Bundesgerichtshof, Beschluss vom 11.05.2011, Az. V ZB 265/10

5. Zivilsenat | REWIS RS 2011, 6813

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Gegenstand

Ausländerrecht: Prognose über mögliche Abschiebung innerhalb der angeordneten Haftdauer


Leitsatz

Auch wenn der Haftrichter Abschiebungshaft für einen Zeitraum von weniger als drei Monaten anordnet, muss er eine Prognose darüber treffen, ob die Abschiebung bei realistischer Betrachtung innerhalb dieser Zeit erfolgen kann .

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird festgestellt, dass der Beschluss des [X.] vom 5. September 2010 (272 [X.]) und der Beschluss der 2. Zivilkammer des [X.] vom 16. September 2010 den Betroffenen in seinen Rechten verletzt haben.

Gerichtskosten werden nicht erhoben. Die zur Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen in sämtlichen Instanzen werden der [X.] auferlegt.

Der Gegenstandswert des [X.] beträgt 3000 €.

Gründe

I.

1

Der Betroffene, der [X.] Staatsangehöriger ist und aus [X.] stammt, reiste am 5. September 2010 über [X.] gemeinsam mit seiner schwangeren Ehefrau nach [X.] ein. Die Eheleute verfügten nicht über einen Aufenthaltstitel für das Bundesgebiet.

2

Auf Antrag der Beteiligten zu 2 vom 5. September 2010 hat das Amtsgericht nach persönlicher Anhörung des Betroffenen [X.] bis längstens 5. Dezember 2010 verhängt und die sofortige Wirksamkeit der Entscheidung angeordnet. Im Rahmen der Anhörung stellte der Betroffene einen Asylantrag, nach dessen Eingang beim [X.] am 9. September 2010 ein Asylverfahren eröffnet worden ist.

3

Auf die gegen die Haftanordnung gerichtete Beschwerde des Betroffenen hat das [X.] die Haftdauer nach persönlicher Anhörung des Betroffenen bis längstens 4. November 2010 verkürzt und das Rechtsmittel im Übrigen zurückgewiesen. Am 5. Oktober 2010 ist der Betroffene aus der [X.] entlassen worden.

4

Mit der Rechtsbeschwerde möchte er die Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen sowie die Feststellung der Rechtsverletzung erreichen.

II.

5

Das Beschwerdegericht stützt die [X.] auf § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 [X.]. Der Betroffene werde sicher nicht untertauchen, solange über seinen Asylantrag noch nicht entschieden sei. Das ändere sich aber, wenn der Asylantrag zurückgewiesen werde. Dann sei die Versuchung groß unterzutauchen, um [X.] zu gewinnen. Denn die Zurückschiebung werde immer unwahrscheinlicher, je näher der Entbindungstermin der Ehefrau des Betroffenen rücke. Die Behörde müsse die Abläufe auf das Äußerste beschleunigen, zumal eine Flugreise mit voranschreitender Schwangerschaft kritisch zu sehen sei.

III.

6

1. [X.] ist trotz Erledigung ohne Zulassung statthaft (vgl. Senat, Beschluss vom 25. Februar 2010, [X.]/09, [X.] 2010, 150 Rn. 10) und auch im Übrigen zulässig, § 71 FamFG. Allerdings ist die neben der Feststellung begehrte Aufhebung der Beschwerdeentscheidung infolge der Erledigung nicht mehr möglich. Der Antrag ist dem Rechtsschutzziel entsprechend dahingehend auszulegen, dass die Feststellung der Rechtswidrigkeit sowohl der Entscheidung des Amtsgerichts als auch des [X.] begehrt wird.

7

2. Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg, weil sowohl die Beschwerdeentscheidung als auch die Haftanordnung, die im Falle der Erledigung ebenfalls Gegenstand der Überprüfung ist (Senat, Beschluss vom 4. März 2010 - [X.], [X.] 2010, 152 Rn. 14; Beschluss vom 18. August 2010 - [X.] 119/10, Rn. 6, juris, einer rechtlichen Prüfung nicht standhalten. Die Anordnung der [X.] war schon deshalb rechtswidrig, weil weder das Amtsgericht noch das Beschwerdegericht die erforderliche Prognose gemäß § 57 Abs. 3 i.V.m. § 62 Abs. 2 Satz 4 [X.] vorgenommen haben.

8

a) Die Haftgerichte sind auf Grund von Art. 20 Abs. 3 GG verfassungsrechtlich und auf Grund von § 26 FamFG einfachrechtlich verpflichtet, das Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen für die Anordnung der [X.] in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht umfassend zu prüfen. Insbesondere die für die Anwendung des § 62 Abs. 2 Satz 4 [X.] notwendige Prognose hat der Haftrichter auf der Grundlage einer hinreichend vollständigen Tatsachengrundlage zu treffen. Die Freiheitsgewährleistung des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG setzt auch insoweit Maßstäbe für die Aufklärung des Sachverhalts und damit für die Anforderungen in Bezug auf die tatsächliche Grundlage der richterlichen Entscheidungen. Es ist unverzichtbare Voraussetzung rechtsstaatlichen Verfahrens, dass Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf zureichender richterlicher Sachaufklärung beruhen und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage haben, die der Bedeutung der Freiheitsgarantie entspricht ([X.], NJW 2009, 2659, 2660; Senat, Beschluss vom 4. März 2010 - [X.] 222/09, [X.], 323, 329 f. Rn. 14; Beschluss vom 20. Januar 2011 - [X.] 226/10, Rn. 15, juris).

9

b) Auch wenn der Haftrichter eine Haftdauer von weniger als drei Monaten anordnet, muss er eine Prognose darüber treffen, ob die Abschiebung bei realistischer Betrachtung innerhalb dieser [X.] erfolgen kann. Das ergibt sich schon daraus, dass § 62 Abs. 2 Satz 4 [X.] eine Ausprägung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit ist (vgl. [X.], NJW 2009, 2659). Die Prognose muss sich grundsätzlich auf alle im konkreten Fall ernsthaft in Betracht kommenden Gründe erstrecken, die der Zurückschiebung entgegenstehen oder sie verzögern können (Senat, Beschluss vom 22. Juli 2010 - [X.] 29/10, [X.] 2011, 27 Rn. 22; Beschluss vom 18. August 2010 - [X.] 119/10, Rn. 22, juris). Zu der Feststellung, ob die Zurückschiebung innerhalb der angeordneten Haftdauer möglich ist, sind konkrete Angaben zum Ablauf des Verfahrens und eine Darstellung erforderlich, in welchem [X.]raum die einzelnen Schritte unter normalen Bedingungen durchlaufen werden können. Soweit die Ausländerbehörde keine konkreten Tatsachen hierzu mitteilt, obliegt es gemäß § 26 FamFG dem Gericht nachzufragen (Senat, Beschluss vom 6. Mai 2010 - V ZB 193/09, [X.] 2010, 361, 363; Beschluss vom 8. Juli 2010 - V ZB 89/10, Rn. 8, juris; Beschluss vom 18. August 2010 - [X.] 119/10, Rn. 22 aaO).

c) Diesen Anforderungen genügen die angefochtenen Entscheidungen nicht.

aa) Aus der Entscheidung des Amtsgerichts geht eine Prognose nicht hervor. Die Tatsachengrundlage ist zudem unzureichend, weil sich der Entscheidung nicht entnehmen lässt, dass das Gericht überhaupt Kenntnis von dem Umstand hatte, dass der Betroffene in Begleitung seiner hochschwangeren Ehefrau eingereist war.

bb) Ebenso wenig lässt sich der Entscheidung des [X.] die erforderliche Prognose entnehmen. Es hat allerdings den Sachverhalt weiter aufgeklärt und ist davon ausgegangen, dass angesichts der Schwangerschaft eine Zurückschiebung des Betroffenen nur gemeinsam mit seiner Ehefrau in Betracht kommen werde. Wegen der laufenden Asylverfahren und der bevorstehenden Entbindung hat das Beschwerdegericht allenfalls ein kurzes [X.]fenster für die Durchführung der Zurückschiebung gesehen. Diesen Umstand hat es zwar zum Anlass genommen, die Behörde auf das Erfordernis einer größtmöglichen Beschleunigung hinzuweisen und die Haft zu verkürzen. Die Durchführbarkeit der Abschiebung als solche hat es aber nicht geprüft. Dazu bestand schon deshalb Anlass, weil sich die Ehefrau den Feststellungen zufolge im [X.]punkt der Beschwerdeentscheidung bereits in der 28./29. Schwangerschaftswoche und damit am Beginn des achten Schwangerschaftsmonats befand. Dass eine Flugreise deshalb problematisch war, hat das Beschwerdegericht erörtert, ohne jedoch auf die nahe liegende Frage einzugehen, ob eine Zurückschiebung bei realistischer Betrachtung nicht schon aus diesem Grund scheitern musste. Im Hinblick darauf hätte es gemäß § 26 FamFG Ermittlungen dazu durchführen müssen, ob der Gesundheitszustand der Ehefrau eine Flugreise noch erlaubte und ob sie von Seiten der Fluggesellschaften noch durchgeführt werden würde. Schließlich hat das Beschwerdegericht nicht festgestellt, dass mit einer Entscheidung über die Asylanträge durch das [X.] zu einem [X.]punkt gerechnet werden konnte, in dem die Zurückschiebung noch erfolgen konnte.

Dass die gebotene, aber unterlassene Prognose die Haft gerechtfertigt hätte, kommt hier nicht ernsthaft in Betracht. Der Betroffene ist bereits am 5. Oktober 2010 und damit knapp drei Wochen nach der Beschwerdeentscheidung entlassen worden.

IV.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 83 Abs. 2, § 81 Abs. 1, § 430 FamFG; unter Berücksichtigung der Regelung in Art. 5 Abs. 5 [X.] entspricht es billigem Ermessen, der Bundesrepublik [X.] als derjenigen Körperschaft, der die Beteiligte zu 2 angehört, zur Erstattung der zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen zu verpflichten (vgl. Senat, Beschluss vom 22. Juli 2010 - [X.] 28/10, [X.] 2010, 316, 317). Die Festsetzung des [X.] folgt aus § 128 c Abs. 2 KostO i.V.m. § 30 Abs. 2 KostO.

Krüger                                        [X.]Roth

                      Brückner                                           Weinland

Meta

V ZB 265/10

11.05.2011

Bundesgerichtshof 5. Zivilsenat

Beschluss

Sachgebiet: ZB

vorgehend LG Dresden, 16. September 2010, Az: 2 T 738/10, Beschluss

§ 62 Abs 2 S 4 AufenthG, § 26 FamFG

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 11.05.2011, Az. V ZB 265/10 (REWIS RS 2011, 6813)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 6813

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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