Bundesgerichtshof, Beschluss vom 03.03.2015, Az. VI ZR 490/13

6. Zivilsenat | REWIS RS 2015, 14626

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Gegenstand

Berufung im Arzthaftungsprozess: Gehörsverletzung bei verfahrensfehlerhafter Präklusion von Parteivortrag durch den Tatrichter; Voraussetzungen für die  Berücksichtigungsfähigkeit neuen Vortrags


Leitsatz

1. Art. 103 Abs. 1 GG ist dann verletzt, wenn der Tatrichter Angriffs- oder Verteidigungsmittel einer Partei in offenkundig fehlerhafter Anwendung einer Präklusionsvorschrift zu Unrecht für ausgeschlossen erachtet.

2. Die Berücksichtigungsfähigkeit neuen Vortrags in der Berufungsinstanz nach § 531 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO setzt voraus, dass die nach Auffassung des Berufungsgerichts fehlerhafte Rechtsauffassung des erstinstanzlichen Gerichts zumindest mitursächlich dafür geworden ist, dass sich Parteivorbringen in die Berufungsinstanz verlagert hat. Dies kommt schon dann in Betracht, wenn das Gericht des ersten Rechtszugs, hätte es die später vom Berufungsgericht für zutreffend erachtete Rechtsauffassung geteilt, zu einem Hinweis nach § 139 Abs. 2 ZPO verpflichtet gewesen wäre.

3. Der Anwendung des § 531 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO steht nicht entgegen, dass die erstinstanzliche Geltendmachung des neuen Angriffs- oder Verteidigungsmittels auch aus Gründen unterblieben ist, die eine Nachlässigkeit der Partei im Sinne des § 531 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 ZPO tragen.

Tenor

Auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Beklagten wird das Urteil des 7. Zivilsenats des [X.] vom 9. Oktober 2013 aufgehoben.

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des [X.]s, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Der Gegenstandswert für das [X.] wird auf 58.648,83 € festgesetzt.

Gründe

I.

1

Die [X.]en streiten um Ansprüche infolge einer ärztlichen Behandlung.

2

Die Klägerin, der im Jahr 1999 ein Mammakarzinom entfernt worden war und der nach einem Axillenrezidiv im Jahr 2001 beidseits [X.] implantiert worden waren, stellte sich im Januar 2008 erstmals in der Praxis des Beklagten, einem plastischen Chirurgen, vor. Im Hinblick auf den Verdacht einer Implantatruptur und die Diagnose einer Kapselfibrose wechselte der Beklagte bei der Klägerin am 19. Februar 2008 die Implantate aus und führte eine Kapsulektomie durch. Im September 2008 stellte der Beklagte bei der Klägerin eine Verformung der linken Brust und wiederum eine Kapselfibrose fest, wechselte deshalb am 18. November 2008 das linke Implantat erneut und führte zugleich eine nochmalige Kapsulektomie durch. Aufgrund einer weiteren Dislokation des linken Implantats kam es am 25. November 2008 wieder zu einem [X.]. Im Februar 2009 suchte die Klägerin mit Schmerzen und starken Bewegungseinschränkungen an der Schulter sowie einer harten, eingezogenen und extrem schmerzhaften Narbe erneut den Beklagten auf. [X.] ergab sich der Verdacht einer Kapselfibrose.

3

Die Klägerin nimmt den Beklagten unter Behauptung mehrerer Behandlungs- und Aufklärungsfehler auf materiellen und immateriellen Schadensersatz in Anspruch. Das [X.] hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung der Klägerin hat das [X.] das erstinstanzliche Urteil abgeändert, die Ersatzpflicht des Beklagten hinsichtlich der künftigen materiellen und immateriellen Folgeschäden „aus der fehlerhaften Behandlung im November 2008“ festgestellt, die ([X.] dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt und die Sache zur Entscheidung über die Höhe der materiellen und immateriellen Schäden an das [X.] zurückverwiesen. Es hat die Revision nicht zugelassen. Hiergegen wendet sich der Beklagte mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde.

II.

4

1. Das Berufungsgericht hat mit dem [X.] einen Behandlungsfehler verneint, entgegen der Auffassung des [X.]s aber einen Aufklärungsfehler bejaht. Es hat insoweit im Wesentlichen ausgeführt, der Beklagte hafte, weil er die Klägerin weder vor der ersten [X.] am 19. Februar 2008 noch vor den nachfolgenden [X.]en am 18. und 25. November 2008 über ein wegen anatomischer Besonderheiten auf Grund der vorangegangenen Krebsoperation deutlich erhöhtes Risiko einer Kapselfibrose aufgeklärt habe. Die vor der zweiten [X.] erfolgte Aufklärung der Klägerin über das erhöhte Risiko einer Kapselfibrose bei einer Revisionsoperation genüge insoweit nicht, weil damit nicht zugleich über die sich aus der vorangegangenen Krebsoperation ergebende spezifische Risikoerhöhung aufgeklärt worden sei.

5

Der vom Beklagten erhobene Einwand der hypothetischen Einwilligung bleibe ohne Erfolg, weil das Vorbringen in zweiter Instanz gemäß § 531 Abs. 2 ZPO nicht mehr zu berücksichtigen sei. Es handle sich um ein neues Verteidigungsmittel. Der Beklagte bzw. sein Prozessbevollmächtigter, dessen Verschulden er sich zurechnen lassen müsse, hätte allen Anlass gehabt, den hier naheliegenden Einwand bereits im ersten Rechtszug zu erheben, weil der Beklagte aufgrund der vom [X.] erteilten Anordnungen jedenfalls in Betracht habe ziehen müssen, dass eine Verurteilung auf eine unzureichende oder nicht erfolgte Aufklärung gestützt werde.

6

2. Die Nichtzulassungsbeschwerde des Beklagten hat Erfolg und führt gemäß § 544 Abs. 7 ZPO zur Aufhebung des angegriffenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht. Der Beklagte rügt zu Recht, das Berufungsgericht habe seinen Anspruch aus Art. 103 Abs. 1 GG verletzt, indem es den von ihm erhobenen Einwand der hypothetischen Einwilligung zurückgewiesen habe.

7

a) In der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist anerkannt, dass Art. 103 Abs. 1 GG dann verletzt ist, wenn der Tatrichter Angriffs- oder Verteidigungsmittel einer [X.] in offenkundig fehlerhafter Anwendung einer Präklusionsvorschrift zu Unrecht für ausgeschlossen erachtet hat ([X.], Beschlüsse vom 1. Oktober 2014 - [X.], NJW-RR 2014, 1431 Rn. 10; vom 21. März 2013 - [X.], NJW-RR 2013, 655 Rn. 10; vom 17. Juli 2012 - [X.], [X.], 3787 Rn. 9; jeweils mwN). Dies ist vorliegend der Fall.

8

b) Der vom Beklagten erhobene Einwand der hypothetischen Einwilligung hätte gemäß § 531 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO berücksichtigt werden müssen.

9

aa) Noch zutreffend - und von der Nichtzulassungsbeschwerde nicht in Zweifel gezogen - ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, dass es sich bei dem vom Beklagten zweitinstanzlich erhobenen Einwand der hypothetischen Einwilligung um ein neues Verteidigungsmittel im Sinne des § 531 Abs. 2 ZPO handelt. Damit konnte es im [X.] nur unter den besonderen Voraussetzungen dieser Vorschrift berücksichtigt werden.

bb) Rechtsfehlerhaft ist hingegen die Annahme des Berufungsgerichts, auch die Voraussetzungen des § 531 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO seien insoweit nicht erfüllt. Auf die Frage nach einer hypothetischen Einwilligung kam es auf der Grundlage der Rechtsauffassung des [X.]s, das von ausreichenden Eingriffsaufklärungen ausging, nicht an. Weiter verlangt § 531 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO, dass die nach Auffassung des Berufungsgerichts fehlerhafte Rechtsauffassung des erstinstanzlichen Gerichts zumindest mitursächlich dafür geworden ist, dass sich [X.] in die Berufungsinstanz verlagert hat ([X.], Urteil vom 21. Dezember 2011 - [X.], NJW-RR 2012, 341 Rn. 19; [X.]/[X.], 30. Aufl., § 531 Rn. 27; [X.], 6. Aufl., § 531 Rn. 7; jeweils mwN), was schon dann in Betracht kommt, wenn das Gericht des ersten Rechtszugs, hätte es die später vom Berufungsgericht für zutreffend erachtete Rechtsauffassung geteilt, zu einem Hinweis nach § 139 Abs. 2 ZPO verpflichtet gewesen wäre ([X.], Urteil vom 21. Dezember 2011 - [X.], aaO Rn. 20; [X.]/[X.] aaO; [X.] aaO). Auch diese Voraussetzung ist im Streitfall erfüllt.

Im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem [X.] wurde das bei der Klägerin erhöhte Risiko einer erneuten Kapselfibrose insoweit angesprochen, als der Beklagte im Rahmen seiner persönlichen Anhörung darlegte, die Klägerin vor der zweiten [X.] über das erhöhte Risiko einer Kapselfibrose aufgeklärt zu haben. Die Klägerin räumte ein, es könne schon sein, dass ihr der Beklagte gesagt habe, dass das Risiko einer erneuten Kapselfibrose erhöht sei. Dass die Aufklärung über das in ihrem Fall erhöhte Risiko einer Kapselfibrose trotzdem unzureichend sei, hat sie dabei nicht eingewandt. Hätte das [X.] erwogen, dass - wie das Berufungsgericht meint - die erfolgte Eingriffsaufklärung unabhängig von der unstreitigen Aufklärung über das bei der Klägerin erhöhte Risiko einer erneuten Kapselfibrose deshalb unzureichend sein könnte, weil damit nur über die revisionsoperationsbedingte Risikoerhöhung, nicht aber über den nach Auffassung des Berufungsgerichts zusätzlichen Risikofaktor der vorangegangenen Krebsoperation aufgeklärt worden sei, hätte es bei dieser Sachlage gemäß § 139 Abs. 2 ZPO auf diesen Gesichtspunkt hinweisen müssen. Denn der Beklagte hatte ihn ersichtlich nicht im Blick und damit aus seiner Sicht keinen Anlass einzuwenden, die Klägerin hätte der [X.] auch dann zugestimmt, wenn sie neben der revisionsoperationsbedingten Risikoerhöhung auch über den zusätzlichen Risikofaktor der vorangegangenen Krebsoperation aufgeklärt worden wäre.

Eine andere Bewertung folgt auch nicht aus der Überlegung des Berufungsgerichts, der Beklagte bzw. sein Prozessbevollmächtigter, dessen Verschulden er sich gemäß § 85 Abs. 2 ZPO zurechnen lassen müsse, hätte allen Anlass gehabt, den naheliegenden Einwand der hypothetischen Einwilligung bereits im ersten Rechtszug zu erheben, weil der Beklagte aufgrund der vom [X.] erteilten Anordnungen jedenfalls habe in Betracht ziehen müssen, dass eine Verurteilung auf eine unzureichende oder nicht erfolgte Aufklärung gestützt werde. Das Berufungsgericht verkennt insoweit bereits, dass die Nachlässigkeit der [X.] - anders als im Falle des § 531 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 ZPO - die Anwendung des § 531 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO nicht ausschließt ([X.], Urteil vom 21. Dezember 2011 - [X.], NJW-RR 2012, 341 Rn. 17 f.).

3. Im Rahmen der erneuten Befassung wird das Berufungsgericht Gelegenheit haben, auch das weitere Vorbringen der [X.]en in der Revisionsinstanz zu berücksichtigen.

[X.]                                Diederichsen                                [X.]

                 [X.]                                       [X.]

Meta

VI ZR 490/13

03.03.2015

Bundesgerichtshof 6. Zivilsenat

Beschluss

Sachgebiet: ZR

vorgehend OLG Karlsruhe, 9. Oktober 2013, Az: 7 U 146/12

Art 103 Abs 1 GG, § 85 Abs 2 ZPO, § 139 Abs 2 ZPO, § 531 Abs 2 S 1 Nr 1 ZPO, § 531 Abs 2 S 1 Nr 3 ZPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 03.03.2015, Az. VI ZR 490/13 (REWIS RS 2015, 14626)

Papier­fundstellen: NJW 2015, 3248 REWIS RS 2015, 14626

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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