BT-Drucksache 16/7468

Hilfe für irakische Flüchtlinge ausweiten - im Irak, in Nachbarländern und in Deutschland

Vom 12. Dezember 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/7468
16. Wahlperiode 12. 12. 2007

Antrag
der Abgeordneten Jürgen Trittin, Josef Philip Winkler, Omid Nouripour, Marieluise
Beck (Bremen), Volker Beck (Köln), Alexander Bonde, Dr. Uschi Eid, Thilo Hoppe,
Ute Koczy, Monika Lazar, Jerzy Montag, Kerstin Müller (Köln), Winfried Nachtwei,
Claudia Roth (Augsburg), Irmingard Schewe-Gerigk, Rainder Steenblock,
Hans-Christian Ströbele, Silke Stokar von Neuforn, Wolfgang Wieland und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Hilfe für irakische Flüchtlinge ausweiten – im Irak, in Nachbarländern und
in Deutschland

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Nach Schätzung des UNHCR verlassen derzeit jeden Monat 60 000 Irakerinnen
und Iraker ihr Land, weil sie unmittelbar von Verfolgung durch terroristische und
gewaltbereite Gruppen, aber auch seitens staatlicher und semi-staatlicher Stellen
bedroht sind. Damit hat den Nahen Osten die größte Flüchtlingswelle seit dem
Beginn der palästinensischen Flüchtlingskrise mit Beginn des israelisch-paläs-
tinensischen Konflikts 1948 ergriffen. Seit 2006 stellen Irakerinnen und Iraker
den Hauptteil der Asylsuchenden in Europa. Besonders betroffen sind Angehö-
rige ethnischer und religiöser Minderheiten, darunter zum Beispiel Christen,
Yesiden, Mandäer, Sabäer und Palästinenser sowie Frauen und Angehörige be-
stimmter Berufsgruppen wie Ärztinnen und Ärzte, Journalistinnen und Journa-
listen, Hochschullehrerinnen und Hochschullehrer.

Nach dem US-geführten Angriff auf den Irak und dem folgenden blutigen Bür-
gerkrieg hat das Ausmaß von Flucht und Vertreibung eine neue Dimension er-
reicht: Derzeit ist nach Angaben des UNHCR mit ca. 4,4 Millionen Menschen
fast ein Sechstel aller Irakerinnen und Iraker auf der Flucht. Davon sind 2,2 Mil-
lionen Binnenflüchtlinge (Internally Displaced Persons) und 2,2 Millionen in
die Nachbarländer geflüchtet.

Die Binnenvertriebenen stammen zumeist aus Bagdad und sind vor der eskalier-
ten Gewalt in der Hauptstadt in den Norden und Süden geflohen. In den drei
nördlichen Provinzen halten sich nach Angaben des UNHCR 743 000 Binnen-
flüchtlinge auf. Allein seit dem schweren Anschlag in Samarra im Februar 2006
sind 1 Million Menschen auf der Flucht, von denen nach einem Bericht der

International Organization for Migration (IOM) ca. 150 000 Flüchtlinge in die
Region Kurdistan-Irak geflohen sind. Die meisten Flüchtlinge und ihre Familien
leben in extrem schwierigen Wohnverhältnissen, haben keine Möglichkeit zu
arbeiten und kaum Zugang zu Bildungswesen und sozialen Dienstleistungen.
Viele leiden unter den Nachwirkungen von Verfolgung und Gewalt. Desolat
ausgestattete Flüchtlingslager nehmen nur einen Bruchteil der Flüchtlinge auf,
während der Großteil in städtischen Ballungsräumen lebt. Die Sicherheitslage

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hat sich verschärft. Aufgrund des hohen wirtschaftlichen und sicherheitspoli-
tischen Drucks haben die drei kurdischen sowie mehrere andere Provinzen seit
Anfang 2007 den Zugang von Binnenflüchtlingen massiv eingeschränkt. Flücht-
linge brauchen einen Bürgen, unterliegen strengen Sicherheitsauflagen oder
können gar nicht einreisen. Insbesondere für nicht im kurdischen Norden ver-
netzte Personen scheidet diese Fluchtalternative aus. Internationale Hilfsorgani-
sationen können aufgrund der schwierigen Sicherheitslage im Irak nur einge-
schränkt operieren.

Besonders die Nachbarländer Syrien und Jordanien sind von der Flüchtlings-
katastrophe betroffen. Durch ca. 750 000 Irakerinnen und Iraker im lediglich
sechs Millionen Einwohner zählenden Jordanien und ca. 1,4 Million in Syrien
entstehen enorme wirtschaftliche, soziale und politische Herausforderungen.
Libanon, Ägypten und die Türkei sind weitere Hauptzufluchtsländer. Sie stehen
durch die hohe Zahl von Schutzsuchenden vor enormen Herausforderungen und
haben bereits viele eigene Beiträge geleistet, aber in jüngster Zeit die Einreise
für Flüchtlinge aus dem Irak massiv erschwert. Sie werden nicht als „Flücht-
linge“ anerkannt, sondern von den Regierungen lediglich als befristete „Gäste“
ohne dauerhaften Aufenthaltsstatus angesehen. Nur ca. 180 000 Personen sind
in Irak und Nachbarländern beim UNHCR als Flüchtlinge registriert und kom-
men in den Genuss der entsprechenden Unterstützung. 15 Prozent von ihnen
bedürfen besonderer Betreuung. Der Rest wird bisher im Wesentlichen durch
soziale Netzwerke, Freunde und Familie unterstützt. Die Einreisebedingungen
in Jordanien wurden ebenso verschärft wie in Syrien, wo seit 1. Oktober 2007
keine 6-Monatsvisa für arabische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger mehr aus-
gegeben werden. Die syrische Regierung hat ebenfalls den Arbeitsmarkt für
irakische Flüchtlinge geschlossen. Die Lage der Flüchtlinge vor allem in Am-
man und Damaskus ist prekär, der Bevölkerungszuwachs hat zu hohen Steige-
rungen der Lebenshaltungen geführt. Alleinstehende Frauen, Alte, Kranke, trau-
matisierte Flüchtlinge und besonders arme Familien sind besonders abhängig
von Hilfe. Gerade die Situation der Frauen ist prekär. Vielen bleibt kein anderer
Ausweg als die Prostitution. Das Flüchtlingskommissariat der UN spricht in die-
sem Zusammenhang sogar von „survival sex“. Den Flüchtlingen wird oftmals
mit großem Misstrauen begegnet, von Seiten der Regierungen werden sie als
Bedrohung der Stabilität und als Sicherheitsrisiko wahrgenommen. Vor dem
Hintergrund der zunehmenden Spannungen und verschärften Sicherheitslage im
Nordirak ist zudem zu befürchten, dass Flüchtlingen der Zugang in die Türkei
verwehrt wird und sich ihre dortige aufenthaltsrechtliche Situation verschlech-
tert.

Die internationale Gemeinschaft hat bisher unzureichend auf die Flüchtlings-
katastrophe reagiert. Die USA als Hauptakteur im Irak haben ihre besondere
Verantwortung bisher unzureichend wahrgenommen. Lediglich einige Hundert
Flüchtlinge wurden seit der Invasion 2003 bisher von den USA, dagegen allein
9 000 von Schweden aufgenommen. Der UNHCR hat über 13 000 besonders
hilfsbedürftige Personen zur Repatriierung in Drittländern identifiziert, von de-
nen bisher nur wenige Hundert in die Zielländer ausreisen konnten. In der EU
gab es einen Vorstoß von Großbritannien, den Niederlanden und Schweden für
eine gemeinsame Aufnahme (Resettlement), die aber von der deutschen Rats-
präsidentschaft nicht aufgegriffen wurde.

IOM und UN plädieren eindringlich für eine massive Aufstockung der humani-
tären Hilfe für Binnenflüchtlinge im Irak und den Flüchtlingen in den Nachbar-
ländern. Der Hohe Kommissar der UN Antonio Guterres hat auch angesichts der
jüngsten Spannungen im Nordirak vor einer Verschlimmerung der Lage gewarnt
und eine Erhöhung der internationalen Hilfe gefordert. Finanzielle Mittel und
Ressourcen für eine humanitäre Grundversorgung und die Unterbringung der

Flüchtlinge fehlen. Ohne eine massive Verstärkung zur Hilfe für die Flüchtlinge
in- und außerhalb des Iraks droht eine humanitäre Katastrophe sowie eine

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Destabilisierung dieser gesamten Nachbarregion der EU. Die EU muss dieser
Krise mit größerem politischem Gewicht entgegentreten. Eine kurzfristige Sta-
bilisierung des Irak ist nicht zu erwarten. Deshalb müssen umfangreiche Maß-
nahmen zur Unterstützung der Flüchtlinge in- und außerhalb des Iraks ergriffen
werden. Als erster Schritt fand am 17./18. April 2007 in Genf die Unterstüt-
zungskonferenz „International Conference on Addressing the Humanitarian
Needs of Refugees and Internally Displaced Persons inside Iraq and in Neigh-
bouring Countries“ des UNHCR statt, zu dem die Bundesregierung einen Bei-
trag von 1 Mio. Euro leistete. Diese Mittel müssen substantiell aufgestockt wer-
den. Eine neue internationale Flüchtlingskonferenz sollte einberufen werden, in
der auch die Frage von Ansiedlung in Drittländern diskutiert werden muss. Denn
einige Flüchtlinge, darunter z. B. einige Angehörige religiöser und ethnischer
Minderheiten und ca. 13 000 im Grenzgebiet festgesetzte heimatlose Palästinen-
ser, werden nicht in den Irak zurückkehren können.

Trotz der schwierigen Lage im Irak und der hohen Anzahl an Binnenvertriebe-
nen hat die Innenministerkonferenz mit Beschluss vom 16./17. November 2006
den Abschiebestopp in den Irak aufgehoben. Abschiebungen aus Deutschland in
den Norden sind völlig unverantwortlich, da sie geeignet sind, den kurdischen
Norden des Irak in einer Umbruchsituation und schwierigen ökonomischen
Lage zu destabilisieren. Ein Abschiebestopp muss bis auf Weiteres für den ge-
samten Irak gelten. Dies gilt erst Recht für das vom bayerischen Innenministe-
rium verfügte, skandalöse Abschiebevorhaben in die Spannungsregion Kirkuk.

In europaweit einzigartiger Weise hat die Bundesrepublik Deutschland in den
vergangenen 3 Jahren bei anerkannten irakischen Flüchtlingen in Deutschland
18 000 Widerrufsverfahren durchgeführt. Nach massiver Kritik an dieser auf-
enthaltsrechtlichen Verunsicherung hat das Bundesministerium des Innern das
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge im Mai 2007 angewiesen, die Verfah-
ren für bestimmte Gruppen auszusetzen. Das ist zwar richtig, reicht aber nicht
aus. Zum einen müssen auch diejenigen, deren Flüchtlingsstatus bereits wider-
rufen wurde, im Lichte der neuen Erkenntnisse behandelt werden. Zum anderen
wäre aus der Einsicht, dass auch der Nordirak keine adäquate Fluchtalternative
bietet, die Konsequenz eines generellen Abschiebestopps für alle Gruppen zu
ziehen. Auch der Verweis auf eine inzwischen verbesserte Anerkennungspraxis
kann nicht ausreichen, solange nur wenige irakische Flüchtlinge überhaupt die
Chance haben, Deutschland zu erreichen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert daher die Bundesregierung auf,

● im Rahmen der EU und bilateral die Unterstützung für alle irakischen Flücht-
linge massiv zu verstärken;

● insbesondere Syrien und Jordanien bei der Bewältigung der enorm hohen
Zahl von Flüchtlingen zu unterstützen und so zu einer Vermeidung weiterer
regionaler Destabilisierung beizutragen;

● eine internationale Hilfskonferenz für die Flüchtlinge aus dem Irak zu orga-
nisieren und in Koordination mit dem UNHCR eine Aufnahme besonders
bedrohter Personen in Drittländern zu erreichen;

● seitens der Bundesrepublik Deutschland einen angemessenen Beitrag zur
Aufnahme von besonders schutzbedürftigen Flüchtlingen – insbesondere
ethnischen und religiösen Minderheiten – zu leisten. Dazu gehört die aktive
Aufnahme und Integration von Personen, die der UNHCR als besonders
schutzbedürftige Flüchtlinge identifiziert hat, im Rahmen einer Kontingent-
lösung (Resettlement);

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● die UN und den UNHCR massiv in ihrer Hilfe für die Flüchtlinge zu unter-
stützen und eine effektive Hilfe bei der Koordinierung der Registrierung, Un-
terstützung und dem Schutz der Flüchtlinge zu leisten;

● die Abschiebung von Flüchtlingen in den Irak ohne Ausnahmen zu unterlas-
sen und bei der Anerkennung von Asylbewerbern langfristig von der tatsäch-
lichen Sicherheitslage im Lande auszugehen;

● Widerrufsverfahren gegenüber allen in Deutschland lebenden irakischen
Flüchtlingen auszusetzen und Fälle, in denen in den letzten Jahren ein Wider-
ruf des Asyl- oder Flüchtlingsstatus erfolgt ist, von Amts wegen erneut auf-
zugreifen;

● Anträgen von Irakern auf Familiennachzug nach Deutschland humanitär und
unbürokratisch zu entsprechen;

● in der Region Kurdistan-Irak eine dauerhafte deutsche Präsenz in Form eines
Konsulats und eines entsandten Mitarbeiters des Auswärtigen Amts einzu-
richten, um vor Ort die Hilfe für die Flüchtlinge besser koordinieren zu kön-
nen und eine weitere Destabilisierung der Region zu verhindern.

Berlin, den 12. Dezember 2007

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

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