Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 01.02.2012, Az. 8 C 24/11

8. Senat | REWIS RS 2012, 9595

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Gegenstand

Zur generellen Höchstaltersgrenze für öffentlich bestellte und vereidigte Sachverständige


Leitsatz

1. Das mit der öffentlichen Bestellung und Vereidigung von Sachverständigen verfolgte Ziel, einen geordneten Rechtsverkehr sicherzustellen, ist kein legitimes Ziel nach § 10 AGG i.V.m. Art. 6 Abs. 1 der RL 2000/78/EG (juris: EGRL 78/2000), das eine generelle Höchstaltersgrenze rechtfertigen könnte.

2. Das Lebensalter steht nicht im Sinne von § 8 Abs. 1 AGG i.V.m. Art. 4 Abs. 1 der RL 2000/78/EG in innerem Zusammenhang mit einer besonderen Anforderung an die Art der beruflichen Betätigung eines öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen in den Sachgebieten "EDV im Rechnungswesen und Datenschutz" sowie "EDV in der Hotellerie".

3. Die Festlegung einer Höchstaltersgrenze in einer Sachverständigenordnung dient jedenfalls in den vorgenannten Sachgebieten nicht im Sinne von Art. 2 Abs. 5 der RL 2000/78/EG den Erfordernissen der öffentlichen Sicherheit, der Verhütung von Straftaten oder dem Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.

Tatbestand

1

Der am 26. April 1936 geborene Kläger wendet sich gegen die Versagung seiner weiteren öffentlichen Bestellung zum vereidigten Sachverständigen.

2

Er war aufgrund einer einmaligen befristeten Verlängerung bis zur Vollendung seines 71. Lebensjahres im Jahre 2007 öffentlich bestellter und vereidigter Sachverständiger für die Sachgebiete "Anwendung der EDV im Rechnungswesen und Datenschutz" sowie "EDV in der Hotellerie". Seinen Antrag vom 12. Januar 2007 auf Verlängerung der Bestellung um fünf, hilfsweise um vier Jahre lehnte die beklagte Industrie- und Handelskammer mit Bescheid vom 1. März 2007 mit der Begründung ab, eine Bestellung erlösche nach ihrer Sachverständigenordnung ([X.]), wenn der Sachverständige das 68. Lebensjahr vollendet habe; sie könne nur einmal verlängert werden, längstens bis zur Vollendung des 71. Lebensjahres.

3

Nach erfolglosem Widerspruch hat der Kläger Klage erhoben, mit der er unter Berufung auf die Richtlinie 2000/78/[X.] vom 27. November 2000 ([X.] 303 S. 16) und das [X.] ([X.]) vom 14. August 2006 ([X.]) im Wesentlichen geltend gemacht hat, die ihm entgegengehaltene Höchstaltersgrenze verstoße gegen das Verbot der Altersdiskriminierung.

4

Die Klage hatte weder beim Verwaltungsgericht noch beim Verwaltungsgerichtshof Erfolg. Nach Auffassung des Verwaltungsgerichtshofs ist die in der Sachverständigenordnung normierte Höchstaltersgrenze mit Art. 12 Abs. 1 GG vereinbar. Selbst wenn man das [X.] für anwendbar halte, liege in der Ablehnung der weiteren Bestellung zwar eine unmittelbare Ungleichbehandlung wegen des Alters. Diese sei jedoch jedenfalls gemäß § 10 Satz 1 und 2 [X.] gerechtfertigt. Denn der Gesetzgeber habe für die Gewährleistung eines geordneten Rechtsverkehrs durch die Institution öffentlich bestellter und vereidigter Sachverständiger die jederzeit verlässliche Leistungsfähigkeit der Sachverständigen sicherstellen und zu diesem Zweck die Möglichkeit eröffnen wollen, durch die Festlegung einer Höchstaltersgrenze potenziell nicht mehr so leistungsfähige Sachverständige auszuschließen.

5

Die dagegen gerichtete Revision des [X.] ist vom erkennenden Senat mit Urteil vom 26. Januar 2011 - BVerwG 8 C 46.09 - (BVerwGE 139, 1) zurückgewiesen worden. Zwar sei das [X.] auf die öffentliche Bestellung von Sachverständigen anwendbar. In der Ablehnung der begehrten Neubestellung wegen Überschreitens der Höchstaltersgrenze liege auch eine ungleiche Behandlung wegen des Alters. Diese sei jedoch gerechtfertigt. Das vom Normgeber verfolgte Ziel der Gewährleistung eines geordneten Rechtsverkehrs sei legitim im Sinne des § 10 Satz 1 [X.], auch wenn es kein sozialpolitisches Ziel im Sinne der Richtlinie 2000/78/[X.] sei. Die in dieser Regelung der Richtlinie beispielhaft genannten sozialpolitischen Ziele (Beschäftigungspolitik, Arbeitsmarkt, berufliche Bildung) stellten nur eine von mehreren Kategorien legitimer Ziele dar.

6

Dieses Urteil hat das [X.] mit Beschluss vom 24. Oktober 2011 ([X.]: 1 BvR 1103/11) mit der Begründung aufgehoben, es sei unter Verstoß gegen die Pflicht zur Vorlage an den [X.] ([X.]) ergangen.

7

Der Kläger beantragt,

die Urteile des [X.] vom 28. Januar 2009 und des [X.] vom 11. März 2008 zu ändern und die Beklagte unter Aufhebung ihrer Bescheide vom 1. März 2007 und vom 24. Mai 2007 zu verpflichten, über seinen Antrag vom 12. Januar 2007 - beschränkt auf den dortigen Hauptantrag - auf erneute öffentliche Bestellung und Vereidigung als Sachverständiger für "EDV im Rechnungswesen und Datenschutz" sowie "EDV in der Hotellerie" unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden.

8

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

9

Die Beteiligten haben keine Anträge gestellt. Der Beteiligte zu 1 hält den Antrag des [X.] für begründet, während die Beteiligte zu 2 das angegriffene Urteil verteidigt.

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs verstößt gegen [X.] (1.) und erweist sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig (2.). Die Beklagte ist gemäß § 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO zu verpflichten, über den Antrag des [X.] vom 12. Januar 2007 auf Verlängerung seiner öffentlichen Bestellung als Sachverständiger um fünf Jahre - gerechnet von der Vollendung seines 71. Lebensjahres an - unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden (3.).

1. Die auf § 22 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 Buchst. d der [X.] der Beklagten gestützte Ablehnung des [X.] stellt eine Diskriminierung wegen des Alters im Sinne des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) vom 14. August 2006 ([X.]), zuletzt geändert durch Gesetz vom 5. Februar 2009 ([X.]) dar, die entgegen der Auffassung der Vorinstanz nicht durch § 10 AGG gerechtfertigt ist.

a) [X.] ist auf die öffentliche Bestellung von Sachverständigen anwendbar. Die in Rede stehende [X.] stellt im Sinne des § 2 Abs. 1 Nr. 1 AGG eine Bedingung für den Zugang zu einer selbstständigen Erwerbstätigkeit dar. Dem steht nicht entgegen, dass der Kläger seine selbstständige berufliche Tätigkeit als Sachverständiger für die von ihm gewählten Sachgebiete auch ohne die begehrte öffentliche Bestellung ausüben kann, so dass es sich im Hinblick auf das Grundrecht der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) nicht um eine Regelung der Berufswahl, sondern der Berufsausübung handelt. [X.] dient der Umsetzung der Richtlinie (im Folgenden: [X.]) 2000/78/[X.] vom 27. November 2000 ([X.] 303 S. 16) und ist deshalb im Lichte dieser unionsrechtlichen Regelung auszulegen. Danach wird der Zugang zu einer selbstständigen Erwerbstätigkeit bereits dann beschränkt, wenn die [X.] geeignet ist, die Nachfrage nach den vom Kläger angebotenen Dienstleistungen tatsächlich zu beschränken ([X.], Urteil vom 12. Januar 2010 - [X.]. [X.]/08, [X.] - Slg. 2010, [X.] Rn. 33). Diese Voraussetzung ist hier erfüllt, wie der [X.] bereits entschieden hat (Urteil vom 26. Januar 2011 - BVerwG 8 C 46.09 - BVerwGE 139, 1 = [X.] 11 Art. 12 GG Nr. 274).

Die Einwände der Beklagten und der Beteiligten zu 2 geben zu einer anderen Beurteilung der Sach- und Rechtslage keine Veranlassung. Zwar hat der [X.] in der Sache Petersen eine Nachfragebeschränkung in einem Fall bejaht, in dem der Berufstätige - ein Zahnarzt - infolge der Altersbeschränkung seine Dienstleistungen als Vertragszahnarzt der Krankenkassen gegenüber ca. 90 % seiner Kunden nicht mehr erbringen durfte. Die Beklagte weist insoweit zu Recht darauf hin, dass im Gegensatz dazu im vorliegenden Fall die Versagung der öffentlichen Bestellung kein rechtliches Hindernis errichtet, die Dienstleistung eines Sachverständigen weiterhin zu erbringen. Folge der in Rede stehenden [X.] ist aber eine tatsächliche Nachfrageminderung. Das gilt selbst dann, wenn, wie die Beklagte behauptet, bei der Versagung einer öffentlichen Bestellung eines Sachverständigen die Nachfrage tatsächlich allenfalls um 10 % zurückgeht. Die Rechtsprechung des [X.] kann nicht dahin verstanden werden, dass eine beachtliche Beeinträchtigung erst bei einer Nachfrageminderung von 90 % anzunehmen sei.

b) Die [X.] in § 22 Abs. 1 Buchst. d, Abs. 2 sowohl in der Fassung der geltenden Satzung der Beklagten vom 22. März 2010 als auch in deren Vorläuferfassungen stellt eine unmittelbare Benachteiligung wegen des Alters im Sinne von § 3 Abs. 1 Satz 1 AGG dar. Diese Benachteiligung ist gemäß § 6 Abs. 3, § 7 Abs. 1 AGG grundsätzlich unzulässig. Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichtshofs ist sie auch nicht nach § 10 AGG ausnahmsweise zulässig.

Nach § 10 Satz 1 AGG ist eine unterschiedliche Behandlung wegen des Alters zulässig, wenn sie durch ein legitimes Ziel gerechtfertigt ist und die weiteren Voraussetzungen des § 10 AGG erfüllt sind. Die in Rede stehende [X.] verfolgt das Ziel, im Interesse eines reibungslosen Rechtsverkehrs und einer funktionierenden Rechtspflege allen Behörden, Gerichten und privaten Interessenten für komplizierte Sachverhaltsfeststellungen und Prüfungen kompetente und glaubwürdige Fachleute anzubieten; schwierige und zeitraubende Nachforschungen über den Ruf und die Eignung des Gutachters sollen durch die öffentliche Bestellung entbehrlich werden (Urteil vom 26. Januar 2011 - BVerwG 8 C 46.09 - a.a.[X.] Rn. 30, unter Bezugnahme auf [X.], Beschluss vom 25. März 1992 - 1 BvR 298/86 - [X.]E 86, 28 ). Das ist kein legitimes Ziel im Sinne des § 10 Satz 1 AGG.

Welche Ziele hiernach legitim sind, bestimmt sich - nach der gebotenen richtlinienkonformen Auslegung - nach Art. 6 Abs. 1 Satz 1 der [X.] 2000/78/[X.]. Diese versteht unter einem legitimen Ziel "insbesondere rechtmäßige Ziele aus den Bereichen Beschäftigungspolitik, Arbeitsmarkt und berufliche Bildung". Nach der Rechtsprechung des [X.] ergibt sich hieraus, dass legitim in diesem Sinne nur sozialpolitische Ziele sind ([X.], Urteil vom 13. September 2011 - [X.]. [X.]/09, [X.] - [X.] 2011, 751 m.w.N.). An seiner abweichenden Auffassung, die er noch in seinem Urteil vom 26. Januar 2011 vertreten hatte (a.a.[X.] Rn. 31 ff.), hält der [X.] nicht fest.

Die Gewährleistung eines geordneten Rechtsverkehrs stellt kein sozialpolitisches Ziel im dargelegten Sinne dar. Das hat der [X.] bereits in seinem Urteil vom 26. Januar 2011 (a.a.[X.] Rn. 31) entschieden. Das Vorbringen der Beklagten und der Beteiligten zu 2 bietet keinen Anlass, hiervon abzurücken. Zwar wäre die Absicht des [X.], durch eine [X.] jüngeren Bewerbern bessere Zugangschancen zu eröffnen, ein sozialpolitisches Ziel. Die in Rede stehende Altersbeschränkung verfolgt ein derartiges Ziel jedoch nicht. Die öffentliche Bestellung und Vereidigung als Sachverständiger ist vielmehr unabhängig von einer konkreten Bedarfsprüfung; § 36 Abs. 1 Satz 1 [X.] ist entsprechend einschränkend auszulegen ([X.], Beschluss vom 25. März 1992 a.a.[X.] Rn. 55 ff.). Das Ausscheiden älterer Sachverständiger ist damit keine Voraussetzung für das Nachrücken Jüngerer.

2. Die angegriffenen Urteile der Vorinstanzen sind auch nicht im Sinne von § 144 Abs. 4 VwGO im Ergebnis aus anderen Gründen richtig.

a) § 8 Abs. 1 AGG vermag die generelle [X.] nicht zu rechtfertigen. Die Vorschrift setzt Art. 4 Abs. 1 der [X.] 2000/78/[X.] (sowie Art. 4 Abs. 1 der [X.] 2000/43/[X.] und Art. 2 Abs. 6 der [X.] 76/207/[X.]) in [X.] Recht um. Sie stellt klar, unter welchen Voraussetzungen bestimmte berufliche Anforderungen eine Ungleichbehandlung wegen eines in § 1 AGG genannten Merkmals rechtfertigen können (vgl. BTDrucks 16/1780 S. 35; BTDrucks 16/2022 S. 6, 12). Dies ist nur dann der Fall, wenn der Grund der unterschiedlichen Behandlung wegen der Art der auszuübenden Tätigkeit oder der Bedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt, sofern der Zweck rechtmäßig und die Anforderung angemessen ist.

Es fehlt vorliegend bereits an der Voraussetzung, dass an die Tätigkeit eines öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen - besondere - Anforderungen gestellt sind, die für diese Tätigkeit nach ihrer Art wesentlich und entscheidend sind und die im Zusammenhang mit dem Lebensalter stehen (vgl. [X.], Urteile vom 12. Januar 2010 - [X.]. [X.]/08, [X.]. 2010, [X.] Rn. 35 und vom 13. September 2011 a.a.[X.] Rn. 66). Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Ausnahmebestimmung des Art. 4 Abs. 1 der [X.] 2000/78/[X.] nach der ständigen Rechtsprechung des [X.] eng ausgelegt werden muss ([X.], Urteil vom 13. September 2011 a.a.[X.] Rn. 72 m.w.N.; vgl. [X.] 2000/78/[X.] Erwägungsgrund Nr. 23).

Die entscheidende Anforderung ist die besondere Sach- und Fachkunde. Die Tätigkeit eines Sachverständigen jedenfalls in den Sachgebieten "EDV im Rechnungswesen und Datenschutz" sowie "EDV in der Hotellerie", für die der Kläger seine Bestellung begehrt, stellt in diesem Sinne keine besonderen Anforderungen, die - bei entsprechender Vorbildung und Erfahrung - nur Jüngere erfüllen könnten. Ob die persönlichen Bestellungsvoraussetzungen insbesondere hinsichtlich der besonderen Sach- und Fachkunde sowie der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit bei einem Bewerber erfüllt sind, hat die [X.] nach Maßgabe der dafür einschlägigen Rechtsvorschriften im konkreten Einzelfall zu prüfen und zu entscheiden (vgl. hier § 3 der Satzung der Beklagten).

Dagegen lässt sich nicht einwenden, Sachverständige jenseits des allgemeinen Renteneintrittsalters seien regelmäßig nicht mehr dauerhaft berufstätig, so dass ihre berufspraktische Erfahrung und ihre Fortbildungsbereitschaft und damit wichtige Grundlagen ihrer besonderen Sach- und Fachkunde an Aktualität einbüßten. Dieser Einwand stellt nicht auf Umstände ab, die mit dem Lebensalter in unmittelbarem Zusammenhang stehen. Das Lebensalter hindert einen Sachverständigen nicht, über das übliche Renteneintrittsalter hinaus weiterhin seine berufliche Tätigkeit auszuüben, sich in dem erforderlichen Maße beruflich fortzubilden und sich damit die besondere Sach- und Fachkunde zu erhalten. Die von der Beklagten des Weiteren angeführte Erwägung, mit einer generellen [X.] den mit [X.] verbundenen Verwaltungsmehraufwand zu ersparen, rechtfertigt ebenfalls keine unterschiedliche Behandlung wegen des Alters.

b) Die in Rede stehende generelle [X.] wird auch nicht durch Art. 2 Abs. 5 der [X.] 2000/78/[X.] legitimiert. Hiernach berührt diese Richtlinie nicht die im einzelstaatlichen Recht vorgesehenen Maßnahmen, die in einer [X.] Gesellschaft für die Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit, die Verteidigung der Ordnung und die Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit und zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig sind. Mit dem Erlass dieses Sicherheitsvorbehalts wollte der Unionsgesetzgeber auf dem Gebiet von Beschäftigung und Beruf dem Entstehen eines Spannungsfeldes zwischen dem Grundsatz der Gleichbehandlung zum einen und der notwendigen Gewährleistung der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit, der Verhütung von Rechtsverstößen sowie dem Schutz der individuellen Rechte und Freiheiten, die für das Funktionieren einer [X.] Gesellschaft unerlässlich sind, zum anderen vorbeugen und vermittelnd eingreifen ([X.], Urteil vom 13. September 2011 a.a.[X.] Rn. 55). Auch Art. 2 Abs. 5 der [X.] 2000/78/[X.] ist eng auszulegen, weil er eine Abweichung vom Grundsatz des Verbots der Diskriminierung begründet ([X.], Urteile vom 12. Januar 2010 - [X.]. [X.]/08, [X.] - Slg. 2010, [X.] Rn. 60 und vom 13. September 2011 a.a.[X.] Rn. 56).

Eine ausdrückliche Bestimmung, die diesen Sicherheitsvorbehalt ganz allgemein in innerstaatliches Recht umsetzt, ist in das [X.] nicht aufgenommen worden. Zwar sieht § 20 Abs. 1 Nr. 1 AGG vor, dass eine unterschiedliche Behandlung u.a. wegen des Alters nicht vorliegt, wenn diese der Vermeidung von Gefahren, der Verhütung von Schäden oder anderen Zwecken vergleichbarer Art dient. Diese Regelung erfasst jedoch, wie sich aus ihrer systematischen Stellung in Abschnitt 3 des Gesetzes ergibt, ausschließlich den Schutz vor Benachteiligungen im Zivilrechtsverkehr. Auf [X.] einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft oder Behörde und damit auf die öffentliche Bestellung von Sachverständigen ist sie nicht anwendbar. Auch ein Rückgriff auf § 10 Satz 1 AGG scheidet aus. Zwar ließe der Wortlaut zu, die in Art. 2 Abs. 5 der Richtlinie angesprochenen Sicherheitsbelange als legitime Ziele im Sinne dieser Vorschrift zu deuten. Der Gesetzgeber wollte aber mit § 10 AGG allein Art. 6 und 7 der [X.] 2000/78/[X.] in [X.] Recht umsetzen (vgl. Bauer/[X.]/Krieger, AGG, 3. Aufl. 2011, § 10 Rn. 6) und nicht den allgemeinen [X.]. 2 Abs. 5 der Richtlinie.

Umgekehrt hat der Bundesgesetzgeber auf den Sicherheitsvorbehalt auch nicht bewusst verzichtet. Hierfür fehlt es an Anhaltspunkten im Wortlaut des Gesetzes und in der Gesetzesbegründung. Damit steht das Schweigen des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes anderweitigen Regelungen des innerstaatlichen Rechts außerhalb dieses Gesetzes nicht entgegen (ebenso von Roetteken, AGG, § 1 Rn. 189). Gegen eine derartige Sperrwirkung des [X.]es sprechen nicht zuletzt kompetenzrechtliche Gründe. Denn wesentliche Bereiche des Polizei- und Ordnungsrechts fallen in die Gesetzgebungskompetenz der Länder (vgl. etwa zum Bereich der Bautensicherheit die auf Art. 80 Abs. 2 Satz 1 und 2 [X.] gestützte Verordnung über die Prüfingenieure, Prüfämter und Prüfsachverständigen im Bauwesen vom 29. November 2007 i.d.F. der Bekanntmachung vom 11. Dezember 2011, GVBl S. 720, und dazu [X.], Beschluss vom 21. Oktober 2011 - 22 ZB 11.2154 - juris).

Auch der Bundesgesetzgeber kann im Rahmen seiner Gesetzgebungszuständigkeit von dem [X.]. 2 Abs. 5 der [X.] 2000/78/[X.] Gebrauch machen. Er kann diese Befugnis delegieren. Deshalb kommt auch § 36 Abs. 3 Nr. 1, Abs. 4 [X.] als Ermächtigungsgrundlage für eine Rechtsverordnung der zuständigen Landesregierung oder eine Satzung der zuständigen Industrie- und Handelskammer in Betracht, die altersbezogene Anforderungen an öffentlich bestellte und vereidigte Sachverständige stellt, sofern dies der Wahrung der in Art. 2 Abs. 5 der [X.] 2000/78/[X.] genannten Schutzgüter dient und die weiteren Voraussetzungen dieser Vorschrift erfüllt sind.

Ein derartiger Fall liegt hier jedoch nicht vor. Die in Rede stehende generelle [X.] für öffentlich bestellte und vereidigte Sachverständige jedweder Branche dient jedenfalls in dieser Allgemeinheit keinem Sicherheitsbelang im Sinne von Art. 2 Abs. 5 der [X.] 2000/78/[X.]. Der Zweck dieser [X.] zielt, wie dargelegt, auf die Gewährleistung eines geordneten Rechtsverkehrs. Er ist nicht auf die Belange des [X.] beschränkt (vgl. dazu [X.], Urteil vom 13. September 2011 a.a.[X.] Rn. 55), sondern hat auch den außerforensischen Rechtsverkehr zum Gegenstand. Es soll sichergestellt werden, dass für Gerichte und Behörden, aber auch für Privatpersonen, die ein Sachverständigengutachten in Auftrag geben, die besondere Sach- und Fachkunde des Gutachters uneingeschränkt gewährleistet ist, ohne dass dies einer speziellen Prüfung im Einzelfall bedarf. Der Zweck ist damit jedenfalls für die Sachgebiete, für die der Kläger seine öffentliche Bestellung begehrt, weder auf die Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung noch auf den Schutz der individuellen Rechte und Freiheiten, die für das Funktionieren einer [X.] Gesellschaft unerlässlich sind, noch auf andere Schutzgüter des Art. 2 Abs. 5 der Richtlinie gerichtet.

3. Die Sache ist spruchreif. Verstößt die in § 22 Abs. 1 Buchst. d, Abs. 2 der Satzung der Beklagten vorgesehene generelle [X.] gegen § 7 Abs. 1 i.V.m. § 6 Abs. 3 und § 3 Abs. 1 AGG und lässt sie sich in ihrer Allgemeinheit auch nicht nach Art. 2 Abs. 5 der [X.] 2000/78/[X.] rechtfertigen, so ist sie unwirksam und nichtig. Der Antrag des [X.] auf Neubestellung kann deshalb nicht aus diesem Grunde abgelehnt werden. Die Beklagte ist zur Neubescheidung zu verpflichten (§ 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO).

Meta

8 C 24/11

01.02.2012

Bundesverwaltungsgericht 8. Senat

Urteil

Sachgebiet: C

vorgehend Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, 28. Januar 2009, Az: 22 BV 08.1413, Urteil

§ 2 Abs 1 Nr 1 AGG, § 3 Abs 1 S 1 AGG, § 6 Abs 3 AGG, § 7 Abs 1 AGG, § 8 Abs 1 AGG, § 10 S 1 AGG, § 10 S 2 AGG, § 20 AGG, § 22 AGG, § 36 Abs 3 Nr 1 GewO, § 36 Abs 4 GewO, Art 2 Abs 5 EGRL 78/2000, Art 4 Abs 1 EGRL 78/2000, Art 6 Abs 1 EGRL 78/2000

Zitier­vorschlag: Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 01.02.2012, Az. 8 C 24/11 (REWIS RS 2012, 9595)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 9595

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Referenzen
Wird zitiert von

22 ZB 15.1271

22 ZB 15.271

22 ZB 14.1673

2 VA (Not) 8/17

9 Sa 20/12

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