BT-Drucksache 16/7019

Keine Diskriminierungen und Ungerechtigkeiten gegenüber Älteren in den neuen Bundesländern bei der Überleitung von DDR-Alterssicherungen in das bundesdeutsche Recht

Vom 7. November 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/7019
16. Wahlperiode 07. 11. 2007

Antrag
der Abgeordneten Dr. Martina Bunge, Dr. Gregor Gysi, Klaus Ernst,
Dr. Dietmar Bartsch, Dr. Lothar Bisky, Roland Claus, Dr. Dagmar Enkelmann,
Lutz Heilmann, Cornelia Hirsch, Dr. Barbara Höll, Dr. Lukrezia Jochimsen,
Katja Kipping, Jan Korte, Katrin Kunert, Dr. Gesine Lötzsch, Kersten Naumann,
Petra Pau, Bodo Ramelow, Elke Reinke, Volker Schneider (Saarbrücken),
Dr. Ilja Seifert, Dr. Petra Sitte, Frank Spieth, Dr. Kirsten Tackmann,
Jörn Wunderlich, Sabine Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

Keine Diskriminierungen und Ungerechtigkeiten gegenüber Älteren in den neuen
Bundesländern bei der Überleitung von DDR-Alterssicherungen in das
bundesdeutsche Recht

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Überleitung der Alterssicherungen der DDR in das bundesdeutsche Recht
war im Prozess der Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands eine sehr
komplexe Aufgabe. Fast vier Millionen Renten und Versorgungen sowie mehr
als sieben Millionen Anwartschaften auf Alterssicherung mussten überführt
werden.

Die Art und Weise der Transformation hatte kein Vorbild, und die Aussagen in
verschiedenen Dokumenten der Wendezeit (vom 1. Staatsvertrag vom 18. Mai
1990 über das Rentenangleichungsgesetz der letzten Volkskammer vom 28. Juni
1990 bis zum Einigungsvertrag vom 31. August 1990) wurden und werden sehr
unterschiedlich interpretiert.

Von Anbeginn gab es auch Protest gegen das Rentenüberleitungsgesetz (ein-
schließlich Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetz), das der Bundes-
tag am 21. Juni 1991 verabschiedete, auch wenn viele Ansprüche und Anwart-
schaften reibungslos überführt wurden.

Bestimmte Regelungen waren aber dazu angetan, als Aberkennung von Lebens-
leistung und als Diskriminierung empfunden zu werden. Darüber hinaus zeigten
sich im Laufe der Zeit Lücken in der Überführung, die für viele nicht nur Unge-
rechtigkeiten hervorbringen, sondern schwierige soziale Lagen. Nicht nur Be-
standsrentnerinnen und -rentner sind beschwert, sondern auch Neuzugänge, weil

es viele Konstellationen gibt, die das damalige Gesetz gar nicht erfassen konnte.
Inzwischen haben viele Betroffene den langen Weg der Sozialgerichtsbarkeit
beschritten.

Aus dieser Gesamtsituation heraus ist 15 Jahre nach dem Wirksamwerden eine
gründliche Überprüfung und umfassende Korrektur des Rentenüberleitungsge-
setzes (RÜG) und des Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetzes
(AAÜG) angezeigt.

Drucksache 16/7019 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

die Wirkungen des Rentenüberleitungsgesetzes (einschließlich AAÜG) zu über-
prüfen und spätestens bis zum 30. Juni 2008 Regelungen vorzulegen, die zumin-
dest folgende Problemfelder lösen:

1. Überführungslücken, die dadurch entstanden sind, dass DDR-typische und
mit bundesdeutschen Verhältnissen nicht vergleichbare Sachverhalte gar
nicht oder nur übergangsweise beziehungsweise nicht abschließend geregelt
wurden.

Zu den bisher nicht geregelten Sachverhalten gehören

a) der besondere Steigerungsbetrag bei Beschäftigten des Gesundheits- und
Sozialwesens der DDR,

b) die besondere Situation von in der DDR Geschiedenen,

c) die berufsbezogene Zuwendung für Ballett-Mitglieder,

d) die Ansprüche von Bergleuten der Braunkohleveredlung,

e) Zeiten der Pflege von pflegebedürftigen Angehörigen.

Zu den Sachverhalten, die nur übergangsweise geregelt wurden, gehören

f) Zeiten von Land- und Forstwirten, Handwerkern und anderen Selbständi-
gen sowie deren mithelfenden Familienangehörigen,

g) Zeiten zweiter Bildungswege und Aspiranturen, die unter zeitweiliger
Aufgabe der beruflichen Tätigkeit absolviert wurden,

h) Zeiten für ins Ausland mitreisende Ehepartnerinnen und Ehepartner sowie
im Ausland erworbene Rentenansprüche,

i) sämtliche freiwilligen Beiträge (auch diejenigen in Höhe von nur 3 bis
12 Mark) zur Aufrechterhaltung von Rentenanwartschaften.

2. Zusätzliche Versorgungen der wissenschaftlichen, medizinischen, techni-
schen und künstlerischen Intelligenz sowie der Beschäftigten der Deutschen
Reichsbahn, die durch die alleinige Überführung in die gesetzliche Rente
nach dem Sechsten Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) nicht anerkannt wer-
den.

Behandelt werden müssen auch Versorgungen, die zu DDR-Zeiten bestimmte
Berufsgruppen bzw. Tätigkeitsbereiche umfassten, bei denen aber Versor-
gungszusagen unterblieben, wie beispielsweise bei der technischen Intelligenz.

Einer Klärung und Lösung bedarf auch, wie Weiterbeschäftigte solcher Ver-
sorgungen – insbesondere Professoren „Neuen Rechts“, Beschäftigte des öf-
fentlichen Dienstes, Angehörige von Bundeswehr, Zoll und Polizei – ohne
Lücken in bundesdeutsche Versorgungen einbezogen werden können.

3. Die Abschaffung des Missbrauchs von Rentenrecht als politisches Strafrecht,
also von Sanktionen, die dadurch entstanden, dass bei bestimmten Ansprü-
chen und Anwartschaften willkürliche Eingriffe in die Rentenformel vorge-
nommen wurden: Einkommen wurden unterhalb der Beitragsbemessungs-
grenze gekappt und für die Rentenberechnung nicht anerkannt. Dazu gehören
derzeit noch alle vormaligen MfS-Angehörigen und ausgewählte Beschäfti-
gungsgruppen des Partei- und Staatsapparates der DDR.

III. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung des Weiteren auf,

zwei Jahre nach Inkrafttreten eines Gesetzes zur Korrektur der Rentenüberlei-
tung einen Bericht zur Überprüfung der Umsetzung und Wirkungen vorzulegen,
insbesondere auch hinsichtlich eines Vergleichs der sozialen Lage gleicher Be-
rufsgruppen in Ost und West im Alter.
Berlin, den 7. November 2007

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/7019

Begründung

Prozess der Überleitung

Die Alterssicherungssysteme sind in der DDR wie in der Bundesrepublik
Deutschland sehr vielgliedrig für unterschiedliche Berufsgruppen gewesen.
Neben Renten aus der Sozialversicherung gab es Zusatzversorgungen, die da-
rauf aufstockten, und Sonderversorgungssysteme, die eine eigenständige Ver-
sorgung darstellten. Dem ähnlich gibt es in der Bundesrepublik Deutschland bei
der Alterssicherung die gesetzliche Rente, die mit den Versorgungen von Bund
und Ländern oder durch Betriebsrenten ergänzt wird, oder die Beamtenversor-
gung oder Berufsständische Versorgungswerke, die eigenständige Sicherungen
darstellen.

Im Prozess der Herstellung der Einheit Deutschlands wurden diverse Regelun-
gen zur Wahrung und Überführung der Ansprüche und Anwartschaften aus der
Sozialversicherung und aus Versorgungssystemen der DDR getroffen. Festle-
gungen dazu finden sich im Artikel 20 des Staatsvertrages über die Wirtschafts-,
Währungs- und Sozialunion vom 18. Mai 1990, im Rentenangleichungsgesetz
der Volkskammer der DDR vom 28. Juni 1990 und im Einigungsvertrag vom
31. August 1990. Während durch diese Dokumente die rechtmäßig erworbenen
Ansprüche und Anwartschaften im Wesentlichen gewahrt blieben und überführt
werden sollten, brachte das Rentenüberleitungsgesetz mit dem Anspruchs- und
Anwartschaftsüberführungsgesetz (vom 25. Juli 1991 – veröffentlicht im BGBl. I
S. 1606, 1677) eine Zäsur.

Erstens entstanden Überführungslücken, weil Sachverhalte und Zeiten, die nach
DDR-Recht rentenwirksam wurden, nur noch übergangsweise galten oder er-
satzlos wegfielen.

Zweitens wurden zusätzliche Versorgungen durch die alleinige Überführung in
die gesetzliche Rentenversicherung weitestgehend liquidiert.

Drittens wurde bei als „staatsnah“ deklarierten Versicherten willkürlich in die
Rentenformel eingegriffen – ein historisch einmaliger Akt in der Geschichte der
deutschen Sozialgesetzgebung.

Wille der Volkskammer

Häufig wurden diese Entscheidungen mit dem vermeintlichen Willen der letzten
Volkskammer der DDR begründet. Eine Behauptung, die der Analyse der dama-
ligen Dokumente nicht standhält.

So wurden viele der Zeiten, die in der Bundesrepublik Deutschland keine Ent-
sprechung haben, von der letzten Volkskammer in der „Verordnung über die Ge-
währung und Berechnung von Renten der Sozialpflichtversicherung“ (zuletzt
geändert durch die „Verordnung vom 28. Juni 1990 über die Änderung und
Aufhebung von Rechtsvorschriften“) als weiterhin rentenwirksam bestimmt,
mit dem Ziel, eine geeignete, anspruchswahrende Überführungsform zu finden.
Im RÜG fanden solche Ansprüche allerdings bestenfalls Eingang in den Artikel 2
des „Übergangsrechts nach den Vorschriften des Beitrittsgebietes“, etliche fielen
sofort weg.

Bei den Zusatz- und Sonderversorgungen hatte das Rentenangleichungsgesetz
vom Juni 1990 eine klare Absicht fixiert, indem bestimmt wurde, dass „Grund-
lage für die Berechnung dieser Zusatzrente … das der Beitragszahlung zugrun-
deliegende Einkommen (ist). Für Berufsgruppen, die einen obligatorischen
Rechtsanspruch auf zusätzliche Versorgungen hatten, ist so zu verfahren, als hät-
ten sie während der Zeit der Zugehörigkeit … eigene Beiträge entsprechend ih-
ren Einkommen gezahlt.“ (§ 24 Abs. 1 Nr. 2). Es ist folglich aus dem Umstand,
dass die Versorgungssysteme in Wendezeiten „geschlossen“ wurden, nicht ab-

zuleiten, dass damit die bereits erworbenen Ansprüche liquidiert werden sollten.
Im Gegenteil, es wurde ein Weg zur Wahrung der Ansprüche fixiert, zu dessen

Drucksache 16/7019 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Umsetzung es in einem zweiten Gesetz allerdings nicht mehr kam, weil der Pro-
zess der Einheit eine Dynamik annahm, die dies verhinderte.

Ähnlich ist die Lage beim willkürlichen Eingriff in die Rentenformel. Argumen-
tiert wird damit, dass auch die Volkskammer die Bezüge beispielsweise für die
Angehörigen des MfS gekappt hat. Im „Gesetz über die Aufhebung der Versor-
gungsordnung des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit/Amtes für
Nationale Sicherheit“ vom 29. Juni 1990 gestand die Volkskammer dieser poli-
tisch höchst belasteten Gruppe dennoch das Doppelte der damaligen SV-Rente
zu. Mit dem RÜG wurden dann per 1. Januar 1992 zunächst nur noch 70 Prozent
des durchschnittlichen Einkommens als Grundlage für die Rentenberechnung
anerkannt.

Lösungsnotwendigkeiten und -möglichkeiten

Eine rasche Lösung für alle Problemkreise ist angezeigt, da in den neuen Bun-
desländern die Einkommen aus Rente und Versorgung für Ältere im Wesent-
lichen die einzigen Einkommen sind. Anderweitige private Vorsorge gab es in
der DDR nicht und ist im Rentenalter und bei rentenahen Jahrgängen nicht nach-
holbar. Insofern ist der Gesetzgeber angehalten, insbesondere sozial und mental
untragbare Zustände zu bereinigen.

Es ist nicht einfach, für alle Probleme eine Lösung zu finden. Mit politischem
Willen können jedoch für die jeweils begrenzten Personenkreise lebensbiogra-
fiewahrende Regelungen gestaltet werden. Diese wären für das gesamte bundes-
deutsche Rechtsgefüge nicht präjudizierend, weil die speziellen Fallkonstella-
tionen abgeschlossen sind, also heute nicht mehr neu entstehen.

Bei der Schließung der Überführungslücken geht es in vielen Fällen um die Be-
seitigung finanzieller Notlagen, in denen sich besonders Frauen befinden. Die
zum Teil entwürdigende Hilfebedürftigkeit gegenüber anderen sozialen Siche-
rungssystemen würde beendet.

Auch wenn es in der Opportunität eines Nachfolgestaates liegt, die Versorgun-
gen des untergegangenen Staates anzuerkennen, sind beim Versorgungsunrecht
andere Lösungen als die im AAÜG fixierten angezeigt. Durch das Versorgungs-
unrecht erhalten ältere Vertreterinnen und Vertreter aus den verschiedenen
Bereichen der Intelligenz in den neuen Bundesländern zum Teil gerade einmal
30 bis 50 Prozent der Bezüge ihrer Berufskolleginnen und -kollegen in den alten
Bundesländern.

An anderer Stelle, wie bei den Beschäftigten der Deutschen Reichsbahn, wird
ein historisches Versorgungssystem, das nach der Außerkraftsetzung in der
sowjetischen Besatzungszone seit 1956 in der DDR als Gesamtversorgung mit
einem besonderen Steigerungsfaktor wieder eingeführt wurde, durch das Ren-
tenüberleitungsgesetz liquidiert. Auch bei der Zusammenführung der beiden
deutschen Bahnen im Eisenbahn-Neuordnungsgesetz von 1993 wurde die Ver-
sorgungsordnung der Deutschen Reichsbahn nicht berücksichtigt.

Berufsständische Versorgungen in der Bundesrepublik Deutschland sind ihrer-
seits nicht in der Lage, rückwirkende Lösungen für die aus der DDR hinzu-
gekommenen Berufskolleginnen und -kollegen zu gestalten, da sie auf Kapital-
deckung beruhen.

Bei der Beseitigung der willkürlichen Eingriffe in die Rentenformel ist bei
einem Teil die Lösung sehr einfach und rasch machbar, indem der § 6 Abs. 2 des
AAÜG für die ausgewählten Beschäftigtengruppen des Partei- und Staatsappa-
rats ersatzlos gestrichen wird.

Auch für die ehemaligen MfS-Beschäftigten muss die Wertneutralität des Ren-
tenrechts wieder hergestellt werden. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an

die „heiße Konkurrenz“ der Oppositionsfraktionen zur Korrektur des sogenann-
ten Rentenstrafrechts im Jahre 1995. Nachdem die Fraktion der PDS im Deut-

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 5 – Drucksache 16/7019

schen Bundestag im Januar einen Gesetzentwurf zur Korrektur des RÜG vorge-
legt hatte, konterte die Fraktion der SPD im Mai 1995 mit einem Gesetzentwurf,
der vorsah, den § 7 des AAÜG ersatzlos zu streichen, weil „auch für Angehörige
des Sonderversorgungssystems der Mitarbeiter der Staatssicherheit … dem
Prinzip der Trennung von Sozial- und Strafrecht folgend, die Entgeltpunkt-
begrenzung aufgehoben werden (soll)“ (vgl. Bundestagsdrucksache 13/1542,
S. 4). Seit 1998 ist die SPD in der Regierung; es ist höchste Zeit, ihre damalige
Forderung in die Tat umzusetzen. Aktuell muss für die vom Bundesverfassungs-
gericht geforderte Datenerhebung über die Einkommenshöhe der ehemaligen
MfS-Angehörigen staatliche Unterstützung gegeben und nicht alles auf die Be-
troffenenverbände abgewälzt werden. Das Ergebnis dieser Analyse könnte zur
gesellschaftlichen Akzeptanz für eine Problemlösung beitragen.

Sicher kann der Gesetzgeber Gründe für die getroffenen Regelungen anführen.
Soweit Normen vom Bundesverfassungsgericht als nicht verfassungswidrig ein-
geschätzt wurden (vgl. Leiturteil des BVerfG vom 28. April 1999 zum soge-
nannten Systementscheid), bedeutet das aber nicht, dass der Gesetzgeber nicht
von sich aus die Problemstellungen auf eine andere, ebenfalls verfassungsge-
mäße und gerechtere Weise lösen kann.

Auch die CDU meint, wie aus einem Brief von deren Bundesgeschäftsstelle in
Berlin (Januar 2006) hervorgeht, dass „im Bereich der Rentenüberleitung weiter
Handlungsbedarf“ besteht.

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.