BT-Drucksache 16/4405

Den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte stärken

Vom 28. Februar 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/4405
16. Wahlperiode 28. 02. 2007

Antrag
der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Omid Nouripour, Rainder Steenblock,
Marieluise Beck (Bremen), Dr. Uschi Eid, Thilo Hoppe, Ute Koczy, Monika Lazar,
Jerzy Montag, Kerstin Müller (Köln), Winfried Nachtwei, Claudia Roth (Augsburg),
Hans-Christian Ströbele, Jürgen Trittin, Josef Philip Winkler und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte stärken

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Mit dem Inkrafttreten des 11. Zusatzprotokolls zur Europäischen Menschen-
rechtskonvention (EMRK) 1998 wurde der Europäische Gerichtshof für
Menschenrechte (EGMR) zu einem ständigen Gerichtshof mit der Möglich-
keit der Individualbeschwerde ausgebaut. Dieser Ausbau markiert einen
fundamentalen Entwicklungsschritt im Bereich des europäischen Menschen-
rechtsschutzes.

Vor 1998 bestand keine ständige Institutionalisierung des EGMR. Die
EMRK beeinflusste lediglich die Rechtsprechung des Europäischen Ge-
richtshofes (EuGH), und als Instanz sah das alte Verfahren der EMRK eine
Europäische Kommission für Menschenrechte vor, die bei Staaten- sowie
Individualbeschwerden ggf. Stellungnahmen an das Ministerkomitee weiter-
leitete. Letzteres entschied dann mit Zweidrittelmehrheit über eine Verlet-
zung der EMRK. Das 11. Zusatzprotokoll schaffte diese Kommission voll-
ständig ab. Alleiniges Rechtsprechungsorgan ist seitdem der Gerichtshof.
Die Individualbeschwerde mit der Möglichkeit einer Verfahrenshilfe ist das
Herzstück des Verfahrens.

2. So bedeutsam der EGMR als Instrument des europäischen Menschenrechts-
schutzes ist, so groß sind mittlerweile seine Probleme. Sein Rechtsraum
umfasst die 46 Mitgliedstaaten des Europarates mit über 800 Millionen
Menschen. Jährlich gehen über 40 000 neue Beschwerden beim Gerichtshof
ein, und die durchschnittliche Verfahrensdauer beträgt inzwischen sechs
Jahre. Über 80 000 Klagen sind derzeit anhängig, und sowohl dieser enorme
Rückstand als auch die ständig steigende Anzahl an eingehenden Beschwer-
den können vom EGMR kaum mehr bewältigt werden. Es besteht die Ge-
fahr eines Kollabierens dieses wichtigen Menschenrechtschutzinstrumentes.
3. Eine der Hauptursachen für die Probleme des Gerichtshofes ist seine man-
gelhafte finanzielle und personelle Ausstattung. Immer wieder werden
deshalb von verschiedenen Seiten Forderungen erhoben, dass bestimmte
Beitragszahler wie Deutschland, Frankreich und Großbritannien dem
Gerichtshof mehr Geld zur Verfügung stellen sollten. Die Finanzierung des
EGMR erfolgt gemäß Artikel 50 EMRK allerdings nicht durch direkte

Drucksache 16/4405 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Beiträge der Mitgliedstaaten der EMRK, es werden stattdessen sämtliche
Kosten des Gerichtshofes vom Europarat getragen. Das umfasst sowohl die
Personal- als auch die Sachkosten. Die Geldmittel werden dem EGMR aus
dem generellen Etat des Europarates zugewiesen. Selbst ein erhöhter zweck-
gebundener Beitrag zum Haushalt des Europarates durch einen Mitgliedstaat
ist nicht möglich, weil die Beiträge nach Quoten vergeben werden. Eine
Änderung der Budgethoheit bedürfte deshalb aufgrund der klaren Regelung
des Artikels 50 EMRK einer Änderung des Konventionstextes. Die völlige
Loslösung des Budgets des EGMR vom Europarat birgt allerdings die
Gefahr, dass Konventionsstaaten ihre Zahlungen an den Gerichtshof als
politisches Druckmittel einsetzen. Der Gerichtshof könnte sich dem Vorwurf
der Bestechlichkeit aussetzen. Auch aus diesem Grund hat der 2005 von den
Mitgliedstaaten des Europarates eingerichtete „Rat der Weisen“ zur Reform
des Gerichtshofes in diesem Zusammenhang keine völlige Loslösung des
Budgets, sondern eine „größtmögliche Unabhängigkeit“ des EGMR in
Bezug auf die Präsentation und das Management seines Budgets empfohlen.

4. Das 14. Zusatzprotokoll zur EMRK vom Mai 2004 regelt einige Verfahrens-
änderungen, die zur Entlastung des Gerichtshofes führen können. Insbe-
sondere können Zulässigkeitsentscheidungen durch Einzelrichterinnen oder
-richter anstatt wie bisher durch drei Richterinnen und Richter getroffen
werden. Auch ein neues Zulässigkeitskriterium für Beschwerden, in denen
die Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer keinen „erheblichen
Nachteil“ erlitten haben, ist in dem Zusatzprotokoll verankert. Ob dieses
Kriterium allerdings geeignet ist, den Gerichtshof zu entlasten, ist stark um-
stritten. Das 14. Zusatzprotokoll eröffnet darüber hinaus ein vereinfachtes
Verfahren in den Fällen von Beschwerden, deren Gegenstand bereits Inhalt
einer gefestigten Rechtsprechung ist. Das Protokoll tritt jedoch erst nach
Ratifizierung durch alle Vertragsparteien der EMRK in Kraft. Russland hat
als einzige Partei noch nicht ratifiziert.

5. Eine Entlastung für den EGMR würde der viel diskutierte Beitritt der EU zur
EMRK bedeuten, weil damit eine Reihe offener Rechtsfragen geklärt sowie
Überschneidungen und Lücken der Aktivitäten aller europäischen Men-
schenrechtsschutzinstrumente verringert würden. Allerdings kann die EU
der EMRK derzeit nicht beitreten. Rechtliche Probleme bestehen dabei so-
wohl auf Seiten der EMRK als auch der EU. Nach Artikel 59 Abs. 1 EMRK
können nur Mitglieder des Europarates der EMRK beitreten, die EU also
nicht. Eine Änderung brächte das Inkrafttreten des 14. Zusatzprotokolls,
dessen Artikel 17 u. a. einen neuen Artikel 59 Abs. 2 EMRK mit dem Wort-
laut einfügt „The European Union may accede to this convention“. Das
Inkrafttreten scheitert allerdings an der Blockade Russlands. Auch ohne die
Voraussetzungen des 14. Zusatzprotokolls scheitert der Beitritt der EU noch
an ihrer mangelnden Rechtspersönlichkeit. Der Vertrag über eine Verfassung
für Europa (VVE) sieht zwar vor, dass die bereits der EG übertragene
Rechtspersönlichkeit der gesamten EU zugewiesen wird. Damit würde auch
ein Beitritt der EU zur EMRK ermöglicht. Der VVE ist allerdings noch nicht
in Kraft getreten.

6. Der 2005 von den Mitgliedstaaten des Europarates eingesetzte „Rat der Wei-
sen“ hat im November 2006 seine Empfehlungen zur Reform des EGMR
vorgelegt. Der Deutsche Bundestag begrüßt diese Empfehlungen als wich-
tige Bausteine einer umfassenden Entlastung und Neustrukturierung des Ge-
richtshofes. So beinhaltet der Katalog der Expertinnen und Experten neben
der schon erwähnten Empfehlung nach größerer Unabhängigkeit des EGMR
hinsichtlich seines Budgets u. a. Erläuterungen zur Verbesserung nationaler
Rechtsschutzmöglichkeiten. Der Gerichtshof ist gegenüber den innerstaat-

lichen Rechtsschutzsystemen zwar subsidiär; tatsächlich aber ist in einigen
Konventionsstaaten der Rechtsschutz so schwach, dass der EGMR de facto

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/4405

die einzige Überprüfungsinstanz bildet. Je effektiver die nationalen Schutz-
systeme arbeiten, desto entlastender kann sich dies auf den EGMR auswir-
ken. Die Sachverständigen empfehlen darüber hinaus die Übersetzung der
Gerichtsurteile des EGMR in alle Konventionssprachen, um sie für die na-
tionale Rechtsprechung zugänglicher zu machen.

Der „Rat der Weisen“ schlägt weiterhin eine Verfahrensänderung hinsichtlich
der Auswahl der Richterinnen und Richter vor. Letztere werden von der Par-
lamentarischen Versammlung (PV) des Europarates gewählt. Die Auswahl-
kriterien in den einzelnen Konventionsstaaten, nach denen die jeweiligen
Kandidatinnen und Kandidaten ernannt werden, sind allerdings sehr unter-
schiedlich. Zudem ist in der PV zu wenig Zeit für fundierte Entscheidungen
vorgesehen. So werden nicht immer Personen ausgewählt, die auch am bes-
ten geeignet sind. Die Expertinnen und Experten empfehlen deshalb, dass
einheitliche Kriterien für die Wahl der Richterinnen und Richter in der PV im
Vorfeld festgelegt werden und ein transparentes und nachvollziehbares Ent-
scheidungsverfahren entwickelt wird. Der Deutsche Bundestag sieht darüber
hinaus Defizite bei der Berücksichtigung von Frauen auf den Vorschlags-
listen.

7. Mit dem 14. Zusatzprotokoll zur EMRK von 2004 und den Empfehlungen
des „Rates der Weisen“ von 2006 liegen inzwischen zahlreiche Reformrege-
lungen und -vorschläge vor. Dass der Gerichtshof entlastet und strukturell
umgestaltet werden muss, ist mittlerweile Konsens. Die Vorschläge müssen
jetzt dringend umgesetzt und Blockaden gegenüber den Reformen überwun-
den werden, um einen Zusammenbruch des EGMR zu verhindern.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung deshalb auf,

1. im Ministerkomitee auf eine deutliche Erhöhung des Budgets für den Euro-
parat zu drängen;

2. sich bei den Vertragsparteien für eine größere Unabhängigkeit des EGMR
hinsichtlich der Verwaltung seines Budgets einzusetzen;

3. bilateral und im Rahmen des Europarates auf die russische Regierung einzu-
wirken, damit Russland das 14. Zusatzprotokoll zur EMRK ratifiziert;

4. beim europäischen Verfassungsprozess zu gewährleisten, dass, wie im Ver-
fassungsvertrag vorgesehen, die bereits der EG übertragene Rechtspersön-
lichkeit der gesamten EU zugewiesen wird;

5. sich zusammen mit den europäischen Partnern mit Nachdruck für die Prü-
fung und Umsetzung der Empfehlungen des „Rates der Weisen“ zur Reform
des EGMR einzusetzen, insbesondere hinsichtlich

a) der Stärkung der innerstaatlichen Rechtsschutzmöglichkeiten in den
Mitgliedstaaten des Europarates;

b) der Übersetzung der Gerichtsurteile des EGMR in alle Konventions-
sprachen;

c) der Verfahrensänderung zur Wahl der Richterinnen und Richter im Sinne
von einheitlichen Kriterien, größerer Transparenz und Geschlechter-
gerechtigkeit im Entscheidungsprozess.

Berlin, den 28. Februar 2007

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.