurt Hill, Ulla Jelpke, Dr. Lukrezia
Jochimsen, Dr. Hakki Keskin, Katja Kipping, Jan Korte, Katrin Kunert, Michael
Leutert, Dorothee Menzner, Kersten Naumann, Wolfgang Neskovic, Elke Reinke,
Dr. Ilja Seifert, Frank Spieth, Dr. Kirsten Tackmann, Jörn Wunderlich und der
Fraktion DIE LINKE.

zu der Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Dr. Dagmar Enkelmann,
Ulrich Maurer, Hüseyin-Kenan Aydin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE.
– Drucksache 16/3581 –

Zum Stand der Deutschen Einheit und der perspektivischen Entwicklung
bis zum Jahr 2020

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Mehr als 17 Jahre nach Herstellung der Deutschen Einheit kann von gleichwer-
tigen Lebensverhältnissen in Ost- und Westdeutschland keine Rede sein. Trotz
eines leichten wirtschaftlichen Aufschwungs bleiben die neuen Länder weiter
zurück. So ist die Arbeitslosigkeit im Schnitt doppelt so hoch wie im Westen.
Der Rückstand bei den Einkommen der privaten Haushalte, der abhängig Be-
schäftigen sowie der älteren Bürgerinnen und Bürger beträgt zwischen 15 und
35 Prozent. Die öffentlichen Haushalte der Länder und Kommunen im Osten
sind weniger als zur Hälfte aus eigenem Steueraufkommen finanziert. Unver-
mindert wandern qualifizierte Menschen, insbesondere junge Frauen, aus den
ostdeutschen Ländern ab. Kleinere und mittlere Unternehmen verfügen nach
wie vor über zu wenig Eigenkapital, einen schlechten Marktzugang und feh-
lende Innovationskraft. Das ökonomische und soziale Gefälle innerhalb der ost-

deutschen Länder verstärkt sich darüber hinaus stetig. Diese unhaltbaren
Zustände und Entwicklungen vertiefen die innerdeutsche Spaltung und müssen
behoben und umgekehrt werden.

Viele der wirtschaftlichen und sozialen Probleme, unter denen die gesamte Bun-
desrepublik Deutschland leidet, treten in Ostdeutschland in verschärfter Form zu
Tage. Dazu gehören die enorme Zunahme prekärer Beschäftigung, die fehlenden

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Perspektiven insbesondere für Langzeitarbeitslose, die schnell steigende Kin-
der- und Altersarmut, die unterfinanzierten kommunalen und Länderhaushalte,
die zu geringen Investitionen in Forschung, Bildung und Kinderbetreuung sowie
die rasche Überalterung der Gesellschaft.

Den Aufbau Ost voranzubringen, bedeutet zunächst in der gesamten Bundesre-
publik Deutschland einen Paradigmenwechsel hin zu einer sozial gerechten,
solidarischen und ökologisch orientierten Politik einzuleiten. Dazu zählen die
Einführung eines bundesweiten gesetzlichen Mindestlohns von 8,44 Euro Brutto-
stundenlohn, die Überwindung der Hartz-IV-Gesetze, die Umwandlung der ge-
setzlichen Rentenversicherung in eine den Lebensstandard sichernde Erwerbs-
tätigenversicherung, die Einrichtung eines eigenständigen Sektors dauerhaft
öffentlich geförderter Beschäftigung sowie eine Steuerreform, die Großunter-
nehmen, Vermögende und Besserverdienende einen angemessenen Beitrag zum
Gemeinwohl leisten lässt.

Damit werden wichtige Voraussetzungen geschaffen, um die besonderen Pro-
bleme in Ostdeutschland zu lösen und die grundgesetzlich vorgeschriebene
Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse zu erreichen. Diesem Ziel dienen zwar
auch die Mittelzuweisungen im Rahmen des Solidarpakts II, aber diese werden
ab 2009 deutlich sinken, um dann 2019 auszulaufen. Aus diesem Grund sind zu-
sätzliche Anstrengungen des Bundes gefordert, um die Situation bei Beschäfti-
gung, Einkommen und Investitionen in den neuen Ländern zielgerichtet zu ver-
bessern.

Notwendig ist ein Gesamtkonzept für den Aufbau Ost, um bis zum Jahr 2019
eine selbsttragende wirtschaftliche Entwicklung in Gang zu bringen. Dies muss
einer der Schwerpunkte eines von der Bundesregierung zu beschließenden Zu-
kunftsinvestitionsprogramms in Höhe von 40 Mrd. Euro sein. Diese zusätz-
lichen Ausgaben sollen in die Bereiche Gesundheit, Bildung, öffentliche Be-
schäftigung, Energie- und Verkehrswende sowie in die kommunale Infrastruktur
fließen. In vielen dieser Bereiche besteht gerade im Osten ein hoher Investitions-
bedarf.

Um die Einkommensschere zu schließen, ist ein mit den Tarifparteien abge-
stimmter Zeitplan zur Angleichung der Löhne und Gehälter in den neuen Län-
dern an das westdeutsche Niveau aufzustellen sowie ein Fahrplan zur schnellst-
möglichen schrittweisen Angleichung des Rentenwerts (Ost) an den Rentenwert
(West), spätestens in fünf Jahren, zu beschließen. Um eine Angleichung der
wirtschaftlichen Leistungskraft zu erreichen, um die Abwanderung zu stoppen,
ist von der Bundesregierung sowie den ostdeutschen Landesregierungen und
Kommunen eine regional abgestimmte Struktur-, Wirtschafts- und Arbeits-
marktpolitik zu erarbeiten, die älteren Beschäftigten ebenso Perspektiven ver-
schafft wie Auszubildenden und Hochschulabsolventinnen und -absolventen.
Zur Bekämpfung von Kinderarmut muss zudem bundesweit eine individuelle
und bedarfsorientierte Kindergrundsicherung eingeführt werden.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

parallel zum Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit 2008 in Abstim-
mung mit den Vertreterinnen und Vertretern der ostdeutschen Länder und Kom-
munen sowie den Gewerkschaften und Verbänden ein Gesamtkonzept für den
Aufbau Ost bis zum Jahr 2019 zu erarbeiten, das dem Deutschen Bundestag im
Oktober 2008 zur Beschlussfassung vorgelegt wird.

Im Rahmen dieses Gesamtkonzeptes sind folgende Eckpunkte zu berücksichti-
gen:

1. Initiierung einer selbsttragenden wirtschaftlichen Entwicklung in Ost-

deutschland spätestens bis 2019, dazu gehören unter anderem

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a) staatliche Bund-Länder-Kapitalbeteiligungsprogramme zur Finanzierung
insbesondere innovativer kleiner und mittlerer Unternehmen, zum Bei-
spiel durch Bürgschaftsprogramme oder stille Beteiligungen,

b) besserer Zugang insbesondere von kleinen mittelständischen Unterneh-
men zu öffentlichen Förderkreditprogrammen – nach eingehender Prü-
fung von bestehenden Hürden und Förderlücken durch Bund und Länder,

c) die Entwicklung von Anreizen für die öffentliche Hand zur vorrangigen
Vergabe öffentlicher Aufträge an regional ansässige Unternehmen,

d) die Einführung einer stärker die Gewinn- und Unternehmenseinkommen
belastenden Steuerpolitik sowie die Erhöhung des Spitzensteuersatzes der
Einkommensteuer zur Stabilisierung der öffentlichen Einnahmen insbe-
sondere der Kommunen und der solidarischen Sicherungssysteme,

e) ein Bundesprogramm Regionalumbau, um auch für Bürgerinnen und Bür-
ger in strukturschwachen Regionen den Zugang zu Gütern der öffentli-
chen Daseinsvorsorge wie zum Beispiel öffentlicher Personennahverkehr,
Telekommunikation, Wasser, Abwasser und Müllentsorgung zu sichern,

f) die Entwicklung und Umsetzung integrierter Konzepte der Energieeinspa-
rung, der Kraft-Wärme-Kopplung und der umfassenden Nutzung regene-
rativer Energiequellen;

2. Angleichung der Einkommen der privaten Haushalte und abhängig Beschäf-
tigten, dazu gehören unter anderem

a) die schnellstmögliche schrittweise Angleichung des Rentenwerts (Ost) an
den Rentenwert (West), spätestens innerhalb von fünf Jahren,

b) die schnellstmögliche Schließung der rentenrechtlichen Lücken und die
Beseitigung von Ungerechtigkeiten, die bei der Überführung der DDR-
Altersversorgungssysteme ins bundesdeutsche Recht entstanden sind,

c) die schnellstmögliche Angleichung der Löhne und Gehälter in Ost-
deutschland an das westdeutsche Niveau;

3. Ausweitung des Arbeitsplatzangebotes sowie die Bekämpfung von Armut,
hierzu gehören unter anderem

a) die Einführung einer bedarfsorientierten und armutsvermeidenden sozia-
len Grundsicherung,

b) die massive Schaffung von öffentlich geförderten Arbeitsverhältnissen,
insbesondere für Langzeitarbeitslose, zu einem Mindestlohn von 8,44 Euro
Stundenbruttolohn, sowie die Verzahnung dieser geförderten Beschäf-
tigung mit einer langfristigen regionalen Strukturpolitik,

c) die Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns von
8,44 Euro Stundenbruttolohn;

4. Stärkung der Forschungs- und Bildungslandschaft, dazu gehören unter ande-
rem

a) die gleichwertige Anerkennung der in der DDR erworbenen Berufs- und
Hochschulabschlüsse, soweit dies noch nicht geschehen ist,

b) die Einführung eines bundeseinheitlichen Schulsystems,

c) die Stärkung der frühkindlichen Förderung durch einen Ausbau und Erhalt
von Kinderbetreuungsplätzen sowie die Einführung eines Rechtsan-
spruchs auf beitragsfreie Bildung, Erziehung und Betreuung der Kinder
von Anfang an,
d) der Ausbau von Weiterbildungs- und Qualifizierungsprogrammen beson-
ders für Langzeitarbeitslose, um dem sich verschärfenden Mangel an

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Fachkräften in Ostdeutschland zu begegnen, sowie die Entwicklung inno-
vativer Programme zur Bekämpfung von Fachkräftemangel bei gleichzei-
tig hoher Arbeitslosigkeit,

e) die Ausweitung öffentlich finanzierter Forschungsförderung, insbeson-
dere für ostdeutsche Hochschulen und Fachhochschulen, die von einer
allein an wettbewerblichen Kriterien orientierten Mittelvergabe am we-
nigsten profitieren.

Berlin, den 4. März 2008

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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