Bundessozialgericht, Urteil vom 19.05.2022, Az. B 8 SO 13/20 R

8. Senat | REWIS RS 2022, 5315

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Gegenstand

Sozialhilfe - Eingliederungshilfe - Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft - Hilfen zur Teilhabe am gemeinschaftlichen und kulturellen Leben - Kosten einer Begleitperson während einer Urlaubsreise


Leitsatz

Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft umfassen im Rahmen selbstbestimmter Freizeitgestaltung auch die notwendigen behinderungsbedingten Mehrkosten für eine angemessene Urlaubsreise.

Tenor

Auf die Revision des [X.] wird das Urteil des [X.] vom 29. August 2019 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Tatbestand

1

[X.] steht die Erstattung von Reisekosten einer Begleitperson für eine vom Kläger durchgeführte Urlaubsreise.

2

Der Kläger ist schwerbehindert und leidet an einer spinalen Muskelatrophie mit schweren Wirbelsäulenverbiegungen, aufgrund derer er auf einen Rollstuhl angewiesen ist. Er bezieht eine Rente wegen voller Erwerbsminderung, Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Vierten Kapitel des Sozialgesetzbuchs Zwölftes Buch - Sozialhilfe - ([X.]), Leistungen der [X.] Pflegeversicherung sowie Leistungen der Hilfe zur Pflege. Er lebt in einer eigenen Wohnung und beschäftigt im Rahmen des [X.] drei Assistenten, deren Kosten der Beklagte im Rahmen der Eingliederungshilfe trägt. Seinen Antrag (vom 26.4.2016) auf Übernahme der Reisekosten einer Begleitperson für eine Kreuzfahrt mit zwei Landausflügen für den Zeitraum vom [X.] bis [X.] in Höhe von 2015,50 Euro lehnte der Beklagte ab (Bescheid vom [X.]; Widerspruchsbescheid vom 27.9.2016). Im Juli 2016 unternahm der Kläger die beantragte Reise in Begleitung eines seiner Assistenten.

3

Die hiergegen gerichtete Klage hat keinen Erfolg gehabt (Urteil des Sozialgerichts Leipzig vom 5.12.2017; Urteil des [X.] <[X.]> vom [X.]). Zur Begründung hat das [X.] ua ausgeführt, die vom Kläger durchgeführte Kreuzfahrt diene nicht den [X.], sondern - wie bei nichtbehinderten Menschen auch - der Erholung und des Erlebnisses. Allenfalls als Nebeneffekt könnten sich hierbei Kontakte zu nichtbehinderten Menschen ergeben. Außerdem sei die Reise nicht erforderlich; denn der Kläger sei bereits hinreichend eingegliedert. Er lebe in seiner eigenen Wohnung, werde durch mehrere [X.] betreut, sei Mitglied in verschiedenen Verbänden und Vereinigungen und nehme in Ausübung eines Ehrenamts regelmäßig an mehrtägigen Veranstaltungen im gesamten Bundesgebiet teil.

4

Mit seiner Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 54 [X.] iVm § [X.] von Menschen mit Behinderungen - ([X.]), §§ 22, 23 [X.] ([X.]) sowie Art 5 Abs 2 des [X.] über die Rechte von Menschen mit Behinderungen vom 13.12.2006 (UN-Behindertenrechtskonvention ) sowie Art 3 Abs 3 Satz 2 Grundgesetz (GG).

5

Der Kläger beantragt,
die Urteile des [X.] vom 5. Dezember 2017 und des [X.] vom 29. August 2019 sowie den Bescheid des Beklagten vom 26. Mai 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27. September 2016 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ihm 2015,50 Euro zu zahlen.

6

Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

7

Er hält die angegriffenen Entscheidungen für zutreffend.

Entscheidungsgründe

8

Die zulässige Revision ist im Sinne der Aufhebung des Urteils des [X.] und der Zurückverweisung der Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz ). Ein Anspruch kommt in Betracht, soweit der Urlaub behinderungsbedingt durch die Notwendigkeit einer Begleitperson Mehrkosten verursacht. Der [X.] kann mangels ausreichender Feststellungen des [X.] (§ 163 SGG) aber nicht abschließend beurteilen, ob der geltend gemachte Anspruch auch unter dem Gesichtspunkt der Erforderlichkeit von behinderungsbedingten Mehrkosten im Einzelfall besteht.

9

Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid des [X.]n vom [X.] in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27.9.2016 (§ 95 SGG), vor dessen Erlass sozial erfahrene Dritte nicht zu beteiligen waren (§ 116 Abs 2 [X.] XII iVm § 21 des [X.] zur Ausführung des [X.] in der hier maßgeblichen Fassung vom 14.7.2005, SächsGVBl, 167). Mit diesen Bescheiden hat der [X.] die Übernahme der Reisekosten der Begleitperson für die Urlaubsreise des [X.] als Leistung der Eingliederungshilfe abgelehnt. Dagegen wendet sich der Kläger mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 und 4 iVm § 56 SGG), die zulässigerweise auf eine Geldleistung gerichtet ist, weil der [X.] die Begleitung auf der Reise durch einen Assistenten nicht als Sachleistung erbringt, sondern die Reisekosten ggf als Leistung der Eingliederungshilfe erstattet (vgl § 10 Abs 3 [X.] XII). Der Höhe nach ist die Klage begrenzt auf die Zahlung von 2015,50 Euro.

Rechtsgrundlage für einen Anspruch auf Zahlung der Kosten für die Urlaubsreise der Begleitperson des [X.] als Leistung der Eingliederungshilfe ist § 19 Abs 3 [X.] XII (in der Fassung des Gesetzes zur Einordnung des Sozialhilferechts in das [X.] vom 27.12.2003 - [X.] 3022, im Folgenden alte Fassung ) iVm §§ 53, 54 Abs 1 Satz 1 [X.] XII aF und § 55 Abs 2 [X.] 7 [X.] IX (in der Fassung des [X.] schwerbehinderter Menschen vom 23.4.2004 - [X.] 606; im Folgenden aF). Für die Erbringung von Leistungen der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen nach dem [X.] XII ist der [X.], in dessen Kreisgebiet der Kläger lebt, als örtlicher Träger der Sozialhilfe (§ 3 Abs 2 [X.] XII iVm § 10 SächsAG[X.]) örtlich (§ 98 Abs 1 [X.] XII) und sachlich zuständig (vgl § 97 Abs 1 [X.] XII).

Der Kläger erfüllt auf Grundlage der bindenden Feststellungen des [X.] (vgl § 163 SGG) die personenbezogenen Voraussetzungen für einen Anspruch auf Eingliederungshilfe. Nach § 53 Abs 1 [X.] XII aF erhalten Personen, die durch eine Behinderung iS von § 2 Abs 1 Satz 1 [X.] IX wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der [X.], eingeschränkt oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind, Leistungen der Eingliederungshilfe, wenn und solange nach den Besonderheiten des Einzelfalls, insbesondere nach Art oder Schwere der Behinderung, Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann. Der Kläger ist infolge seiner spinalen Muskelatrophie auf einen Rollstuhl angewiesen und damit wesentlich in seiner Fähigkeit eingeschränkt, an der [X.] (vgl § 1 [X.] Eingliederungshilfe-VO idF von Art 13 [X.] des Gesetzes vom 27.12.2003).

Als Leistungen zur Teilhabe am Leben in der [X.] werden auf Grundlage von § 54 Abs 1 [X.] XII iVm § 55 Abs 1 [X.] IX aF die Leistungen erbracht, die den behinderten Menschen die Teilhabe am Leben in der [X.] ermöglichen oder sichern oder sie soweit wie möglich unabhängig von Pflege machen und nach den Kapiteln 4 bis 6 nicht erbracht werden. Zu diesen Leistungen gehören nach § 55 Abs 2 [X.] 7 [X.] IX aF [X.] am gemeinschaftlichen und kulturellen Leben. Wegen der Übernahme der zwischen den Beteiligten umstrittenen Kosten einer Begleitperson bestimmt § 60 [X.] XII aF iVm § 22 [X.] Eingliederungshilfe-VO (in der bis zum 31.12.2019 geltenden Fassung; im Folgenden aF) näher, dass zum Bedarf des behinderten Menschen bei Maßnahmen der Eingliederungshilfe erforderlichenfalls die notwendigen Fahrtkosten und die sonstigen mit der Fahrt verbundenen notwendigen Auslagen der Begleitperson gehören.

Die Leistungen zur Teilhabe am Leben in der [X.] erfassen auch Leistungen, denen als [X.] das Bedürfnis nach Freizeit und Freizeitgestaltung zu Grunde liegt. Das durch den Kläger geltend gemachte Bedürfnis nach Urlaub und Erholung bei einer Kreuzfahrt fällt unter den Begriff der Freizeitgestaltung und ist damit im Grundsatz ein [X.]s Teilhabebedürfnis. Zum denkbaren Eingliederungshilfebedarf gehören allerdings nur die im Einzelfall notwendigen behinderungsbedingten Mehrkosten, wie der Kläger sie hier im Ausgangspunkt mit den Kosten der Begleitperson geltend macht; das allgemeine Bedürfnis nach selbstbestimmter Freizeitgestaltung besteht bei behinderten wie nichtbehinderten Menschen in gleicher Weise und löst dagegen für sich genommen regelmäßig noch keinen behinderungsbedingten Bedarf aus. Abschließend braucht daher im derzeitigen Stand des Verfahrens nicht entschieden werden, welche Voraussetzungen im Ausnahmefall an die Übernahme von Reisekosten des behinderten Menschen zur Verwirklichung des [X.] und des Umgangs mit nichtbehinderten Menschen zu stellen sind und ob eine Kreuzfahrt diesem [X.] - Kontakt zu nichtbehinderten Menschen - dienen kann (dazu [X.] Mecklenburg-Vorpommern vom 17.8.2016 - L 9 [X.] 15/12 - Rd[X.]7; [X.] Hamburg vom 20.11.2014 - L 4 [X.] 31/12 - Rd[X.]1; [X.] Nordrhein-Westfalen vom [X.] [X.] 163/10 - Rd[X.] 34; [X.] vom 12.11.2010 - [X.] [X.] 109/09 - Rd[X.] 32; [X.] vom 22.6.2011 - S 19 [X.] 60/11 ER - Rd[X.]1 f; Hessisches [X.] vom [X.] [X.] 27/14 - Rd[X.] 74; Oberverwaltungsgericht Schleswig-Holstein vom [X.] - [X.] 57, 511; [X.] vom [X.] - 4 LB 564/02 - [X.] 55, 221; Verwaltungsgericht Potsdam vom [X.]; [X.] vom 27.2.2002 - 2 A 2057/01).

§ 55 Abs 2 [X.] IX aF ("insbesondere") normiert einen offenen Leistungskatalog für die Eingliederungshilfe (vgl bereits [X.] vom 18.10.2012 - 5 C 15/11 - [X.]E 144, 364 Rd[X.]4). Die [X.] am Leben in der [X.] konkretisiert § 58 [X.] IX aF zwar näher dahin, dass vor allem Hilfen zur Förderung der Begegnung und des Umgangs mit nichtbehinderten Menschen ([X.]) umfasst werden. Auch dies bedeutet aber keine Einengung dahin, dass sich Leistungen der Teilhabe am Leben in der [X.] auf die Verwirklichung der in § 58 [X.] IX aF genannten Teilhabezeile beschränken ("vor allem"). Ein über die Kommunikation mit anderen Menschen hinausgehendes Teilhabebedürfnis nach Freizeit lässt sich bereits aus dem weiteren Regelbeispiel in § 58 [X.] [X.] IX aF (Hilfen zum Besuch von Veranstaltungen oder Einrichtungen, die der Geselligkeit, der Unterhaltung oder kulturellen Zwecken dienen) ableiten. Der Begriff der Freizeitgestaltung als [X.] wird schließlich seit Inkrafttreten des [X.] und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen ([X.] <[X.]> vom 23.12.2016, [X.] 3234) in § 78 Abs 1 Satz 2 [X.] IX im Zusammenhang mit Assistenzleistungen ausdrücklich genannt, ohne dass damit neue Leistungen eingeführt worden sind (BT-Drucks 18/9522, [X.]).

Freizeit ist die Zeit, über die frei verfügt und die selbstbestimmt gestaltet werden kann, da sie nicht durch fremdbestimmte Verpflichtungen oder zweckgebundene Tätigkeiten geprägt ist. In ihrer Freizeit können Menschen [X.], sportlichen, kulturellen, kreativen, bildenden und rekreativen Aktivitäten individuell oder gemeinschaftlich nachgehen; Freizeit hat nicht nur Bedeutung für die Persönlichkeitsentwicklung eines behinderten wie eines nichtbehinderten Menschen, sondern erweitert auch den möglichen Spielraum [X.] Teilhabe (vgl den Dritten Teilhabebericht der Bundesregierung über die Lebenslagen von Menschen mit Behinderungen 2021, BT-Drucks 19/27890 [X.]). Der behinderte Mensch bestimmt selbst, wie er seine Freizeit gestaltet und welche Möglichkeiten zur Teilhabe am Leben in der [X.] er ergreift. Dies hat der [X.] im Zusammenhang mit ehrenamtlicher Tätigkeit bereits entschieden (vgl BSG vom [X.] [X.] 24/11 R - ZFSH/[X.] 2013, 696 Rd[X.]7 = [X.] 65, 418, 421) und zugleich an weiteren Beispielen deutlich gemacht, dass ehrenamtliches Engagement nicht (weitere) Voraussetzung für die Anerkennung von Freizeit als [X.] ist. Dieses Verständnis von Freizeit als Teilhabechance entspricht dem umfassenden Förderungspostulat des § 4 Abs 1 [X.] [X.] IX (dazu bereits BSG vom [X.] - [X.] [X.] 19/08 R - [X.] 4-3500 § 54 [X.] Rd[X.]8).

Diese Auslegung gebietet schließlich Art 3 Abs 3 Satz 2 GG, in dessen Rahmen Menschen mit Behinderungen ermöglicht werden soll, so weit wie möglich ein selbstbestimmtes und selbstständiges Leben zu führen. Die Norm beinhaltet einen Förderauftrag und vermittelt einen Anspruch auf die Ermöglichung gleichberechtigter Teilhabe am Alltagsleben, wozu auch Urlaub und Freizeit rechnen (vgl [X.] der Bundesregierung über die Lebenslagen von Menschen mit Behinderungen 2021, BT-Drucks 19/27890, [X.] unter 9.1.1, [X.]). Eine Teilhabeleistung zielt nach diesem Verständnis auf den Ausgleich einer Benachteiligung wegen einer Behinderung ab, wenn andernfalls einem Menschen wegen einer Behinderung Entfaltungs- und Betätigungsmöglichkeiten vorenthalten werden, die anderen offenstehen (dazu auch [X.] vom 16.12.2021 - 1 BvR 1541/20 - für [X.]E vorgesehen = NJW 2022, 380 Rd[X.]0 ff; [X.] vom 30.1.2020 - 2 BvR 1005/18 - NJW 2020, 1282 - Rd[X.] 35; [X.] vom [X.] - 2 BvC 62/14 - [X.]E 151, 1 = NJW 2019, 1201, Rd[X.] 54 f). Entsprechend enthält auch Art 30 Abs 5 [X.] ([X.], [X.]I 1419, in der [X.] in [X.] seit dem [X.] - [X.]I 812) die Zielformulierung, Menschen mit Behinderungen die gleichberechtigte Teilnahme an Erholungs-, Freizeit- und Sportaktivitäten zu ermöglichen, und benennt in diesem Zusammenhang ausdrücklich Tourismusaktivitäten; auch dies ist bei der Bestimmung von Inhalt und Reichweite der Grundrechte sowie bei der Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe zu beachten (vgl zuletzt BSG vom [X.] [X.] 22/18 - [X.] 4-3500 § 53 [X.]0 Rd[X.]7 mwN).

Ein behinderter Mensch hat daher einen Anspruch auf Übernahme erforderlicher behinderungsbedingter Mehrkosten seiner angemessenen Freizeitgestaltung als Eingliederungshilfeleistung, dh auf diejenigen Kosten, die wegen Art und Schwere der Behinderung anfallen und die notwendig und geeignet sind, das [X.] zu erreichen (vgl BSG vom [X.] [X.] 22/18 R - [X.] 4-3500 § 53 [X.]0 Rd[X.]6 mwN). Das allgemeine Bedürfnis nach Urlaub sowie nach selbstbestimmter Freizeitgestaltung besteht allerdings bei behinderten wie nichtbehinderten Menschen in gleicher Weise und löst daher für sich genommen regelmäßig keinen behinderungsbedingten Bedarf aus, weshalb eine Übernahme der eigenen Kosten einer Urlaubsreise als Teilhabeleistung im Grundsatz ausscheidet (vgl zur [X.] vom 15.11.2012 - [X.] [X.] 6/11 R - [X.], 188 = [X.] 4-3500 § 49 [X.], Rd[X.]4). Sehen sich behinderte Menschen dagegen mit besonderen Kosten zur Durchführung der Freizeitgestaltung gerade aufgrund ihrer Behinderung konfrontiert, sind erforderliche behinderungsbedingte Mehraufwendungen vom Anspruch auf Eingliederungshilfeleistungen umfasst. Sie bestimmen sich nach der Differenz der Kosten der selbstgewählten Freizeitgestaltung des behinderten Menschen zu den Kosten eines nichtbehinderten Menschen bei dieser Freizeitaktivität (vgl BSG vom [X.] - [X.] [X.] 12/17 R - [X.], 43 = [X.] 4-3500 § 53 [X.], Rd[X.]9 f). Dabei zielt das in § 58 [X.] [X.] IX aF angelegte Verständnis von Hilfen zur Freizeitgestaltung gerade auch auf die Kosten für notwendige Assistenzleistungen ab (vgl [X.] in jurisPK-[X.] IX, 2. Aufl 2015, § 58 [X.] IX Rd[X.]7; nunmehr ausdrücklich § 78 Abs 1 Satz 2 [X.] IX idF des [X.]).

Ob die hier begehrte konkrete Leistung notwendig iS des § 4 Abs 1 [X.] IX ist, kann anhand der tatsächlichen Feststellungen des [X.] jedoch nicht beurteilt werden. Nach dieser Vorschrift ist im Einzelfall jede geeignete Eingliederungsmaßnahme darauf zu untersuchen, ob sie unentbehrlich zum Erreichen der Leistungsziele ist (BSG vom 20.9.2012 - [X.] [X.] 15/11 R - [X.], 67 = [X.] 4-3500 § 92 [X.], Rd[X.]4). Maßstab für berechtigte, dh angemessene und den Gesetzeszwecken und -zielen entsprechende Wünsche (§ 8 Abs 1 Satz 1 [X.] IX, § 9 Abs 2 Satz 1 [X.] XII) bzw unverhältnismäßige Mehrkosten (§ 9 Abs 2 Satz 3 [X.] XII) sind die Bedürfnisse eines nicht behinderten, nicht sozialhilfebedürftigen Erwachsenen (stRspr; vgl zuletzt BSG vom [X.] - [X.] [X.] 9/19 R - [X.], 246 = [X.] 4-3500 § 57 [X.], Rd[X.] 32 mwN). Dies beurteilt sich in erster Linie nach dem Sinn und Zweck der Eingliederungshilfe, eine vorhandene Behinderung oder deren Folgen zu beseitigen oder zu mildern und die behinderten Menschen in die [X.] einzugliedern. Hierbei gilt ein individueller und personenzentrierter Maßstab, der einer pauschalierenden Betrachtung regelmäßig entgegensteht (vgl nur BSG vom 8.3.2017 - [X.] [X.] 2/16 R - [X.] 4-1500 § 55 [X.]0 Rd[X.]3; BSG vom 28.8.2018 - [X.] [X.] 9/17 R - [X.], 210 = [X.] 4-3500 § 18 [X.], Rd[X.]1; BSG vom [X.] - [X.] [X.] 9/19 R - [X.], 246 = [X.] 4-3500 § 57 [X.], Rd[X.] 32, jeweils mwN); die Vorstellungen des Trägers der Eingliederungshilfe sind insoweit unerheblich. Begrenzt wird das Wunschrecht des Betroffenen durch § 9 Abs 2 Satz 3 [X.] XII, wonach der Träger der Sozialhilfe in der Regel Wünschen nicht entsprechen soll, deren Erfüllung mit unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden wäre. In dieser Regelung findet auch der Grundsatz der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit seinen Ausdruck (vgl bereits BSG vom [X.] [X.] 22/18 R - [X.] 4-3500 § 53 [X.]0 Rd[X.]9).

Die einwöchige Kreuzfahrt des [X.] auf der [X.] ist danach geeignet und erforderlich, um sein Bedürfnis nach Urlaub/Erholung bzw Freizeitgestaltung zu decken. Der Wunsch des [X.], sich auf eine einwöchige Urlaubsreise zu begeben, geht nicht über die Bedürfnisse eines nicht behinderten, nicht sozialhilfeberechtigten Erwachsenen hinaus; denn 72 Prozent der Menschen ohne Beeinträchtigung und 50 Prozent der Menschen mit Beeinträchtigungen unternehmen jährlich eine mindestens einwöchige Urlaubsreise (Dritter Teilhabebericht der Bundesregierung über die Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigungen, BT-Drucks 19/27890 [X.]). Dabei bewegt sich der Gesamtpreis der Reise, die der Kläger selbst aufbringen musste, im Rahmen der üblichen Ausgaben der Vergleichsgruppe der nicht sozialhilfebedürftigen Bürger für Urlaubsreisen (hierzu https://www-genesis.destatis.de/genesis/online?sequenz=statistikTabellen &selectionname=45413#abreadcrumb Stand 23.2.2022). Auch der Wunsch des [X.], die Reise als Kreuzfahrt durchzuführen, ist nachvollziehbar, weil gerade für behinderte Menschen eine Kreuzfahrt eine adäquate Alternative zu sonstigen Rundreisen darstellt ([X.], Leben in kleinen Portionen, 2020, [X.]), die - etwa wegen eines ständigen Zimmerwechsels - bei [X.] auf einen Rollstuhl mit erheblich höherem Aufwand und Anstrengungen für den behinderten Menschen verbunden sind. Auch der Wunsch, eine Reise ans Meer in den Sommermonaten durchzuführen, ist nachvollziehbar und führt nicht zu deren Unangemessenheit. Schließlich war der Kläger nach den Feststellungen des [X.] zur Durchführung seiner Urlaubsreise auf die Begleitung durch einen Assistenten angewiesen, sodass die Mitnahme einer Begleitperson mithin erforderlich war, um die Reise überhaupt unternehmen zu können. Erfolgt die Unterstützung im Urlaub des behinderten Menschen allerdings durch Personen aus dem nahen, insbesondere familiären oder freundschaftlichen Umfeld, entstehen daraus - wie bei nichtbehinderten Menschen auch - keine behinderungsbedingten Mehrkosten. Aus den Feststellungen des [X.] ist jedoch ersichtlich, dass die [X.] hier nicht auf Grundlage freundschaftlicher Verbundenheit tätig geworden ist.

Ob jedoch die Reise im Übrigen den oben dargestellten Kriterien der Angemessenheit entspricht, hat das [X.] ausgehend von seiner Rechtsansicht konsequenterweise nicht geprüft.

Zunächst wird zu prüfen sein, ob die Urlaubsreise im Gesamtkontext des Urlaubsverhaltens des [X.] angemessen ist. Dies wäre vor allem dann nicht der Fall, wenn der Kläger im laufenden Jahr bereits mehrere Urlaubsreisen unternommen hätte, so dass die hier streitige Urlaubsreise über die Bedürfnisse eines nicht behinderten, nicht sozialhilfebedürftigen Erwachsenen hinausgeht. Die Teilnahme an mehrtägigen Veranstaltungen aufgrund des ehrenamtlichen Engagements des [X.] lässt dessen Bedürfnis nach Erholungsurlaub allerdings unberührt; denn das Bedürfnis nach Erholung zielt auf ein anderes, von den ehrenamtlichen Betätigungen des [X.] unabhängiges Bedürfnis nach Freizeit ab. Dies verdeutlicht bereits § 11 Abs 2 Satz 2 [X.] XII, wonach die aktive Teilnahme am Leben in der [X.] "auch" ein gesellschaftliches Engagement umfasst, sich aber nicht darauf beschränkt. Auch die [X.] differenziert zwischen der in Art 29 geregelten Teilhabe am politischen und öffentlichen Leben, zu der auch die Mitarbeit in nichtstaatlichen Organisationen und Vereinigungen zählt (Art 29 lit b) i) [X.]), und der in Art 30 [X.] normierten Teilhabe am kulturellen Leben sowie an Erholung, Freizeit und Sport, welche in Art 30 Abs 5 lit e [X.] explizit Tourismusaktivitäten benennt.

Im Rahmen des [X.] wird das [X.] zu prüfen haben, ob unter Berücksichtigung der konkreten Wünsche des [X.] diesem die Buchung einer im Wesentlichen gleichartigen, aber insgesamt kostengünstigeren Reise zB bei einem Anbieter, der eine [X.] kostenfrei befördert, möglich gewesen ist. Allerdings folgt ein gesetzlicher Anspruch auf kostenfreie Beförderung eines Assistenten gegen den Reiseveranstalter bzw den Beförderer des Kreuzfahrtschiffes weder der Regelung aus § 147 Abs 1 [X.] 7 [X.] IX (in der bis zum 31.12.2017 geltenden Fassung; § 230 Abs 1 [X.] 7 [X.] IX idF des [X.]) noch aus Art 8 Abs 4 Satz 2 VO ([X.]) [X.]177/2010 des [X.] und des Rates vom 24.11.2010 über die Fahrgastrechte im See- und Binnenschiffsverkehr und zur Änderung der Verordnung [X.]005/2004 ([X.] vom 17.12.2010). Zwar sollen behinderte Menschen den gleichen Zugang zu Kreuzfahrten haben wie andere Bürger (vgl insoweit den 4. Erwägungsgrund der Verordnung <[X.]> [X.]177/2010). Die Pflicht zur kostenlosen Beförderung einer Begleitperson gilt aber nur für Personenverkehrsdienste, nicht für Kreuzfahrten (Wersel in [X.]/[X.], [X.] Maritime Transport Law, 2016, Art 8 EC/1177/2010 Rd[X.]20). Schließlich wird zu prüfen sein, ob die Mehrkosten der vom Kläger und seinem Assistenten durchgeführten Landausflüge, die mehr als ein Drittel des Reisepreises ausmachten, in ihrer konkreten Ausgestaltung - nicht mit einer Gruppe, sondern mit einem eigenen Reiseleiter - behinderungsbedingt erforderlich waren.

Nach § 19 Abs 3 [X.] XII aF ist Eingliederungshilfe für behinderte Menschen schließlich nur zu leisten, soweit den Leistungsberechtigten die Aufbringung der Mittel aus dem Einkommen und Vermögen nach dem 11. Kapitel des [X.] XII nicht zuzumuten ist. Feststellungen hierzu sind nicht entbehrlich; denn es handelt sich bei den Kosten für die [X.] Teilhabe nicht um eine privilegierte Hilfe nach § 92 Abs 2 Satz 1 [X.] XII aF.

Der Anspruch ist nicht wegen fehlender Kenntnis der Behörde (vgl § 18 Abs 1 [X.] XII) ausgeschlossen. Danach setzt die Sozialhilfe, mit Ausnahme der Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, ein, sobald dem Träger der Sozialhilfe oder den von ihm beauftragten Stellen bekannt wird, dass die Voraussetzungen für die Leistung vorliegen (sog [X.]), ohne dass es eines formalen Antrags bedarf. Es genügt die positive Kenntnis vom spezifischen Bedarfsfall, hingegen muss nicht bereits der konkrete finanzielle Bedarf feststehen (zuletzt BSG vom 28.8.2018 - [X.] [X.] 9/17 R - [X.], 210 = [X.] 4-3500 § 18 [X.], Rd[X.]8 mwN). Maßgeblicher Zeitpunkt der Kenntnis ist der Zeitpunkt des [X.], hier der Fälligkeit der Forderung des Reiseanbieters (vgl zur Hilfe zur [X.] vom [X.] - [X.] [X.] 20/18 R - [X.] 4-3500 § 18 [X.] 5 Rd[X.]8; zur Fälligkeit der Forderung als Bedarfsanfall im Rahmen der Eingliederungshilfeleistungen BSG vom [X.] [X.] 24/11 R - Rd[X.]0).

Diese notwendige Kenntnis war im vorliegenden Fall gegeben unabhängig davon, ob und ggf wann der Kläger vor Antragstellung einen Teil der Reisekosten bereits gezahlt hatte. Ausreichend für die Kenntnis iS des § 18 Abs 1 [X.] XII ist die Kenntnis des [X.]n von dem Bedarf an Leistungen der Eingliederungshilfe nach § 53 [X.] XII aF in Form einer durchgehenden Betreuung durch seine Assistenten (vgl zur Hilfe zur [X.] vom 2.2.2012 - [X.] [X.] 5/10 R - [X.] 4-3500 § 62 [X.] Rd[X.]8). Die insoweit erforderliche Assistenz stellt dabei die Bedarfslage dar, während die hiermit verbundenen und hier streitigen Kosten lediglich den Umfang der Hilfe betreffen. Der Sozialhilfeträger ist bereits durch die Kenntnis ersterer in die Lage versetzt worden, in die weitere ihm obliegende Sachverhaltsaufklärung hinsichtlich des Bedarfsumfangs einzutreten (§ 20 [X.] - <[X.] X>; BSG vom 28.8.2018 - [X.] [X.] 9/17 R - [X.], 210 = [X.] 4-3500 § 18 [X.], Rd[X.]8), eine völlig neue Bedarfssituation liegt nicht vor (hierzu BSG vom 20.4.2016 - [X.] [X.] 5/15 R - [X.], 139 = [X.] 4-3500 § 18 [X.] 3, Rd[X.]1).

Das [X.] wird ggf auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

[X.]                 [X.]

Meta

B 8 SO 13/20 R

19.05.2022

Bundessozialgericht 8. Senat

Urteil

Sachgebiet: SO

vorgehend SG Leipzig, 5. Dezember 2017, Az: S 10 SO 115/16, Urteil

§ 53 Abs 1 S 1 SGB 12 vom 27.12.2003, § 54 Abs 1 S 1 SGB 12 vom 27.12.2003, § 9 Abs 2 S 1 SGB 12, § 9 Abs 2 S 3 SGB 12, § 55 Abs 1 SGB 9 vom 19.06.2001, § 55 Abs 2 Nr 7 SGB 9 vom 19.06.2001, § 58 SGB 9 vom 19.06.2001, § 78 Abs 1 SGB 9 2018, § 4 Abs 1 SGB 9 vom 19.06.2001, § 22 Nr 1 BSHG§47V vom 19.06.2001, Art 3 Abs 3 S 2 GG

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Urteil vom 19.05.2022, Az. B 8 SO 13/20 R (REWIS RS 2022, 5315)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2022, 5315

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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2 BvR 1005/18

5 C 15/11

1 BvR 1541/20

2 BvC 62/14

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