BT-Drucksache 16/5204

Nationaler Diskriminierungsschutz im Europäischen Jahr der Chancengleichheit

Vom 27. April 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/5204
16. Wahlperiode 27. 04. 2007

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Irmingard Schewe-Gerigk, Britta
Haßelmann, Markus Kurth, Monika Lazar, Jerzy Montag, Dr. Gerhard Schick,
Silke Stokar von Neuforn, Hans-Christian Ströbele, Josef Philip Winkler und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Nationaler Diskriminierungsschutz im Europäischen Jahr der Chancengleichheit

Die Europäische Kommission hat 2007 zum „Europäischen Jahr der Chancen-
gleichheit für alle“ erklärt im Rahmen eines konzertierten Konzepts zur Förde-
rung von Chancengleichheit und Nichtdiskriminierung in der EU. Das Euro-
päische Jahr ist Herzstück einer Rahmenstrategie, mit der Diskriminierung
wirksam bekämpft, die Vielfalt als positiver Wert vermittelt und Chancengleich-
heit für alle gefördert werden soll.

Auf nationaler Ebene hat Deutschland mit dem am 18. August 2006 (BGBl. I
S. 1897, 1910) in Kraft getretenen Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz
(AGG) im Hinblick auf einen wirksamen Schutz vor Diskriminierungen einen
wichtigen Schritt getan. Das AGG soll die Umsetzung von vier Richtlinien der
Europäischen Gemeinschaft zum Schutz vor Diskriminierung in nationales
Recht leisten. Die Richtlinien betreffen verschiedene Bereiche unserer Rechts-
ordnung. Der Schwerpunkt liegt im Bereich von Beschäftigung und Beruf, die
Bestimmungen gelten gleichermaßen etwa für Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmer, Auszubildende oder für den öffentlichen Dienst. Betroffen ist aber auch
das Zivilrecht, also Rechtsbeziehungen zwischen Privatpersonen – insbesondere
Verträge mit Lieferanten, Dienstleistern oder Vermietern.

Der Gesetzesbeschluss beruht im Wesentlichen auf einem Gesetzentwurf der da-
maligen rot-grünen Koalition. Durch Änderungen wurden allerdings an ver-
schiedenen Stellen rechtliche Unklarheiten geschaffen, handwerkliche Fehler
und Widersprüchlichkeiten eingebaut und die Richtlinien an einigen Punkten
auch nicht vollständig umgesetzt.

Dies führt auch zu Zweifeln bei der Europäischen Kommission in Brüssel: „Die
Kommission analysiert derzeit die Umsetzung der Richtlinien 2000/43/EG[1],
2000/78/EG[2] und 2002/73/EG[3] in Deutschland. Erforderlichenfalls wird sie
die deutsche Regierung bitten, potenziell problematische Fragen zu klären. An-
hand der eingehenden Antworten und weiterer Bewertungen wird die Kommis-
sion dann entscheiden, ob Deutschland die vorgenannten Richtlinien korrekt

umgesetzt hat.“ (E-5635/06DE)

Nachdem das AGG seit nunmehr rund acht Monaten in Kraft getreten ist, gibt
es erste Rückmeldungen und Erfahrungen mit dem Gesetz in der Praxis. Im Hin-
blick auf die bundesdeutsche Ratspräsidentschaft im europäischen Jahr der
Chancengleichheit dürfte es dabei in einem besonderen Interesse Deutschlands
liegen, dass der nationale Schutz vor Diskriminierung, den das AGG gewähr-
leisten soll, reibungslos funktioniert. Darüber hinaus sollte sichergestellt sein,

Drucksache 16/5204 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

dass das Gesetz die europäischen Antidiskriminierungsrichtlinien lückenlos
umsetzt.

Auf dem Seminarmarkt versuchen Verbände, Bildungseinrichtungen und einige
Juristen mit Kursen über die Anwendung des AGG Geld zu verdienen, indem
sie insbesondere für den Bereich des Arbeitsrechts ungerechtfertigte Ängste
schüren. Dabei sind wesentliche Bestimmungen des AGG im Arbeitsrecht bezo-
gen auf das Kriterium Geschlecht seit über 25 Jahren deutsches Bundesrecht ge-
wesen (§ 611a BGB) und der Anwendungsbereich dieser Bestimmungen wurde
auf die anderen Kriterien des § 1 AGG erweitert. Mit fragwürdigen Behauptun-
gen von Lobbyorganisationen und Parteien wird diese Verunsicherung noch ver-
stärkt und werden Vorurteile geschürt. So wird beispielsweise behauptet, eine
Errichtung eines kostenlosen Betriebskindergartens könne eine Diskriminierung
von Homosexuellen nach dem AGG darstellen (Bundestagsdrucksache 16/3725,
Frage 21).

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Durch welche Stellen und in welcher Weise informiert die Bundesregierung
die Bürgerinnen und Bürger über Inhalt und Anwendungsbereich des AGG?

2. Auf welchen Websites der Bundesregierung und durch welche Broschüren
der Bundesregierung erhalten interessierte Bürgerinnen und Bürger, Vermie-
terinnen und Vermieter, Mieterinnen und Mieter sowie Arbeitgeberinnen, Ar-
beitgeber, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer welche allgemein verständ-
lichen rechtlichen Hinweise, wie man die Rechte nach dem AGG wahrnimmt
und wie man sich diskriminierungsfrei verhalten soll?

3. Gibt es zum AGG und zu dessen Anwendungsbereich einen von der Bundes-
regierung betriebenen Service in Form eines Internetauftritts, und wenn nein,
warum nicht?

4. Teilt die Bundesregierung die Ansicht, dass von interessierter politischer
Seite, von Verbänden und Anbietern von Seminaren für Unternehmen und
Arbeitgeber zum Umgang mit dem AGG teilweise gezielt Fehlinformationen
verbreitet werden, um das AGG zu diskreditieren oder Geld mit Kursen über
das AGG zu verdienen?

5. Wie wirkt die Bundesregierung Fehlinformationen entgegen?

6. Wo hat die Bundesregierung wie darauf aufmerksam gemacht, dass die
Regeln des Arbeitsrechts in § 611a BGB (alt) im Wesentlichen nur auf die
übrigen Kriterien des § 1 AGG übertragen werden und deshalb keinen
zusätzlichen Aufwand oder Bürokosten bei Bewerbungsverfahren verur-
sachen?

7. a) Hält die Bezeichnung „Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz“ was sie
verspricht, indem das AGG die Gleichbehandlung aller Bürgerinnen und
Bürger in allen Rechtsbereichen allgemein und ausnahmslos durchsetzt,
oder schützt das Gesetz nur Bürgerinnen und Bürger rechtlich vor den
Auswirkungen von diskriminierenden Handlungen im Rechtsverkehr?

b) Wenn das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz nicht die Gleichbehand-
lung aller Bürgerinnen und Bürger in allen Rechtsbereichen allgemein und
ausnahmslos durchsetzt, wäre dann die Bezeichnung Antidiskriminie-
rungsgesetz (ADG) nicht sachgerechter?

c) Wie will die Bundesregierung den Widerspruch zwischen gesetzgeberi-
schem Anspruch beim Namen des Gesetzes und dem Regelungsgehalt des
Gesetzes auflösen?

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/5204

8. Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass das AGG Richtlinien der Euro-
päischen Gemeinschaft zum Schutz vor Diskriminierung lückenlos umsetzt,
und wenn nein, in welchen Bereichen nicht?

a) Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass das AGG im Bereich Kün-
digungsschutz und der hier auf Initiative des Bundesrates geschaffenen
Bereichsausnahme in § 2 Abs. 4 AGG mit EU-Richtlinien, namentlich mit
dem dort verankerten Verschlechterungsverbot, kollidiert, und wenn nein,
warum nicht?

b) Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass einzelne Vorschriften des
AGG bezogen auf die Altersdiskriminierung und den insoweit bestehen-
den Anwendungsbereich (vgl. § 10 AGG) nicht europarechtskonform
sind, und wenn nicht, unter Bezug auf welche europäische Richtlinie wird
die Zulässigkeit von Altersdiskriminierung in bestimmten Fällen für zu-
lässig erachtet?

c) Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass das AGG dem vom Euro-
päischen Gerichtshof aufgestellten Erfordernis nach einem „wirksamen,
abschreckenden und verhältnismäßigen“ verschuldensunabhängigen
Schadensersatzanspruch nicht gerecht wird, da im AGG der Anspruch auf
Ersatz des materiellen Schadens verschuldensabhängig ausgestaltet ist,
und wenn nein, mit welcher Begründung?

d) Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass die im AGG festgelegte
Frist zur Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen binnen zwei
Monaten auch im Hinblick auf das in den Richtlinien verankerte Ver-
schlechterungsverbot europarechtskonform ist, und wenn ja, mit welcher
Begründung?

e) Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass bei Geschlechterdiskrimi-
nierung im Hinblick auf das Verschlechterungsverbot die Regelung im
AGG europarechtskonform ist, wonach eine Haftung des Arbeitgebers
nach dem AGG ausscheidet, wenn er einen Tarifvertrag anwendet, und
wenn ja, mit welcher Begründung?

f) Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass mit der Neuformulierung
der zulässigen unterschiedlichen Behandlung wegen beruflicher Anforde-
rungen in § 8 Abs. 1 mehr Raum für Ausnahmen vom Verbot der Ge-
schlechterdiskriminierung (und damit eine Verschlechterung) geschaffen
wurde als vorher?

g) Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass die Regelung im AGG, wo-
nach ein Massengeschäft im Wohnungsbereich in der Regel nur vorliegen
soll, wenn mehr als 50 Wohnungen vermietet werden, europarechtskon-
form ist, und wenn ja, aus welcher Regelung in welcher Richtlinie ergibt
sich dies explizit?

h) Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass die im AGG getroffenen Be-
weislastregeln auch dann europarechtskonform sind, wenn anders als bis-
her im Bereich der Geschlechterdiskriminierung es nicht mehr genügt,
dass die diskriminierte Seite das Gericht von einer überwiegenden Wahr-
scheinlichkeit der Diskriminierung überzeugt, und wenn ja, mit welcher
Begründung?

i) Auf welcher europarechtlichen Grundlage gründet sich die Herausnahme
der betrieblichen Altersversorgung aus dem Geltungsbereich des Gesetzes
gemäß § 2 Abs. 2 Satz 2 AGG?

Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass diese Regelung im Wider-
spruch zu den Richtlinien steht?

Drucksache 16/5204 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
j) Wie begründet die Bundesregierung die Vereinbarkeit des § 622 Abs. 2
Satz 2 BGB im Hinblick auf § 10 AGG mit dem europäischen Recht?

k) Wie erklärt die Bundesregierung den Widerspruch zwischen § 15 AGG
und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, der bei Ge-
schlechterdiskriminierung festgestellt hat, dass die Schadensersatz- und
die Entschädigungspflicht generell verschuldensunabhängig auszuge-
stalten ist (EuGH vom 22. April 1997 – Rs. C-180/95)?

Welche Änderungen schlägt sie hier vor?

l) Worin besteht der Unterschied zwischen dem Glaubhaftmachen von Tat-
sachen, die eine Benachteiligung vermuten lassen (§ 611a BGB (alt)),
und dem Beweis von Indizien, die eine Benachteiligung vermuten lassen
(§ 22 AGG)?

Welche Beweisanforderung ist höher, und woraus ergibt sich dies gege-
benenfalls?

m) Wie will die Bundesregierung mit den Verletzungen des europäischen
Rechts durch die unzureichende Umsetzung durch das AGG gesetzgebe-
risch und europapolitisch umgehen?

n) Inwiefern hat die Europäische Kommission gegenüber der Bundesregie-
rung, europäischen Gremien oder der Öffentlichkeit deutlich gemacht,
dass sie das AGG auf seine Europakonformität überprüfen will, und wel-
chen Stand hat eine solche Überprüfung inzwischen?

9. Gibt es Anzeichen dafür, dass die von Wirtschaftsverbänden befürchtete
Prozesslawine in Bezug auf das AGG eingetreten ist?

a) Wie viele Verfahren gab es durchschnittlich monatlich aufgrund des
§ 611a BGB seit dessen Einführung?

b) Wie viele Verfahren gab es nach dem AGG im Arbeitsrecht monatlich?

c) Wie viele Verfahren gab es im Zivilrecht monatlich nach dem AGG?

10. Gibt es Anzeichen dafür, dass sich durch das AGG bei Arbeitgebern wie bei
Anbietern von Gütern und Dienstleistungen das Bewusstsein für Diskrimi-
nierung und für den Wert von Gleichbehandlung verstärkt hat?

Berlin, den 27. April 2007

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

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