BT-Drucksache 16/7029

Kein Versorgungsunrecht bei den Zusatz- und Sonderversorgungen der DDR

Vom 7. November 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/7029
16. Wahlperiode 07. 11. 2007

Antrag
der Abgeordneten Dr. Martina Bunge, Dr. Gregor Gysi, Klaus Ernst, Dr. Dietmar
Bartsch, Dr. Lothar Bisky, Roland Claus, Dr. Dagmar Enkelmann, Lutz Heilmann,
Cornelia Hirsch, Dr. Barbara Höll, Dr. Lukrezia Jochimsen, Katja Kipping,
Jan Korte, Katrin Kunert, Dr. Gesine Lötzsch, Kersten Naumann, Petra Pau,
Bodo Ramelow, Elke Reinke, Volker Schneider (Saarbrücken), Dr. Ilja Seifert,
Dr. Petra Sitte, Frank Spieth, Dr. Kirsten Tackmann, Jörn Wunderlich, Sabine
Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

Kein Versorgungsunrecht bei den Zusatz- und Sonderversorgungen der DDR

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Alterssicherungssysteme sind in der DDR – wie in der Bundesrepublik
Deutschland – sehr vielgliedrig für unterschiedliche Berufsgruppen gewesen.
Neben Renten aus der Sozialversicherung gab es Zusatzversorgungen, die darauf
aufstockten, und Sonderversorgungssysteme, die eine eigenständige Versorgung
darstellten. Dem ähnlich gibt es in der Bundesrepublik Deutschland bei der
Alterssicherung die gesetzliche Rente, die mit den Versorgungen von Bund und
Ländern oder Betriebsrenten ergänzt wird, oder die Beamtenversorgung oder
Berufsständische Versorgungswerke, die eigenständige Sicherungen darstellen.

Im Prozess der Herstellung der Einheit Deutschlands wurden diverse Regelun-
gen zur Wahrung und Überführung der Ansprüche und Anwartschaften aus den
Versorgungssystemen der DDR getroffen. Festlegungen dazu finden sich im
Artikel 20 des Staatsvertrages über die Wirtschafts-, Währungs- und Sozial-
union vom 18. Mai 1990, im Rentenangleichungsgesetz der letzten Volkskam-
mer der DDR vom 28. Juni 1990 und im Einigungsvertrag vom 31. August
1990. Während mit diesen Dokumenten die rechtmäßig erworbenen Ansprüche
und Anwartschaften im Wesentlichen gewahrt blieben und überführt werden
sollten, wurde mit dem Rentenüberleitungsgesetz im Anspruchs- und Anwart-
schaftsüberführungsgesetz – AAÜG (vom 25. Juli 1991) die alleinige Überfüh-
rung dieser Versorgungen in die gesetzliche Rente nach dem Sechsten Buch So-
zialgesetzbuch (SGB VI) beschlossen, wodurch große Teil der Versorgungsan-
sprüche und -anwartschaften liquidiert wurden.

Das Bundesverfassungsgericht hat am 28. April 1999 mit seinem Leiturteil

diese Art und Weise der Überführung nicht als verfassungswidrig erklärt. Die
Respektierung dieser Systementscheidung wurde zusammenfassend damit be-
gründet, dass es in der Opportunität eines Nachfolgestaates liegt, wie er mit den
Versorgungen eines Vorgängerstaates umgeht, wenn die Existenzsicherung
grundsätzlich gewahrt bleibt.

Die alleinige Überführung aller Zusatz- und Sonderversorgungen der DDR in
die gesetzliche Rente der Bundesrepublik Deutschland führte zu gravierenden

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Unterschieden in der Alterssicherung gleicher Berufsgruppen in Ost und West.
Ruheständlerinnen und Ruheständler Ost beziehen teilweise nur 30 bis 50 Pro-
zent der Bezüge ihrer Berufs- und Altersgefährtinnen und -gefährten West. Das
wird als Versorgungsunrecht empfunden. Der soziale Frieden gebietet es 17
Jahre nach der Herstellung der Einheit Deutschlands, diese rechtliche Regelung
zu hinterfragen und eine gerechtere Lösung zu finden, die sich ebenfalls im Rah-
men des Grundgesetzes bewegt.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

bis spätestens 30. Juni 2008 ein Gesetz vorzulegen, das folgende Vorgaben um-
setzt:

1. Es wird ein befristetes Versorgungssystem „sui generis“ eingerichtet.

2. Dieses Versorgungssystem besonderer Art gewährt Leistungen für Ver-
sicherte, die vormals

– Zusatzversorgungssystemen der wissenschaftlichen, pädagogischen, medi-
zinischen, künstlerischen und technischen Intelligenz (AAÜG, Anlage 1,
Nr. 1 und 4 bis 18) und für Leiterinnen und Leiter spezieller Wirtschafts-
bereiche, für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Staatsapparates, der
Parteien und gesellschaftlichen Organisationen (AAÜG, Anlage 1, Nr. 2,
3, 19 bis 27) bzw.

– Sonderversorgungssystemen von Schutz und Sicherheitsorganen (AAÜG,
Anlage 2, Nr. 1 bis 3)

zugeordnet waren, die über die begrenzten Ansprüche der gesetzlichen Rente
hinausgehen.

3. Anspruchsberechtigt sind sowohl versorgungsberechtigte Ruheständlerinnen
und Ruhständler, die bis zum 31. Dezember 1993 bzw. 30. Juni 1995 Ver-
gleichsrentenberechnungen nach DDR-Recht erhielten, als auch Zugangs-
rentnerinnen und -rentner späterer Zeitpunkte, die nicht in bundesdeutsche
Versorgungssysteme einbezogen wurden, und auch diejenigen, die in bundes-
deutsche Versorgungen einbezogen wurden, deren DDR-Zugehörigkeitszei-
ten zu einem Zusatz- oder Sonderversorgungssystem aber nicht anspruchsbe-
gründend berücksichtigt werden. Nach der Spezifik der Betroffenheit werden
differenzierte Lösungen erforderlich sein.

Eine zu DDR-Zeiten ausgestellte Urkunde darf nicht allein anspruchsbegrün-
dend sein, sondern es sind auch aus unterschiedlichen Motiven bis zum
Schluss ausgegrenzte Personengruppen in die Überführung der Versorgungs-
systeme einzubeziehen.

4. Das Versorgungssystem „sui generis“ ist in erster Linie durch Mittel des Bun-
deshaushalts unter Mitwirkung der neuen Länder zu finanzieren.

Berlin, den 7. November 2007

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

Begründung

In der Problemstellung für das Rentenüberleitungsgesetz (Bundestagsdruck-
sache 12/405) steht expressis verbis: „Nach dem Einigungsvertrag sind Ansprü-

che und Anwartschaften aus Zusatz- und Sonderversorgungssystemen in die
Rentenversicherung zu überführen. Der Einigungsvertrag sieht hierfür

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bestimmte Maßgaben vor, deren Einhaltung weder zu sachgerechten noch zu
sozialpolitisch vertretbaren Ergebnissen führen würde. Die Vorgaben des Eini-
gungsvertrages … sind deshalb nicht einzuhalten.“

Wenn der Einigungsvertrag (Anlage II, Kapitel VIII, Sachgebiet H, Abschnitt III,
Punkt 9) vorgibt, dass „Ansprüche und Anwartschaften … nach Art, Grund und
Umfang den Ansprüchen und Anwartschaften nach den allgemeinen Regelungen
der Sozialversicherung … unter Berücksichtigung der jeweiligen Beitragszah-
lungen anzupassen sind, wobei ungerechtfertigte Leistungen abzuschaffen und
überhöhte Leistungen abzubauen sind sowie eine Besserstellung gegenüber ver-
gleichbaren Ansprüchen und Anwartschaften aus anderen öffentlichen Versor-
gungssystemen nicht erfolgen darf …“, sind andere Regelungen des Gesetz-
gebers möglich als die im Rentenüberleitungsgesetz getroffenen.

Das von der Volkskammer der DDR verabschiedete Rentenangleichungsgesetz
vom Juni 1990 hatte dafür vorgesehen, dass „Grundlage für die Berechnung die-
ser Zusatzrente … das der Beitragszahlung zugrunde liegende Einkommen (ist).
Für Berufsgruppen, die einen obligatorischen Rechtsanspruch auf zusätzliche
Versorgungen hatten, ist so zu verfahren, als hätten sie während der Zeit der Zu-
gehörigkeit … eigene Beiträge entsprechend ihren Einkommen gezahlt.“ (§ 24
Abs. 1 Nr. 2). Es ist folglich aus dem Umstand, dass die Versorgungssysteme in
Wendezeiten „geschlossen“ wurden, nicht abzuleiten, dass damit die Ansprüche
liquidiert werden sollten. Im Gegenteil, es wurde ein Weg der Wahrung der An-
sprüche fixiert, zu dessen Umsetzung es in einem zweiten Gesetz nicht mehr
kam, weil der Prozess der Einheit eine Dynamik annahm, die dies verhinderte.

Ob dieser – von der Volkskammer angezeigte – Weg unter bundesdeutschen Be-
dingungen gegangen oder ein anderer Weg gesucht wird, ist zweitrangig. Wich-
tig ist, dass Lebensbiografien nicht weiter diskreditiert, sondern anerkannt wer-
den. Der Einigungsvertrag hat unmissverständlich die Grenze benannt: Es darf
keine Besserstellung gegenüber vergleichbaren Versorgungen für Ruheständ-
lerinnen und Ruheständler West geben.

Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Leiturteil vom 28. April 1999 seine
Grundsatzentscheidung zur Bestätigung des Systementscheids unter die Bedin-
gung gestellt, dass zumindest die dynamisierten Zahlbeträge nach DDR-Recht
für Bestandsrentnerinnen und -rentner und für Zugänge bis 30. Juni 1995 garan-
tiert werden. Dieser Eigentumsschutz sollte auch für spätere Ruhestandsjahr-
gänge zur Geltung gebracht werden. Geregelt werden muss ebenfalls, dass ren-
tennahe Jahrgänge, die Anfang der 90er Jahre aus Arbeitslosigkeit oder diversen
arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen vorzeitig in den Ruhestand gedrängt wur-
den, ihre Versorgung auch nach DDR-Recht berechnet bekommen. Das unter-
blieb, weil es bei etlichen Versorgungssystemen in der DDR keinen Anspruch
auf Leistungen aus dem System vor Vollendung des 60. bzw. 65. Lebensjahres
(differenziert bei Frauen und Männern) gab. Hier muss der Vertrauensschutz
wiederhergestellt werden.

Die zusätzlichen Ansprüche sollten auf jeden Fall außerhalb der gesetzlichen
Rentenversicherung organisiert werden, um nicht präjudizierend zu wirken. Das
besondere System „sui generis“ ist zeitweilig, weil die Ansprüche und Fälle
überschaubar abgeschlossen werden können. Außerdem sollte es rechtssystema-
tisch über eine reine Steuerfinanzierung laufen.

Dabei geht es nicht um die Gewährung ausufernder Beträge. Für viele, gerade
diejenigen, die nach gravierenden Änderungen durch den Einheitsprozess einen
zweiten beruflichen Lebensabschnitt finden mussten, ist der Verweis nur auf eine
gesetzliche Rente für die DDR-Zeiten keinesfalls Lebensstandard sichernd. Es
geht um eine der Lebensleistung der betroffenen Personen angemessene Alters-
versorgung.

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Unter dem Aspekt einer der Lebensleistung angemessenen Altersversorgung
sind auch andere Zugangsvoraussetzungen angezeigt. Die Praxis der Zuerken-
nung per Urkunde ist zum Teil auch von anderen Bedingungen geprägt gewesen.
So wurden beim Zusatzversorgungssystem der technischen Intelligenz (AAÜG,
Anlage 1, Nr. 1), das bereits 1950 geschaffen wurde, im Laufe der Jahre unprä-
zise Formulierungen genutzt, um die Zahl der Anspruchsberechtigten nicht aus-
ufern zu lassen. Oder: In das Zusatzsystem der künstlerischen Intelligenz
(AAÜG, Anlage 1, Nr. 16) wurden Ende der 80er-Jahre nachträglich auch die
freiberuflich tätigen bildenden Künstlerinnen und Künstler einbezogen, doch
durch die Dynamik des Einigungsprozesses ist die Urkundenübergabe eher zu-
fällig denn systematisch erfolgt.

Das Sonderversorgungssystem der vormaligen Angehörigen des Ministeriums
für Staatssicherheit (AAÜG, Anlage 2, Nr. 4) ist nicht in diese hier geforderten
Regelungen einbezogen, weil es bei ihnen vorerst um die Beseitigung der Ein-
griffe in die Rentenformel geht, um die Abschaffung des sogenannten Renten-
strafrechts.

Insgesamt geht es um eine nicht unwesentliche Zahl von Betroffenen. Mit Be-
ginn des Einigungsprozesses haben nur rund 360 000 von über vier Millionen im
Ruhestand befindlichen Älteren derartige Versorgungen bezogen. Schätzungen
besagen aber, dass es insgesamt etwa vier Millionen Bürgerinnen und Bürger in
den neuen Bundesländern gibt, die Zeiten in einem Zusatz- oder Sonderver-
sorgungssystem zurückgelegt und damit Ansprüche und Anwartschaften auf
Leistungen aus dem jeweiligen System erworben hatten (Bundestagsdrucksache
12/7296 – Antwort der Bundesregierung auf die schriftliche Frage Nummer 37).

Die finanziellen Auswirkungen sind abhängig von der letztlich angestrebten Re-
gelung. Allerdings sollte dieser Aspekt zweitrangig sein, wenn selbst der Aus-
schuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte der Vereinten Nationen
bei der Behandlung des Berichts der Bundesrepublik Deutschland den Vertrags-
staat aufforderte, „als einen Akt nationaler Versöhnung zu sichern, dass den Mit-
arbeitern des öffentlichen Dienstes, Fachleuten und Wissenschaftlern, die mit
dem alten Regime in der ehemaligen DDR verbunden waren, Entschädigung ge-
währt wird sowie zu sichern, dass solche Entschädigung sowohl adäquat als
auch fair ist, um so viele wie möglich von ihnen in den Hauptstrom des Lebens
in Deutschland einzubeziehen und/oder ihnen faire Kompensation oder, soweit
angebracht, angemessene Rentenregelungen anzubieten“. Das forderte der Aus-
schuss am 2. Dezember 1998; der Bundestag setzt nun diesen Appell wenigstens
zehn Jahre danach um.

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