Bundesfinanzhof, Urteil vom 27.10.2021, Az. III R 19/19

3. Senat | REWIS RS 2021, 1560

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Kindergeld; Feststellung der Fähigkeit volljähriger behinderter Kinder zum Selbstunterhalt


Leitsatz

1. Die Fähigkeit des Kindes zum Selbstunterhalt ist anhand eines Vergleichs des gesamten existenziellen Lebensbedarfs des Kindes einerseits und seiner finanziellen Mittel andererseits zu prüfen.

2. Allein aus dem Umstand, dass der Sozialleistungsträger den dem Grunde nach Kindergeldberechtigten auf Zahlung eines Unterhaltsbeitrags für das Kind in Anspruch nimmt, ist nicht abzuleiten, dass dieses zum Selbstunterhalt außerstande ist.

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des [X.] vom 23.01.2018 - 12 K 4010/16 Kg wird als unbegründet zurückgewiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens hat die Klägerin zu tragen.

Tatbestand

I.

1

Streitig ist, auf welche Weise bei der Festsetzung von [X.]indergeld zu ermitteln ist, ob ein volljähriges [X.]ind aufgrund seiner Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten. Streitzeitraum ist der Monat Januar 2016.

2

Die [X.]lägerin und Revisionsklägerin ([X.]lägerin) ist die Mutter des [X.] geborenen [X.]indes ([X.]). Dieses ist seit seinem 14. [X.]ebensjahr mit einem [X.]rad der Behinderung von 70 und dem Merkzeichen "[X.]" schwerbehindert. [X.] wohnt seit August 2012 in einer stationären Einrichtung. Die monatlichen [X.]osten hierfür in Höhe von 850 € für den [X.]ebensunterhalt und von 3.200 € für die fachliche Hilfe werden vom [X.] im Rahmen der Eingliederungshilfe übernommen. Seit Juni 2015 ist [X.] bei der Stadt U im allgemeinen Verwaltungsdienst beschäftigt und erhielt für die Vollzeittätigkeit ab Januar 2016 ein Bruttogehalt von 2.236 € (1.443 € netto). Der [X.] beteiligte [X.] bis April 2016 mit monatlich 506,45 € an den [X.]osten für seine Unterbringung und Betreuung in der Einrichtung. Durch Änderungsbescheid vom 29.04.2016 wurde [X.] rückwirkend zu einer erhöhten [X.]ostenbeteiligung u.a. ab Januar 2016 von 845,81 € monatlich herangezogen. Der den Zeitraum ab Januar 2015 betreffende Nachzahlungsbetrag in Höhe von 3.949,19 € war bis zum 13.05.2016 zu entrichten.

3

Im Dezember 2015 nahm der [X.] die [X.]lägerin ab Januar 2016 nach § 94 Abs. 2 des [X.] in der Fassung vom [X.] (S[X.]B XII) i.V.m. §§ 1601 ff. des Bürgerlichen [X.]esetzbuchs (B[X.]B) auf Zahlung eines Unterhaltsbeitrags in Höhe von 28,38 € in Anspruch.

4

Mit inzwischen bestandskräftigem Bescheid vom 16.07.2015 hob das zunächst als Familienkasse zuständige [X.]andesamt für Besoldung und Versorgung ([X.]BV) die [X.]indergeldfestsetzung ab 01.07.2015 auf. Den Antrag der [X.]lägerin auf Festsetzung von [X.]indergeld für Januar 2016 lehnte das [X.]BV mit Bescheid vom 15.11.2016 ab.

5

Der Einspruch blieb ebenso erfolglos (Einspruchsentscheidung vom 05.12.2016) wie die [X.]lage. Zur Begründung seiner Entscheidung führte das Finanzgericht (F[X.]) im Wesentlichen aus, [X.] sei nicht aufgrund seiner Behinderung außerstande gewesen, sich selbst zu unterhalten. Die ihm zur Verfügung stehenden Mittel deckten sowohl den [X.]rundbedarf als auch den behinderungsbedingten Mehrbedarf. Entgegen der Ansicht der [X.]lägerin indiziere ihre Heranziehung zu einem Unterhaltsbeitrag nicht die Unfähigkeit des [X.]indes zum Selbstunterhalt. Der Unterhaltsbeitrag sei vielmehr bei der Vergleichsrechnung zu berücksichtigen und mindere die beim [X.]ind als Bezüge anzusetzenden Sozialleistungen.

6

Mit der Revision rügt die [X.]lägerin die Verletzung materiellen Bundesrechts.

7

Die [X.]lägerin beantragt,
die Beklagte und Revisionsbeklagte unter Aufhebung des Urteils des F[X.] Münster vom 23.01.2018 - 12 [X.] 4010/16 [X.]g und des Bescheids vom 15.11.2016 in [X.]estalt der Einspruchsentscheidung vom 05.12.2016 zu verpflichten, [X.]indergeld für [X.] für den Monat Januar 2016 in gesetzlicher Höhe festzusetzen.

8

Im [X.]aufe des Revisionsverfahrens hat das für die [X.]lägerin zuständige [X.]BV von der ihm durch das [X.]esetz zur Beendigung der Sonderzuständigkeit der Familienkassen des öffentlichen Dienstes im Bereich des [X.] (B[X.]Bl I 2016, 2835, [X.], 1419) in § 72 Abs. 1 Satz 3 des Einkommensteuergesetzes (ESt[X.]) eingeräumten Möglichkeit [X.]ebrauch gemacht, auf seine Zuständigkeit als Familienkasse des öffentlichen Dienstes zu verzichten. Hierdurch wurde zum 01.03.2021 die örtlich zuständige Familienkasse der [X.], die Beklagte und Revisionsbeklagte (die Familienkasse) für die Festsetzung und Auszahlung des [X.]indergeldes im Fall der [X.]lägerin zuständig.

9

Die Familienkasse beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung --[X.]O--). Das [X.] hat zu Recht entschieden, dass der [X.]lägerin für den Monat Januar 2016 kein [X.]indergeld für [X.] zusteht.

1. Die Familienkasse der [X.] ist aufgrund eines Organisationsaktes im Wege des gesetzlichen Parteiwechsels in die Beteiligtenstellung des [X.] eingetreten (vgl. Senatsurteil vom 15.06.2016 - III R 67/13, [X.], 1712, Rz 9, m.w.[X.].).

2. Gemäß § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Sätze 1 und 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 [X.]r. 3 EStG besteht für ein [X.]ind, das das 18. [X.]ebensjahr vollendet hat, ein Anspruch auf [X.]indergeld, wenn es wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten, sofern die Behinderung --wie im [X.] vor Vollendung des 25. [X.]ebensjahres eingetreten ist.

Das Tatbestandsmerkmal "außerstande ist, sich selbst zu unterhalten" ist im Gesetz nicht näher umschrieben. [X.]ach ständiger Rechtsprechung des [X.] ([X.]) ist ein behindertes [X.]ind dann außerstande, sich selbst zu unterhalten, wenn es seinen [X.]ebensunterhalt nicht bestreiten kann (z.B. [X.]-Urteil vom 15.10.1999 - VI R 183/97, [X.]E 189, 442, [X.], 72, unter 1., sowie Senatsurteile vom 05.02.2015 - III R 31/13, [X.]E 249, 144, [X.], 1017, Rz 13, und vom 13.04.2016 - III R 28/15, [X.]E 253, 249, [X.], 648, Rz 10, m.w.[X.].). Ist das [X.]ind hingegen trotz seiner Behinderung in der [X.]age, selbst für seinen [X.]ebensunterhalt zu sorgen, kommt der Behinderung keine Bedeutung zu (z.B. Senatsurteil in [X.]E 253, 249, [X.], 648, Rz 10, m.w.[X.].).

a) Die Fähigkeit des [X.]indes zum Selbstunterhalt ist anhand eines Vergleichs zweier Bezugsgrößen zu prüfen, nämlich des gesamten existenziellen [X.]ebensbedarfs des [X.]indes einerseits und seiner finanziellen Mittel andererseits (z.B. Senatsurteile in [X.]E 249, 144, [X.], 1017, Rz 13; in [X.]E 253, 249, [X.], 648, Rz 10; vom 19.01.2017 - III R 44/14, [X.]/[X.]V 2017, 735, Rz 29, und vom [X.], [X.]E 268, 13, [X.] 2021, 807, Rz 16). Ergibt sich daraus eine ausreichende [X.]eistungsfähigkeit des [X.]indes, kann davon ausgegangen werden, dass den Eltern kein zusätzlicher Aufwand erwächst, der ihre steuerliche [X.]eistungsfähigkeit mindert, und ist es gerechtfertigt, für behinderte [X.]inder kein [X.]indergeld oder keinen [X.]inderfreibetrag zu gewähren (vgl. Senatsurteil in [X.]E 253, 249, [X.], 648, Rz 14, m.w.[X.]). Diese Betrachtung ist grundsätzlich monatsbezogen vorzunehmen. Dabei sind die Einkünfte und Bezüge, soweit für Gewinneinkünfte nicht das Realisationsprinzip gilt, nach dem Zuflussprinzip des § 11 EStG zu erfassen (Senatsurteil vom 11.04.2013 - III R 35/11, [X.]E 241, 499, [X.] 2013, 1037, Rz 15, m.w.[X.].). Ein behindertes [X.]ind bleibt bei einem nicht monatlich anfallenden notwendigen behinderungsbedingten Mehrbedarf zum Selbstunterhalt imstande, wenn es bei einer vorausschauenden Bedarfsplanung diesen Mehrbedarf bei seiner Aufteilung auf einen angemessenen vorangegangenen [X.]raum unter Zugrundelegung einer monatlichen Durchschnittsbelastung auffangen kann ([X.]-Urteil vom 24.08.2004 - VIII R 59/01, [X.]E 207, 237, [X.] 2010, 1048, unter II.1.).

aa) Der gesamte [X.]ebensbedarf eines behinderten [X.]indes setzt sich aus dem [X.] an den Grundfreibetrag [X.] des § 32a Abs. 1 Satz 2 [X.]r. 1 EStG anknüpfenden-- Grundbedarf und dem individuellen behinderungsbedingten Mehrbedarf zusammen (Senatsurteil in [X.]E 253, 249, [X.], 648, Rz 11 und 12, m.w.[X.].).

Der behinderungsbedingte Mehrbedarf umfasst Aufwendungen, die gesunde [X.]inder nicht haben, insbesondere solche für Hilfen bei den gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen des täglichen [X.]ebens (Senatsurteil in [X.]E 268, 13, [X.] 2021, 807, Rz 19). Diese können einzeln nachgewiesen werden. Dem Steuerpflichtigen kommen nach der Rechtsprechung des [X.] beim [X.]achweis aber Erleichterungen zugute. Erbringt er keinen Einzelnachweis, kann der maßgebliche Behinderten-Pauschbetrag (§ 33b Abs. 1 bis 3 EStG) als Anhalt für den betreffenden Mehrbedarf dienen (Senatsurteil in [X.]E 253, 249, [X.], 648, Rz 13, m.w.[X.].). Bei der Ermittlung des behinderungsbedingten Mehrbedarfs, der bei einer teilstationären Unterbringung während der [X.] der häuslichen Pflege anfällt, ist von einer tatsächlichen Vermutung des Inhalts auszugehen, dass für die häusliche Pflege mindestens ein Mehrbedarf in Höhe des gezahlten Pflegegeldes entsteht ([X.]-Urteil vom 24.08.2004 - VIII R 50/03, [X.]E 207, 250, [X.] 2010, 1052, unter 2.c bb). Entsprechendes gilt für den durch Blindheit verursachten Mehrbedarf beim Bezug von Blindengeld (Senatsurteil in [X.]E 249, 144, [X.], 1017, Rz 14). Ein behinderungsbedingter Betreuungsbedarf kann z.B. dadurch nachgewiesen werden, dass das [X.]ind Eingliederungshilfeleistungen erhält (Senatsurteil in [X.]E 268, 13, [X.] 2021, 807, Rz 19, m.w.[X.].), welche ggf. um einen --bereits über den Grundbedarf berücksichtigten-- Verpflegungsanteil zu kürzen sind. Der [X.] ist als Sachbezug nach der Sozialversicherungsentgeltverordnung zu bewerten (Senatsurteil vom 09.02.2012 – III R 53/10, [X.]E 236, 417, [X.] 2014, 391, Rz 13). Dem Senat ist bewusst, dass eine konkrete Ermittlung des behinderungsbedingten Mehrbedarfs aufwendig sein kann. Es ist jedoch Sache des Gesetzgebers zu bestimmen, ob und in welcher Weise pauschalierende Regelungen getroffen werden sollen (vgl. [X.]-Urteil in [X.]E 207, 250, [X.] 2010, 1052, unter 2.b).

bb) Zu den finanziellen Mitteln des behinderten volljährigen [X.]indes gehören seine Einkünfte und Bezüge (Senatsurteil in [X.]E 253, 249, [X.], 648, Rz 15). Bezüge sind alle Zuflüsse in Geld oder [X.]aturalleistungen, die nicht im Rahmen der einkommensteuerrechtlichen Einkünfteermittlung erfasst werden (vgl. z.B. Senatsurteil vom 28.05.2009 - III R 8/06, [X.]E 225, 141, [X.] 2010, 346, unter [X.], und [X.]-Urteil vom 20.03.2013 – XI R 51/10, [X.]/[X.]V 2013, 1088, Rz 16).

Da es bei der Frage der Unfähigkeit zum Selbstunterhalt festzustellen gilt, ob das [X.]ind sich aus eigenen Mitteln unterhalten kann oder ob es auf Mittel des [X.] angewiesen ist, sind als Einnahmen auch laufende oder einmalige Geldzuwendungen von dritter Seite anzusehen, soweit sie nicht der [X.]apitalanlage dienen, sondern den Unterhaltsbedarf des [X.]indes decken und damit die Eltern bei ihren Unterhaltsleistungen entlasten sollen. Unterhaltsleistungen des [X.] an das [X.]ind selbst sind nicht als Einnahmen zu berücksichtigen (Senatsurteil in [X.]E 268, 13, [X.] 2021, 807, Rz 27). Sozialleistungen, mit deren Hilfe das [X.]ind seinen existenziellen Grundbedarf oder behinderungsbedingten Mehrbedarf decken kann, sind dagegen zu berücksichtigen, soweit das [X.]ind nicht vom Sozialleistungsträger zu einem [X.]ostenbeitrag herangezogen wird. Dies gilt auch für nachrangige Sozialleistungen, soweit der Sozialleistungsträger nicht für seine [X.]eistungen bei den Eltern Regress nimmt (vgl. z.B. für Eingliederungshilfeleistungen nach §§ 53 ff. [X.] und Hilfe zum [X.]ebensunterhalt: Senatsurteil in [X.]E 268, 13, [X.] 2021, 807, Rz 23 und 24, m.w.[X.].). Bei volljährigen behinderten [X.]indern wird insoweit hinsichtlich der Frage der Unfähigkeit zum Selbstunterhalt immer an die tatsächlich verwirklichten Verhältnisse und somit an die tatsächlich gezahlten Sozialleistungen angeknüpft. Es ist also nicht hypothetisch zu fragen, wie sich die Selbstunterhaltsfähigkeit dargestellt hätte, wenn der Sozialleistungsträger keine [X.]eistungen erbracht hätte (Senatsurteil in [X.]E 268, 13, [X.] 2021, 807, Rz 31).

Die Einkünfte sind um den (anteiligen) Werbungskostenpauschbetrag gemäß § 9a EStG, die Bezüge um eine monatliche [X.]ostenpauschale von 15 € zu kürzen (Senatsurteile vom 08.08.2013 - III R 30/12, [X.]/[X.]V 2014, 498, Rz 22, und in [X.]E 268, 13, [X.] 2021, 807, Rz 22 und 25).

b) Aus der --bis zum Inkrafttreten des [X.] vom [X.] ([X.], 2135) und damit im Streitzeitraum noch möglichen-- Inanspruchnahme des dem Grunde nach [X.] auf Zahlung eines Unterhaltsbeitrags für das volljährige [X.]ind durch den die Eingliederungshilfeleistungen erbringenden Sozialleistungsträger folgt nicht, dass ohne weitere Prüfung anzunehmen ist, das [X.]ind sei [X.] von § 32 Abs. 4 Satz 1 [X.]r. 3 EStG zum Selbstunterhalt außerstande.

aa) Die durch den Sozialhilfeträger gemäß § 94 Abs. 2 [X.] i.V.m. §§ 1601 ff. [X.] gegenüber dem Unterhaltsverpflichteten geltend gemachten Ansprüche beruhen auf [X.]n Unterhaltspflichten, welche anderen Maßstäben folgen als der steuerliche [X.].

Der Gesetzgeber hat durch den [X.]atalog des § 32 Abs. 4 Satz 1 EStG eine Typisierung vorgenommen, in welchen Fällen in der Regel steuerlich zu berücksichtigende Unterhaltslasten bei den Eltern entstehen, die im Rahmen des [X.]s nach §§ 31 f., 62 ff. EStG berücksichtigt werden sollen ([X.]ichtannahmebeschluss des [X.] vom 29.03.2004 – 2 BvR 1670/01, 2 BvR 1340/03, [X.], 694, unter 1.b). Das Bestehen einer zivilrechtlichen Unterhaltspflicht ist dabei kein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal des [X.]. Vielmehr kann der [X.]indergeldanspruch zu bejahen sein, wenn eine Unterhaltspflicht nicht (mehr) besteht, und er kann zu verneinen sein, wenn nach Zivilrecht eine Unterhaltspflicht begründet wird ([X.]-Urteil vom 28.01.2004 – VIII R 21/02, [X.]E 205, 196, [X.] 2004, 555, unter [X.] bb).

Zu den Voraussetzungen [X.]r Unterhaltspflichten gehört zwar u.a. die Bedürftigkeit gemäß § 1602 [X.]. Dessen Absatz 1 bestimmt, dass unterhaltsberechtigt nur ist, wer außerstande ist, sich selbst zu unterhalten. Obwohl die in § 32 Abs. 4 Satz 1 [X.]r. 3 EStG verwendete Formulierung im Wesentlichen dieser Regelung entspricht, ist die [X.] Belastung des Steuerpflichtigen durch Unterhaltspflichten für das Einkommensteuerrecht nicht maßgebend. Vielmehr regelt § 32 Abs. 4 EStG die [X.]eistungsfähigkeit bestimmter Gruppen von [X.]indern, die das 18. [X.]ebensjahr vollendet haben, eigenständig. Dies ergibt sich aus der in § 32 Abs. 4 Satz 1 EStG für nichtbehinderte [X.]inder vorgesehenen Altersgrenze, die unabhängig davon gilt, ob die in § 32 Abs. 4 Satz 1 [X.]r. 1 und 2 EStG genannten Tatbestände bei Erreichen der Altersgrenze noch andauern. Das Zivilrecht kennt eine solche zeitliche Grenze für die Unterhaltspflicht der Eltern dagegen nicht (vgl. [X.]-Urteil vom [X.] – VIII R 51/01, [X.]E 200, 212, [X.] 2003, 91, unter [X.]). Zudem gehört bei § 32 Abs. 4 Satz 1 [X.]r. 3 EStG das Vermögen des behinderten [X.]indes nicht zu den finanziellen Mitteln, die es für den Selbstunterhalt einzusetzen hat. Denn mangels sachlicher Änderung von § 32 Abs. 4 Satz 1 [X.]r. 3 EStG ist auch nach Wegfall der Grenzbetragsregelung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG in der Fassung vom 07.12.2011 auf die Einkünfte und Bezüge des [X.]indes abzustellen (Senatsurteil in [X.]E 253, 249, [X.], 648, Rz 15, m.w.[X.].). Demgegenüber ist ein volljähriges [X.]ind zivilrechtlich verpflichtet, den Stamm seines Vermögens bis auf einen sog. [X.]otgroschen zu verwerten, bevor es seine Eltern auf Unterhalt in Anspruch nimmt. Dies folgt im Umkehrschluss aus § 1602 Abs. 2 [X.] (Senatsurteil vom 30.10.2008 - III R 97/06, [X.]/[X.]V 2009, 728, unter [X.] aa).

Darüber hinaus unterscheiden sich die Regelungen in §§ 1601 ff. [X.] und in § 32 EStG hinsichtlich des Umfangs des Unterhalts bzw. der steuerlichen Entlastung. Während nach § 1610 [X.] ein angemessener Unterhalt zu gewähren ist, welcher sich nach der [X.]ebensstellung des Bedürftigen bestimmt, wird beim [X.] gemäß § 31 Satz 1 EStG die steuerliche Freistellung eines Einkommensbetrages (nur) in Höhe des Existenzminimums eines [X.]indes bewirkt (entweder durch das [X.]indergeld nach dem X. Abschnitt des EStG oder durch die [X.]inderfreibeträge nach § 32 Abs. 6 EStG). Denn aus Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes --GG-- i.V.m. dem Sozialstaatsgrundsatz des Art. 20 Abs. 1 GG sowie aus Art. 6 Abs. 1 GG folgt, dass bei der Besteuerung einer Familie (nur) das Existenzminimum sämtlicher Familienmitglieder steuerfrei bleiben muss, und zwar unabhängig davon, wie die Besteuerung im Einzelnen ausgestaltet ist und welche Familienmitglieder dabei als Steuerpflichtige herangezogen werden (BVerfG-Beschluss vom 29.05.1990 – 1 Bv[X.] 20/84, 1 Bv[X.] 26/84, 1 Bv[X.] 4/86, [X.] 1990, 653, [X.] 82, 60, unter [X.]). Weder Art. 3 Abs. 1 noch Art. 6 Abs. 1 GG verlangen dagegen, dass der Gesetzgeber die Unterhaltsleistungen für [X.]inder in der vollen Höhe des [X.]n Unterhaltsanspruchs berücksichtigen müsste. Eine individuelle Bemessung des [X.] nach den Umständen des Einzelfalles würde das Besteuerungsverfahren unverhältnismäßig erschweren. Auch sachlich ist es nicht geboten, die steuerliche Entlastung für kindbedingte Aufwendungen am [X.]n Unterhalt auszurichten und sie damit letztlich nach dem [X.] Status der einzelnen Familie zu bestimmen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Staat beim unterhaltsberechtigten [X.]ind auf eine Besteuerung des Unterhalts --die verfassungsrechtlich zulässig wäre, soweit der Unterhalt das Existenzminimum übersteigt-- verzichtet (§ 2 Abs. 1 Satz 1 [X.]r. 7, § 22 [X.]r. 1 Satz 2 Halbsatz 1 EStG) und damit das [X.]ettoeinkommen der Eltern ungeschmälert der Familie als Bedarfs- und Versorgungsgemeinschaft verbleibt (BVerfG-Beschluss in [X.] 1990, 653, [X.] 82, 60, unter C.III.3.d).

bb) Aus § 94 Abs. 2 Satz 3 [X.] lässt sich nichts Gegenteiliges ableiten. Die Vorschrift bestimmt, dass sich die nach § 92 Abs. 2 Satz 1 [X.] in einem sehr begrenzten Umfang auf den Sozialhilfeträger übergehenden Unterhaltsansprüche zum gleichen [X.]punkt und um denselben Vomhundertsatz verändern, um den sich das [X.]indergeld verändert.

[X.]ach der Rechtsprechung des [X.] ([X.]) beschränkt sich der Regelungsgehalt des § 94 Abs. 2 Satz 3 [X.] allein auf die Höhe des übergegangenen Anspruchs und orientiert sich im Rahmen der Zumutbarkeit an der Entwicklung des [X.]indergeldes. Ein zwingender Zusammenhang zwischen [X.] und [X.] lässt sich weder aus dem Wortlaut des § 94 Abs. 2 [X.] noch aus Systematik oder Sinn und Zweck der Regelung ableiten. § 94 Abs. 2 [X.] sieht aus sozialstaatlichen Erwägungen eine Ausnahme vom allgemeinen [X.] nach § 94 Abs. 1 [X.] vor. Sinn dieser Regelung ist eine Privilegierung der Eltern behinderter oder pflegebedürftiger volljähriger [X.]inder. Dem liegt der [X.] zugrunde, dass die durch die Behinderung ihres erwachsenen [X.]indes ohnehin schwer getroffenen Eltern nicht auch noch mit hohen Pflegekosten belastet werden sollen. Wenn die Voraussetzungen der Privilegierung nach § 94 Abs. 2 [X.] nicht vorlägen, würde der gesamte Unterhaltsanspruch nach § 94 Abs. 1 Satz 1 [X.] auf den Träger der Sozialhilfe übergehen. Würde die Privilegierung den Bezug von [X.]indergeld voraussetzen, liefe dies dem Gesetzeszweck zuwider ([X.]-Urteil vom 23.06.2010 – XII ZR 170/08, [X.]eue Juristische Wochenschrift 2010, 2957, Rz 27 bis 29). Dem schließt sich der Senat an.

cc) Ob das behinderte [X.]ind über Einkünfte und Bezüge verfügt, die seinen existenziellen Grundbedarf und den individuellen behinderungsbedingten Mehrbedarf decken, lässt sich zutreffend nur ermitteln, wenn der Bedarf und die verfügbaren finanziellen Mittel des [X.]indes --wie unter [X.] bei der Vergleichsrechnung im Einzelnen betrachtet werden. Denn dadurch wird die für § 32 Abs. 4 Satz 1 [X.]r. 3 EStG maßgebliche tatsächliche finanzielle [X.]eistungsfähigkeit des [X.]indes bestimmt. Etwaige Beschränkungen, denen der Sozialleistungsträger bei der Heranziehung der Einkünfte des [X.]indes zur Deckung seiner Aufwendungen unterliegt (z.B. für die Eingliederungshilfe nunmehr gemäß § 92 i.V.m. §§ 135 ff. des [X.]eunten Buches Sozialgesetzbuch), führen dazu, dass dem [X.]ind ein höherer Anteil seiner Einkünfte zur Deckung seines [X.] zur Verfügung steht. Sie erhöhen damit letztlich die finanzielle [X.]eistungsfähigkeit des [X.]indes. Die vom [X.]ind auf sozialrechtlicher Grundlage an den Sozialleistungsträger entrichteten [X.]ostenbeiträge sind bei der Vergleichsrechnung aber ebenso zu berücksichtigen wie Unterhaltsbeiträge, auf die der Sozialleistungsträger die Eltern in Anspruch genommen hat.

3. In Anwendung der vorstehenden Grundsätze hat das [X.] im Ergebnis zu Recht angenommen, dass [X.] mit seinen Einkünften aus nichtselbstständiger Arbeit und mit der Eingliederungshilfe im Monat Januar 2016 über ausreichende Mittel verfügte, um seinen Grundbedarf und seinen behinderungsbedingten Mehrbedarf zu decken. Dies gilt auch unter zusätzlicher Berücksichtigung der vom [X.] bei den Bezügen nicht in Abzug gebrachten monatlichen [X.]ostenpauschale von 15 €.

a) Auf der [X.] waren 4.535 € in die Vergleichsrechnung einzustellen. Davon entfallen 721 € auf den Grundbedarf (1/12 von 8.652 €) und 3.814 € auf den behinderungsbedingten Mehrbedarf (4.050 € Eingliederungshilfe abzüglich 236 € für den nach der Sozialversicherungsentgeltverordnung bewerteten Verpflegungsanteil). [X.]ach den Feststellungen des [X.] erhielt [X.] finanzielle [X.]eistungen der Eingliederungshilfe in Höhe von insgesamt 4.050 €. Ein darüber hinausgehender behinderungsbedingter Mehrbedarf des [X.] für eine häusliche Versorgung, Betreuung und Unterstützung durch die [X.]lägerin steht dem Grunde nach nicht fest. Soweit die [X.]lägerin erstmals im Revisionsverfahren eigene Betreuungs- und Unterstützungsleistungen für [X.] geltend macht, handelt es sich um neues tatsächliches Vorbringen. Dieses kann, selbst wenn es erheblich wäre, im Revisionsverfahren nicht mehr berücksichtigt werden, weil die [X.]lägerin dessen [X.]ichtberücksichtigung in der Vorinstanz nicht mit Verfahrensrügen geltend gemacht hat (§ 118 Abs. 2 [X.]O).

b) Dem stehen eigene verfügbare Mittel des [X.] in Höhe von 4.861 € gegenüber. [X.] bezog [X.]ettoeinkünfte aus nichtselbstständiger Arbeit in Höhe von 1.443 €, von denen der anteilige Werbungskostenpauschbetrag gemäß § 9a Satz 1 [X.]r. 1 Buchst. a EStG von 83 € in Abzug zu bringen ist. Außerdem sind die Eingliederungshilfeleistungen abzüglich der monatlichen [X.]ostenpauschale von 15 € und des Unterhaltsbeitrags der [X.]lägerin in Höhe von 28,38 € zu berücksichtigen. [X.] nicht zu beanstanden ist, dass das [X.] den [X.]ostenbeitrag des [X.] lediglich mit 506 € als Abzugsposten in Ansatz gebracht hat. Eine anteilige Berücksichtigung des durch Änderungsbescheid des [X.] vom 29.04.2016 geltend gemachten Betrages von 3.949,19 € kommt nicht in Betracht, da das [X.] nicht festgestellt hat, dass [X.] bereits ab Ende 2015 mit der Ende April 2016 erhobenen [X.]achforderung rechnen musste, zumal sich diese nicht lediglich auf das [X.] bezog, sondern auch das [X.] betraf.

4. Die [X.]ostenentscheidung beruht auf §§ 143 Abs. 1, 135 Abs. 2 [X.]O.

Meta

III R 19/19

27.10.2021

Bundesfinanzhof 3. Senat

Urteil

vorgehend FG Münster, 23. Januar 2018, Az: 12 K 4010/16 Kg, Urteil

§ 32 Abs 4 S 1 Nr 3 EStG 2009, § 62 Abs 1 EStG 2009, § 63 Abs 1 S 1 EStG 2009, § 63 Abs 1 S 2 EStG 2009, § 94 Abs 2 SGB 12, § 1602 BGB, § 1610 BGB, EStG VZ 2016

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 27.10.2021, Az. III R 19/19 (REWIS RS 2021, 1560)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2021, 1560

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

III R 13/21 (Bundesfinanzhof)

Kindergeldanspruch für ein volljähriges behindertes Kind; Pflegegeld; Unterhaltsanspruch gegenüber dem Ehegatten des behinderten Kindes


III R 7/21 (Bundesfinanzhof)

Kindergeld; Opferrente als Bezug eines behinderten volljährigen Kindes


III R 28/17 (Bundesfinanzhof)

Kindergeld für behinderte Kinder; keine Berücksichtigung des Kindergelds als kindeseigene Mittel


III R 23/22 (Bundesfinanzhof)

Selbstunterhalt des behinderten Kindes aus einer durch Vermögensumschichtung begründeten privaten Rente


III R 48/20 (Bundesfinanzhof)

Kindergeld für behinderte Kinder; Berücksichtigung eines Teils der Kapitalleistung aus einer Rentenversicherung mit Gewinnbeteiligung (Altvertrag) …


Referenzen
Wird zitiert von

Keine Referenz gefunden.

Zitiert

XII ZR 170/08

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.