Bundessozialgericht, Beschluss vom 12.05.2020, Az. B 12 KR 112/18 B

12. Senat | REWIS RS 2020, 2384

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Gegenstand

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensfehler - Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör - Hinweispflicht auf Zulassungsbedürftigkeit der Berufung bei einer unzutreffenden Rechtsmittelbelehrung - keine Umdeutung eines unzulässigen Rechtsmittels in zulässiges Rechtsmittel


Tenor

Auf die Beschwerde der Klägerin wird das Urteil des [X.] vom 12. November 2018 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückverwiesen.

Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 10 000 Euro festgesetzt.

Gründe

1

I. In dem der Nichtzulassungsbeschwerde zugrunde liegenden Rechtsstreit wendet sich die Klägerin gegen Beitragsforderungen der beklagten Krankenkasse.

2

Die Klägerin betreibt ein "Technologiezentrum", in dem sie ihren [X.] beschäftigt. Sie hat mit Schreiben vom 28.6.2017 "unter dem Vorbehalt der Bewilligung von PKH" Klage erhoben und beantragt, die Beklagte zu verurteilen, es zu unterlassen, rechtswidrige Beitragsbescheide zuzustellen sowie festzustellen, dass sie der Beklagten keine Beiträge schulde. Zur Begründung hat sie ua Mahnungen der Beklagten vom 7.6., 4.8. und [X.] vorgelegt.

3

Das [X.] hat die Klage wegen fehlenden Vorverfahrens als unzulässig abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 30.5.2018). Die mit dem Begehren eingelegte Berufung, "der Beklagten zu untersagen, unberechtigte Mahnungen zu schicken" und "fest zu stellen, dass die Beklagte keinen Anspruch auf Beitragszahlungen hat", hat das [X.] als unzulässig verworfen. Die zuletzt vorgelegte Mahnung vom [X.] weise einen Betrag von 625,09 Euro aus, so dass der notwendige Wert des [X.] von mehr als 750 Euro nicht erreicht sei (Urteil vom 12.11.2018).

4

Gegen die Nichtzulassung der Revision wendet sich die Klägerin mit ihrer Beschwerde.

5

II. Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des [X.] vom 12.11.2018 ist zulässig und im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung begründet.

6

1. Die Beschwerde ist zulässig. Die Beschwerdebegründung genügt den Anforderungen des § 160a [X.] Satz 3 [X.]G. Sie bezeichnet die Tatsachen, aus denen sich der geltend gemachte Verfahrensmangel (§ 160 [X.] [X.] [X.]G) einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG, § 62 [X.]G) ergibt. Die Beschwerdebegründung enthält hinreichende Ausführungen dazu, dass das [X.] seiner Hinweispflicht hinsichtlich der Verwerfung der Berufung nicht nachgekommen sei und damit einen zuvor nicht erörterten rechtlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung gemacht und dem Rechtsstreit eine unerwartete [X.] gegeben habe, mit der auch ein gewissenhafter Prozessbeteiligter nach dem bisherigen [X.] selbst unter Berücksichtigung mehrerer vertretbarer Rechtsauffassungen nicht zu rechnen brauchte (Überraschungsentscheidung; stRspr; vgl [X.] Urteil vom 14.7.1998 - 1 BvR 1640/97 - [X.]E 98, 218, 263 = juris Rd[X.]62; B[X.] Urteil vom 12.12.1990 - 11 [X.]/89 - [X.]-4100 § 103 [X.]; B[X.] Urteil vom [X.] - B 6 KA 44/08 R - [X.] 4-2500 § 103 [X.] Rd[X.]8 mwN).

7

2. Die Beschwerde ist auch begründet. Das [X.] hat den Anspruch der Klägerin auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt. Es hat seine Entscheidung auf einen rechtlichen Aspekt gestützt, zu dem die Klägerin sich nicht äußern konnte und hat dem Rechtsstreit dadurch eine unerwartete [X.] gegeben.

8

Gelangt das [X.] zu dem Ergebnis, dass die Berufung entgegen der Annahme des [X.] zulassungsbedürftig (§ 144 [X.]G) sei, erfordert die prozessuale Fürsorgepflicht und das Gebot effektiven Rechtsschutzes einen entsprechenden Hinweis, um dem Rechtsmittelführer die Möglichkeit einzuräumen, zum Wert des [X.] Stellung zu nehmen oder - sofern noch innerhalb der Rechtsmittelfrist umsetzbar - den Antrag umzustellen und anstelle der Berufung Nichtzulassungsbeschwerde (§ 145 [X.]G) einzulegen (vgl B[X.] Beschluss vom 10.11.2011 - [X.] [X.] 12/11 B - juris Rd[X.] 8; B[X.] Urteil vom 14.12.2006 - B 4 R 19/06 R - [X.] 4-3250 § 14 [X.] Rd[X.] 24). Denn in einer unzutreffenden Rechtsmittelbelehrung liegt keine Zulassung der Berufung und eine Umdeutung der unstatthaften Berufung in eine Nichtzulassungsbeschwerde scheidet aus (B[X.] Urteil vom [X.] - B 1 KR 25/01 R - [X.] 4-1500 § 158 [X.] Rd[X.]1). Die Hinweispflicht besteht insbesondere dann, wenn der Rechtsmittelführer einer - jedenfalls aus der Sicht des Berufungsgerichts - falschen Rechtsmittelbelehrung des [X.] folgt und die mit der Berufung angefochtene Entscheidung auch im Übrigen nicht erkennen lässt, dass es deren Zulassung bedarf. Das ist hier der Fall. Das [X.] hat in seiner Rechtsmittelbelehrung auf die Möglichkeit der Berufung hingewiesen. Auch Tatbestand und Entscheidungsgründe des [X.] enthalten keinen Hinweis darauf, dass die Berufung wegen eines zu niedrigen [X.] nach § 144 Abs 1 Satz 1 [X.] [X.]G der Zulassung bedürfe. Vielmehr geht das [X.] einerseits von einer Klage aus, die sich "gegen Beitragsbescheide der Beklagten" richte, ohne diese näher zu bezeichnen und deren quantifizierbaren Regelungsgehalt festzustellen. Andererseits wird als Antrag der Klägerin wiedergegeben, "die Beklagte zu verurteilen, es zu unterlassen, ihr rechtswidrige Beitragsbescheide zuzustellen", die danach erhobene Unterlassungsklage dann aber wiederum als unzulässige "Anfechtungsklage" bewertet, weil gegen die "zugestellten Beitragsbescheide" kein Widerspruch eingelegt worden sei. Sowohl das vom [X.] zukunftsoffen formulierte Unterlassungsbegehren als auch die unterbliebene Konkretisierung der angegebenen Beitragsbescheide hinsichtlich Beitragshöhe und beitragspflichtiger Zeiträume legen nahe, dass mit der Rechtsmittelbelehrung des [X.] der durch den Gerichtsbescheid objektiv zum Ausdruck gebrachten Berufungsfähigkeit des Klagebegehrens Rechnung getragen werden sollte.

9

Das [X.] ist seiner Hinweispflicht bezüglich der von ihm angenommenen Zulassungsbedürftigkeit der Berufung nicht nachgekommen. Hierzu wird erstmals im angefochtenen Urteil ausgeführt, dass die zuletzt vorgelegte Mahnung vom [X.] lediglich einen Gesamtbeitrag von 625,09 Euro ausweise.

Der vorliegenden Entscheidung steht nicht entgegen, dass die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör das angefochtene Urteil nicht beeinflusst hätte, weil wegen eines nicht erreichten [X.] eine andere Entscheidung als die Verwerfung der Berufung ausgeschlossen war (vgl B[X.] Beschluss vom 10.11.2011 - [X.] [X.] 12/11 B - juris Rd[X.] 8). Nach § 144 Abs 1 Satz 1 [X.] [X.]G bedarf die Berufung (nur) dann der Zulassung, wenn bei einer Klage, die eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, der Wert des [X.] 750 Euro nicht übersteigt. Es kann für die Entscheidung des Senats dahingestellt bleiben, ob § 144 [X.]G vorliegend überhaupt Anwendung findet, insbesondere ob die Klage eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft. Jedenfalls wäre bei unterstellter Anwendbarkeit diese Wertgrenze überschritten. Der Wert des [X.] bestimmt sich nach dem Begehren, das dem Rechtsmittelkläger durch das [X.] versagt worden ist und er mit seinem Berufungsantrag zum Zeitpunkt der Einlegung der Berufung weiter verfolgt (B[X.] Beschluss vom [X.] - B 4 [X.]/15 B - juris Rd[X.]). Mit ihrer Berufung hat sich die Klägerin nicht allein gegen die Mahnung vom [X.] gewandt. Vielmehr hat sie beantragt, der Beklagten weitere Mahnungen zu untersagen und festzustellen, dass ihr Zahlungsansprüche nicht zustehen. Davon ist auch das [X.] nach dem im Tatbestand seines Urteils wiedergegebenen Antrag der Klägerin ausgegangen. Für beide Klagen ist mangels konkreter Anhaltspunkte jedenfalls ein Wert von höchstens 750 Euro nicht ersichtlich.

3. Liegen - wie hier - die Voraussetzungen eines [X.], auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann (§ 160 [X.] [X.] [X.]G), vor, kann das B[X.] in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückverweisen (§ 160a Abs 5 [X.]G). Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch. Im wiedereröffneten Verfahren wird zu prüfen sein, ob die von der Klägerin "unter dem Vorbehalt der Bewilligung von PKH" eingereichte Klage wirksam erhoben ist (B[X.] Urteil vom 13.10.1992 - 4 RA 36/92 - [X.]-1500 § 67 [X.] 5), was Gegenstand dieser Klage ist (vgl [X.] in [X.]/Voelzke, 1. Aufl 2017, jurisPK-[X.]G § 106 Rd[X.] 22, 31), insbesondere ob und inwieweit die Klägerin im laufenden Rechtsstreit das Rechtsschutzziel ihrer Klage konkretisiert oder erweitert hat (§§ 99, 88 [X.]G). Schließlich wird das [X.] auf die Erläuterung der Anträge (vgl [X.] in [X.]/Voelzke, 1. Aufl 2017, jurisPK-[X.]G § 106 Rd[X.] 28 f), auf eine aus seiner Sicht sachgerechte Antragstellung durch die im Berufungsverfahren bisher anwaltlich nicht vertretene Klägerin hinzuwirken haben (§ 106 Abs 1 [X.]G; vgl [X.] Berlin-Brandenburg Beschluss vom 22.12.2016 - L 29 AS 714/16 [X.] - juris Rd[X.] 27 f). Es wird auch zu prüfen haben, ob evtl vorhandene formale Mängel - wie ein fehlendes Vorverfahren - behoben werden können (§ 106 Abs 1, § 114 [X.] [X.]G).

4. Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt dem [X.] vorbehalten.

5. Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 197a Abs 1 Satz 1 Teilsatz 1 [X.]G in Verbindung mit § 52 Abs 1 und [X.], § 47 Abs 1 Satz 1 und Abs 3 sowie § 63 [X.] Satz 1 GKG. [X.] Anhaltspunkte für eine Bestimmung des Streitwerts ergeben sich nicht. Daher ist für die Unterlassungs- und Feststellungsklage jeweils der sog [X.] festzusetzen.

Meta

B 12 KR 112/18 B

12.05.2020

Bundessozialgericht 12. Senat

Beschluss

Sachgebiet: KR

vorgehend SG Hildesheim, 30. Mai 2018, Az: S 22 KR 297/17, Gerichtsbescheid

§ 62 SGG, § 144 Abs 1 S 1 Nr 1 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 160a Abs 2 S 3 SGG, § 160a Abs 5 SGG, Art 103 Abs 1 GG

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 12.05.2020, Az. B 12 KR 112/18 B (REWIS RS 2020, 2384)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2020, 2384

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1 BvR 1640/97

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