BT-Drucksache 15/4792

Die Regionalentwicklung in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern braucht Klarheit - Die zivile Nutzung der Kyritz-Ruppiner Heide ist überfällig

Vom 28. Januar 2005


Deutscher Bundestag Drucksache 15/4792
15. Wahlperiode 28. 01. 2005

Antrag
der Abgeordneten Winfried Nachtwei, Ernst Bahr (Neuruppin), Götz-Peter
Lohmann, Ingrid Arndt-Brauer, Cornelia Behm, Eckhardt Barthel (Berlin), Volker
Beck (Köln), Dr. Axel Berg, Grietje Bettin, Lothar Binding (Heidelberg), Alexander
Bonde, Hans-Günter Bruckmann, Dr. Peter Danckert, Dr. Herta Däubler-Gmelin,
Ekin Deligöz, Peter Dreßen, Dr. Thea Dückert, Detlef Dzembritzki, Franziska
Eichstädt-Bohlig, Hans-Josef Fell, Katrin Göring-Eckardt, Wolfgang Grotthaus,
Anja Hajduk, Winfried Hermann, Peter Hettlich, Ulrike Höfken, Thilo Hoppe,
Michaele Hustedt, Ernst Kranz, Fritz Kuhn, Undine Kurth (Quedlinburg), Christine
Lambrecht, Dr. Reinhard Loske, Dr. Gesine Lötzsch, Anna Lührmann, Dirk
Manzewski, Petra-Evelyne Merkel, Christa Nickels, Petra Pau, René Röspel,
Claudia Roth (Augsburg), Christine Scheel, Irmingard Schewe-Gerigk, Albert
Schmidt (Ingolstadt), Silvia Schmidt (Eisleben), Werner Schulz (Berlin), Ursula
Sowa, Rainder Steenblock, Silke Stokar von Neuforn, Christian Ströbele, Jella
Teuchner, Wolfgang Thierse, Marianne Tritz, Simone Violka, Dr. Marlies Volkmer,
Dr. Antje Vollmer, Dr. Ludger Volmer, Andrea Wicklein

Die Regionalentwicklung in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern braucht
Klarheit – Die zivile Nutzung der Kyritz-Ruppiner Heide ist überfällig

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:
1. Seit 1992 währt der Streit um eine militärische oder zivile Nutzung der

Kyritz-Ruppiner Heide. Das Bundesministerium der Verteidigung (BMVg)
beabsichtigt, auf dem Gelände des ehemaligen Bombenabwurfplatzes der so-
wjetischen Streitkräfte einen Luft-/Boden-Schießplatz einzurichten. Geplant
sind bis zu 1 700 Einsätze pro Jahr mit Übungsbomben und -munition. Eine
breite Bürgerbewegung hat sich den Plänen der Bundesregierung von Anfang
an widersetzt. Die Klagen etlicher Anrainergemeinden haben bisher die Inbe-
triebnahme des Platzes verhindert. Ein Ende des Rechtsstreits ist nicht abseh-
bar. Die Landtage und Landesregierungen von Brandenburg und Mecklen-
burg-Vorpommern haben sich gegen die militärische Nutzung der Kyritz-
Ruppiner Heide ausgesprochen.

2. Zur Gewährleistung ihrer Einsatzbereitschaft benötigt die Bundeswehr aus-
reichend Übungsplätze und -einrichtungen. Dieser Übungsbedarf ruft immer
wieder einen Zielkonflikt mit dem Anspruch der Bevölkerung auf Lärm- und
Gesundheitsschutz mit Belangen des Umweltschutzes und der Regionalent-
wicklung hervor. Dabei gilt das Postulat, die Belastungen für Bevölkerung
und Umwelt so gering wie möglich zu halten.

Drucksache 15/4792 – 2 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

3. Der geplante Luft-/Boden-Schießplatz Wittstock ist für die Einsatzbereit-
schaft der Luftwaffe und die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland kei-
neswegs unverzichtbar. Seit 1990 kommt die Luftwaffe ohne den Standort
Wittstock aus. Das Nutzungskonzept für Luft-/Boden-Schießplätze aus dem
Jahr 1992, das für die Bedarfsanmeldung eines dritten Luft-/Boden-Schieß-
platzes mit entscheidend war, ging davon aus, dass von den geplanten 7 200
Übungseinsätzen 3 200 in Nordhorn, 1 000 in Siegenburg und 3 000 im
Raum Wittstock absolviert werden sollten. In Wirklichkeit ging seitdem das
Übungsaufkommen massiv zurück. Im vergangenen Jahr wurden in Deutsch-
land von Bundeswehr (764) und alliierten Streitkräften (273) insgesamt nur
noch 1 037 Einsätze, davon 799 in Nordhorn (1992 : 2 573) und 216 in Sie-
genburg (1992:1 260), geflogen. Der Bedarf für einen neuen Platz und die
Belastungen für die beiden bisherigen Übungsplätze sind damit drastisch
zurückgegangen. Im vergangenen Jahr wurde entschieden, bis 2005 zwei
Tornado-Geschwaderäquivalente (80 bis 90 Flugzeuge) aufzulösen. Dies
wird zu einer weiteren Reduzierung der Übungsbelastungen in Nordhorn und
Siegenburg führen.

4. Für die Bundeswehr sind internationale Konfliktverhütung und Krisenbewäl-
tigung im Rahmen der Ziele und Regeln der Vereinten Nationen auf abseh-
bare Zeit die wahrscheinlichere Aufgabe und primär strukturbestimmend.
Die künftigen Einsatzkräfte der Bundeswehr sollen nach Stabilisierungs- und
Eingreifkräften differenziert werden. Bei den vorrangigen Stabilisierungsein-
sätzen z. B. auf dem Balkan oder in Afghanistan sind nicht tieffliegende
Jagdbomber gefragt. Bei Erzwingungs- und Kampfeinsätzen, die nicht aus-
geschlossen werden können, ist die Abstands- und Präzisionsfähigkeit der
Luftwaffe zwingend gefordert. Die Bekämpfung von Bodenzielen im Tief-
flug mit ungelenkten Bomben gehört – insbesondere wegen des hohen Risi-
kos – der Vergangenheit an. Grundmerkmal der künftigen Eingreifkräfte ist
deshalb ihre präzise Abstandsfähigkeit. Mit der Umrüstung auf Abstandswaf-
fen sinkt der Luft-/Boden-Übungsbedarf weiter auf eine Restgröße. Der in ei-
nigen Jahren zulaufende Eurofighter ist für seine Jagdbomberrolle nur noch
mit Abstandswaffen ausgerüstet. Mittelfristig, d. h. im Laufe des nächsten
Jahrzehnts werden überdies „unbemannte Luftfahrzeuge“ an Bedeutung ge-
winnen. Dafür ist kein neuer Übungsplatz notwendig. Auf den bisherigen
Übungsplätzen kann die Übungsbelastung weiter sinken.

5. Luft-/Boden-Einsätze und militärischer Tiefflug rufen eine erhebliche und
überdurchschnittliche Belastung für die betroffene Bevölkerung hervor. Das
Argument einer gerechten Lastenverteilung des Übungslärms – hier zwi-
schen West und Ost – geht an den historischen und aktuellen Besonderheiten
der verschiedenen Regionen vorbei. Wenn eine Region in Deutschland einen
berechtigten Anspruch auf Lastenverteilung hat, dann ist es die Region Ky-
ritz-Ruppiner Heide. Die Übungsbelastung im RaumWittstock war zu DDR-
Zeiten bei bis zu 18 000 Einsätzen pro Jahr mit scharfer Munition und Bom-
ben so extrem und einzigartig, dass für die Bevölkerung der Region ein Nach-
holbedarf an unbelasteter Entwicklung besteht. Noch im Jahr 1992 flogen die
russischen Luftstreitkräfte 5 342 Einsätze. Die auf den ersten Blick plausible
Forderung nach „gerechter“ Lastenverteilung zwischen Ost und West läuft
vor diesem Hintergrund auf eine fortgesetzte Sonderbelastung der Region
Wittstock hinaus. Angesichts der Bedarfsanmeldung von bis zu 1 700 Einsät-
zen von Alliierten und Bundeswehr bei einem derzeitigen Ist von lediglich
1 000 Einsätzen besteht vor Ort nicht zu Unrecht die Befürchtung, dass per-
spektivisch die Übungsplätze imWesten geschlossen und bislang im Ausland
absolvierte Übungen von Bundeswehr und Bündnispartnern nach Wittstock
verlagert werden könnten.

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 3 – Drucksache 15/4792

6. Die wesentliche Entwicklungschance der Region um die Kyritz-Ruppiner
Heide besteht in einem naturnahen Tourismus und erfordert eine besondere
Sensibilität gegenüber militärischem Fluglärm. Seit den 90er Jahren sind in
der Region viele kleine Unternehmen entstanden, die vom Tourismus leben
und oftmals über die regionale Schwerpunktförderung Starthilfen aus öffent-
lichen Mitteln erhielten. In den Jahren 1991 bis 2003 wurden 240 Mio. Euro
GA- und EFRE-Mittel (GA: Gemeinschaftsaufgabe; EFRE: Europäischer
Fonds für Regionale Entwicklung) für die gewerbliche Wirtschaft und Infra-
struktur der betroffenen Landkreise Ostprignitz-Ruppin, Müritz und Meck-
lenburg-Strelitz genehmigt. Damit konnten über 3 000 Dauerarbeitsplätze
gesichert werden. Zusätzlich flossen in diesem Zeitraum 160 Mio. Euro
KfW-Mittel (KfW: Kreditanstalt für Wiederaufbau) in die Tourismusent-
wicklung dieser Landkreise. Viele ortsansässige Unternehmer sehen sich
durch die Pläne des BMVg in ihrer Existenz bedroht. Das vom Bund beige-
brachte Lärmgutachten beruft sich auf das Fluglärmschutzgesetz von 1971.
Es beachtet die neueren Erkenntnisse der Lärmwirkungsforschung nicht und
ist deshalb als Nachweis der Vereinbarkeit von Luft-/Boden-Schießplatz und
Tourismus unbrauchbar. Ein umfangreiches Lärmgutachten vom März 2004,
das vom aktuellen Stand der Lärmwirkungsforschung ausgeht, kommt zu
dem Ergebnis, dass „für einen wesentlichen Teil der bewohnten Gebiete im
nördlichen Bereich des Übungsplatzes die Grenzwerte der gesundheitlichen
Zumutbarkeit aus lärmmedizinischer Sicht überschritten werden“ (Gutachten
Truppenübungsplatz Wittstock von Prof. Dr. Manfred Spreng).

7. Die Ungewissheit über die Zukunft der Heide ist ein wachsendes Investiti-
onshemmnis und blockiert damit die Regionalentwicklung. Umfragen der In-
dustrie- und Handelskammern Neubrandenburg und Potsdam in 2003 erga-
ben, dass mehr als dreiviertel der Unternehmer in der Region eine deutliche
Verschlechterung der Geschäftsbedingungen infolge einer militärischen Nut-
zung erwarten. Damit verbunden sind die zurückhaltende Vergabe neuer Kre-
dite durch Banken, Umsatzrückgang, Liquiditätsprobleme und die Rückstel-
lung von Investitionen. Infolgedessen wird mit einem Abbau von Arbeits-
plätzen gerechnet. Deshalb kann nicht auf den Ausgang des langjährigen
Rechtsstreits gewartet werden.

8. Die Hoffnungen auf eine künftige neue Garnison Wittstock sind wenig rea-
listisch. Das neue Stationierungskonzept der Bundeswehr soll durch Schlie-
ßung von ca. 100 Standorten erhebliche Finanzmittel einsparen. Das bringt
für viele Regionen schmerzhafte Einschnitte mit sich. Vor diesem Hinter-
grund wäre die Neugründung eines Standortes in Wittstock für mindestens
ca. 60 Mio. Euro nicht vertretbar. Ein solches Vorhaben würde von vorn-
herein die Glaubwürdigkeit des neuen Stationierungskonzeptes beschädigen.

9. Die Bundeswehr legt großenWert auf ihre Integration in die Gesellschaft und
auf zivil-militärische Zusammenarbeit. Gerade in ihren Einsatzgebieten legt
sie höchsten Wert auf breite Akzeptanz in der Bevölkerung und möglichst
viel Kooperation. Eine konfrontative Durchsetzung des Luft-/Boden-Schieß-
platzes gegen den einmütigen Willen der Bevölkerung und ihren politischen
Repräsentanten auf kommunaler und Landesebene würde diesen bewährten
Grundsätzen völlig zuwiderlaufen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
1. ohne Zeitverzug auf einen künftigen Luft-/Boden-Schießplatz Wittstock zu

verzichten und eine zivile Nutzung der Liegenschaft zu ermöglichen,
2. im Rahmen der Transformation der Bundeswehr die Übungseinsätze und Be-

lastungen an den bisherigen Übungsplätzen weiter zu reduzieren,

Drucksache 15/4792 – 4 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode
3. im Rahmen eines abgestimmten Regionalentwicklungskonzeptes das Land
Brandenburg bei der Räumung der Munitionsaltlasten auf dem ehemaligen
sowjetischen Übungsplatz angemessen zu unterstützen, soweit es im Rahmen
eines abgestimmten Regionalentwicklungskonzeptes für Teilbereiche not-
wendig ist.

Berlin, den 28. Januar 2005
Winfried Nachtwei
Ernst Bahr (Neuruppin)
Götz-Peter Lohmann
Ingrid Arndt-Brauer
Cornelia Behm
Eckhardt Barthel (Berlin)
Volker Beck (Köln)
Dr. Axel Berg
Grietje Bettin
Lothar Binding (Heidelberg)
Alexander Bonde
Hans-Günter Bruckmann
Dr. Peter Danckert
Dr. Herta Däubler-Gmelin
Ekin Deligöz
Peter Dreßen
Dr. Thea Dückert
Detlef Dzembritzki
Franziska Eichstädt-Bohlig
Hans-Josef Fell
Katrin Göring-Eckardt
Wolfgang Grotthaus
Anja Hajduk
Winfried Hermann
Peter Hettlich
Ulrike Höfken
Thilo Hoppe
Michaele Hustedt
Ernst Kranz

Fritz Kuhn
Undine Kurth (Quedlinburg)
Christine Lambrecht
Dr. Reinhard Loske
Dr. Gesine Lötzsch
Anna Lührmann
Dirk Manzewski
Petra-Evelyne Merkel
Christa Nickels
Petra Pau
René Röspel
Claudia Roth (Augsburg)
Christine Scheel
Irmingard Schewe-Gerigk
Albert Schmidt (Ingolstadt)
Silvia Schmidt (Eisleben)
Werner Schulz (Berlin)
Ursula Sowa
Rainder Steenblock
Silke Stokar von Neuforn
Christian Ströbele
Jella Teuchner
Wolfgang Thierse
Marianne Tritz
Simone Violka
Dr. Marlies Volkmer
Dr. Antje Vollmer
Dr. Ludger Volmer
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